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Zeitungen nichts, aber auch gar nichts über einen Polizeieinsatz zu lesen war, bei dem es doch offensichtlich Verletzte gegeben hatte? Außerdem verspürte er nicht wenig Lust, Mine wiederzutreffen. Sich mit ihr zu unterhalten, war deutlich anregender als der banale Small Talk mit Straßenhändlern, Kellnern oder Touristen, auf den er sich in den ersten Tagen in Istanbul eingelassen hatte. Außerdem war sie deutlich hübscher als seine bisherigen Gesprächspartner. Auf dem Weg machte er, um sich noch nicht ganz von seinem Status als Urlauber zu verabschieden, an der Basilika St. Antonius Halt, einer etwa einhundert Jahre alten römisch-katholischen Kirche, die, eingerahmt von großbürgerlichen Häusern, etwas zurückversetzt an der Istiklal lag. Der Bau war nicht sonderlich spektakulär, wie Marc fand, aber immerhin hatte hier Paul VI. 1967 die erste Heilige Messe eines Papstes auf türkischem Boden gefeiert. Interessant war auch, dass Gottesdienste nicht nur in türkischer, sondern auch in englischer, italienischer und polnischer Sprache abgehalten wurden, weil die meisten Katholiken in Istanbul Ausländer waren. Marc selbst war nicht sehr gläubig. Klar, er war im christlichen Wertesystem aufgewachsen, aber mit Religion oder gar Kirche hatten schon seine Eltern wenig anfangen können. Er hatte allerdings einiges gelesen über die Schwierigkeiten religiöser Minderheiten in der nach offiziellen Angaben zu neunundneunzig Prozent muslimischen Türkei. Vor den Neubau nicht-islamischer Gotteshäuser waren hohe bürokratische Hürden – um nicht zu sagen: Schikanen – gesetzt, und immer wieder wurden Christen und selbst zum muslimischen Glaubensspektrum gehörige Alewiten Ziele von Übergriffen durch sunnitische Mobs, gab es gar Tote, wie den armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink, der 2007 ermordet worden war.

      Einige Hundert Meter vor dem Taksim-Platz setzte er sich in die Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette, die er normalerweise mied. Aber der Cappuccino im Hotel war ziemlich dünn gewesen, und er brauchte morgens einfach eine ordentliche Koffeindosis, um in Schwung zu kommen, außerdem gab es dort kostenfreies WLAN. Also bestellte er sich einen Latte macchiato mit einem dreifachen Espresso und wählte sich ins Netz ein. Diesmal benutzte er eine Internet-Suchmaschine und wurde fündig. In einem der sozialen Netzwerke stieß er auf zwei Seiten, die sich »Diren Gezi Parkı« und »Taksim hepimiz« nannten. Die Texte waren zwar ausschließlich in türkischer Sprache, auf den zahlreichen Fotos aber erkannte er einige der Demonstranten von gestern wieder. Die Bilder waren teilweise ziemlich drastisch, sie zeigten Polizisten mit erhobenen Schlagstöcken, fliehende Demonstranten mit Panik in den Augen, Menschen mit blutenden Kopfwunden und brennende Zelte. Eines war besonders. Dafür hatte Marc einen Blick. Wenn die Fotografen, die ihn bei Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten begleiteten, ihm die Fotos des Tages auf dem Laptop zeigten, wusste er meist schon, welche später von der Fotoredaktion zur Illustration seiner Artikel ausgewählt wurden. Dieses zeigte eine Frau in einem roten Kleid, mit einer weißen Umhängetasche über der rechten Schulter, der ein Polizist aus nächster Nähe eine Ladung Tränengas ins Gesicht sprühte. Der Druck des Gases ließ ihre langen Haare nach oben stehen, als hänge sie kopfüber. Es hatte sie offensichtlich völlig ohne Vorwarnung getroffen, eine Unbeteiligte, deren Körperhaltung keinerlei Abwehrreaktion erkennen ließ, die rechte Hand den Tragegurt der Tasche umfassend, die linke am ausgestreckten Arm locker herunterhängend. Hätte er einen Artikel über Polizeigewalt geschrieben, das wäre das Bild dazu gewesen. Während er seinen dreifachen Espresso mit geschäumter Milch schlürfte, schaute er wie gebannt auf dieses eine Foto. Bis das Telefon in seiner Hand erst vibrierte und dann klingelte.

      Kathrin

      Kathrin hatte am Morgen eine Vorlesung. Wie immer war sie mit dem Bus die drei Stationen von Kuzguncuk zum Anleger in Üsküdar gefahren, auf die Fähre nach Kabataş gestiegen, die zur Hauptverkehrszeit mit einer zweiten Fähre im Sieben-Minuten-Takt, genau die Zeit, die die Schiffe für die Querung des Bosporus brauchten, pendelte, und hatte dann die Tram genommen, um eine Station später, in Fındıklı, fast direkt vor ihrer Uni wieder auszusteigen. Fünfzehn Minuten, maximal zwanzig, brauchte sie von Haustür zu Haustür. Nicht schlecht, dachte sie häufig – wenn man in einer Stadt mit zwanzig Millionen Einwohnern lebt. Das Öffentliche Personennahverkehrssystem hatte sich in den letzten Jahren tatsächlich erheblich verbessert, das musste man der AKP und Premierminister Erdoğan, der zuvor Oberbürgermeister von Istanbul gewesen war, lassen. Indirekt hatte damit auch ihre heutige Vorlesung zu tun. »Planen im Bestand« war der Titel. Es ging um die städtebauliche Herausforderung, Historisches zu erhