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sich leicht, als läge ein Schatten darauf. Dann blicken sie wieder klar und direkt zu Andreas hin. Hat eines ihrer Lider gezuckt. Will sie ein Zeichen geben?

      Andreas schüttelt den Kopf, schließt die Augen, öffnet sie wieder, meint, er habe geträumt. Als er aufschaut, lächelt die Schöne noch – aber anders. Die untere Lippe, leicht vorgezogen, erscheint voller. Dieses Lächeln fordert ihn auf zurück zu lächeln. Er tut es – und findet sich albern. Hier stimmt mit ihm etwas nicht! Weder Alkohol noch Drogen hat er konsumiert, ist völlig nüchtern und kommuniziert mit einem kleinen Frauenbild im Schaufenster des Antiquariats. Das muss ein Fixierbild sein, wo mehrere durchsichtige Lagen übereinander beim Verändern des Sichtwinkels eine Bewegung vortäuschen.

      „Ich muss reingehen und fragen“, denkt er, wendet sich nicht mehr hin sondern den beiden Stufen zu, die zur Tür führen. Als er die Klinke der Tür drückt, ist das Bild außer Sicht. Andreas tritt ein. Im Hintergrund kramen schon zwei Bekannte in Bücherstößen.

      Er wird freundlich von der Inhaberin empfangen.

      „Sie haben unsere Auslagen studiert“, meint sie. „Wir konnten aus einem Nachlass sehr schöne Stücke von Alt-Halle erwerben. Mein Mann und ich haben heute mit besonderer Freude dekoriert. Sie werden aber auch hier noch außer den Büchern alte Stiche und Karten finden.“

      Sie deutet auf einen seitlichen Tisch.

      Andreas Rufer findet sehr gute Radierungen alter Stadtansichten, Kupferstiche von Fachwerkbauten, Landsknechte in Rüstung. Eine weitere Frau erscheint zwischen den Bildern nicht.

      „Haben Sie noch ein Bild von der Dame im Schaufenster?“, fragt er deshalb.

      Frau Landau schüttelt bedauernd den Kopf.

      „Leider nicht. Das Bild gehört auch nicht zu der Serie. Wir haben es einzeln erworben.“

      „Von wem?“

      Sie lacht: „Das Bild hat ein Saale-Schiffer beim Aufräumen in einem alten Verschlag seines Vaters gefunden. Es war schmutzig und der Spannrahmen der Leinwand verzogen. Er wollte es wegwerfen, brachte das aber nicht fertig. Deshalb hat er’s zu uns gebracht. Er sagte: Bitte nehmen Sie es. Das ist ein komisches Bild. Wenn ich es beiseite schaffe, kommt es irgendwie wieder zurück. Ich sehe nicht, wie es wandert, aber plötzlich ist es wieder da. Ich schenke es Ihnen. Vielleicht hat es ein Eigenleben und will restauriert werden. Wir haben gelacht. Dann haben wir das Bild gesäubert und entdeckt, dass es ein sehr gutes Ölgemälde ist. Wir haben es wieder gespannt und in den Rahmen gegeben. Wer es gemalt hat, wissen wir nicht. Auf der rückwärtigen Leinwand entzifferten wir ›Anna von G.‹. Weil wir G. für eine Abkürzung von Giebichenstein halten, haben wir das Bild mit ins Schaufenster zu Alt-Halle gestellt. Obwohl es im Hintergrund steht, gibt es dem alten Halle ein besonderes Licht.“

      „Das stimmt. So ist es mir auch aufgefallen. – Ist es verkäuflich?“, fragt Andreas nach kurzem Bedenken.

      „Ja! Wir werden es gerne verkaufen, möchten es aber noch eine Weile im Schaufenster lassen. Es gehört zur Dekoration.“

      „Das kann ich verstehen. Darf ich es mal in die Hand nehmen?“

      Frau Landau nickt, entriegelt die Rückwand des Schaufensters und reicht Andreas das Bild. Er nimmt es entgegen, fühlt, dass es schwerer in der Hand liegt, als er gedacht hat, greift noch mit der anderen Hand zu und hält in der Länge seiner Arme das Bild vor sich hin. Er sieht in das ebenmäßige Gesicht einer leicht lächelnden jungen Frau mit sehr schönen Augen. Die treffen genau seinen Blick ohne sich zu verändern. Andreas muss sich draußen geirrt haben. Als sich Frau Landau den anderen Kunden zuwendet, küsst er, wie unter einem Zwang, das Bild auf den Mund. Er fühlt einen Gegendruck, zuckt zurück, erkennt aber keine Veränderung der Gesichtszüge.

      „Ich habe einen Hau“, denkt Andreas, „stehe heute abseits von mir. Die Freundin fehlt. Aber deshalb knutsche ich doch kein Bild. Wenn es Ilses Foto wäre, könnte ich’s noch verstehen. Aber das Bild einer fremden Frau, die längst tot ist! Idiotisch!“

      Er öffnet die Rückwand des Schaufensters, stellt das Bild wieder zurück und besieht sich auf dem seitlichen Tisch die Kupferstiche und Radierungen. Ein Bild der Ruine hoch über der Saale, jetzt Giebichenstein genannt, wählt er aus, überlegt, öffnet die Rückwand des Schaufensters wieder und legt das Bildnis der Frau neben das von Giebichenstein. Die Bilder harmonieren, müssten auf die leere Wand über seinem Schreibtisch gut passen. Frau Landau beobachtet ihn. Sie findet die Kombination der Bilder sehr gut.

      „165 Euro kosten beide Bilder zusammen“, sagt sie. „In dieser Zusammenstellung könnte ich auf 140 Euro herabgehen.

      Andreas stellt die Bilder im passenden Abstand vor die helle Wand hinter dem Tisch.

      „Okay“, antwortet er, „gemacht! Ich nehme sie beide. Wann darf ich die Dame dann abholen?“

      „Am Ende der nächsten Woche. Für den Montag dekorieren wir dann anschließend wieder neu.“

      Andreas Rufer zahlt und erhält seine Quittung. Während er das Bild von Giebichenstein in seiner Tasche verstaut, entnimmt Frau Landau der Kasse ein Kärtchen mit der Aufschrift ›verkauft‹ und platziert es mit ›Anna von G.‹ nun ins Schaufenster.

      „Sie werden sehr viel Freude an diesem Kauf haben“, sagt sie zum Abschied.

      „Das weiß ich“, versichert Andreas.

      Er winkt ihr zum Abschied, geht durch die offene Tür nach draußen und die Stufen zur Straße hinab. Im Hintergrund des Schaufensters grüßt ihn Anna von G. mit kurzem Wimpernschlag so leicht und schnell, dass er meint, der Schatten eines vorbeifliegenden Vogels habe ihn irritiert. So muss es gewesen sein.

      Zu Hause freut er sich über seinen Kauf. Er packt seine Tasche aus, stellt den leicht aquarell-getönten Kupferstich auf den Schreibtisch, holt Hammer und Nägel, misst ab und platziert das Bild jetzt so an die Wand, wie es im Abstand zu Anna später auch bleiben soll. Die Bewegungen in deren Bild irritieren. Er will sie als Einbildung abtun. Aber er hat sie gesehen – und sogar ihren Mund gefühlt!

      „Ich muss besser schlafen“, denkt er, „bin übermüdet. Die Recherchen für die Promotion und die Arbeit als Assistent, beides zusammen, belasten doch sehr. In dieser Nacht schläft er traumlos und gut.

      Wenn er früh ins Institut eilt, schaut er bewusst nicht ins Schaufenster des Antiquariats. Auf dem Rückweg bleibt er davor stehen. Da grüßt ihn ein Wimpernschlag oder die Andeutung eines Lächelns. Einmal steht ein Kollege neben ihm. Andreas macht den auf die Bewegung der Schönen aufmerksam. Sie schürzt jetzt leise die Lippen. Der Kollege bemerkt nichts, findet das Antlitz reizvoll und meint, Andreas sei wohl etwas Staub ins Auge geflogen. Später versucht es Andreas noch einmal mit einer Bekannten. Die lacht ihn nur aus. Das macht ihm den Anblick noch mysteriöser. Früh geht er jetzt winkend vorbei. Am Nachmittag bleibt er stehen und schürzt seine Lippen. Sie antwortet darauf mit der gleichen Bewegung. Manchmal bewegt sie die Augen.

      Am nächsten Wochenende holt er sein Zauberbild ab, lässt es sich vorsichtig einpacken und packt es zu Hause ganz vorsichtig wieder aus. Er küsst den Mund seiner Schönen, fühlt aber keinen erwidernden Druck ihrer Lippen.

      „Alles ein Irrtum“, denkt er und hängt das Bild über den Schreibtisch.

      Zum Abendessen brutzelt er knusprige Bratkartoffeln, schlägt sich ein Ei drüber und isst mit Genuss. Anschließend wäscht er ab, räumt das Geschirr ein und setzt sich an den Schreibtisch. Seine Freundin ist übers verlängerte Wochenende zu ihren Eltern gefahren. Er kann also in Ruhe arbeiten. Seine Habilitation soll das Mittelalter von Halle und Umgebung besonders erfassen. Die Halloren genannten Salzwirker sind seit dem 15. Jahrhundert in einer anerkannten Bruderschaft hier vereinigt. Längst steht ihre Geschichte in alten Büchern verzeichnet. Die Übersetzung aus Latein und Mittelhochdeutsch liegt für Interessenten im Lesesaal des Rathauses aus.

      Andreas soll die Zeit zwischen den Jahren 1000 und 1200 durchforsten, das Leben von Freien, Unfreien, Bauern und solchen mit Stadtrecht in alten Urkunden suchen, zusammenfügen und lebendig darstellen. Das alte Latein der Mönche und Stadtschreiber ist

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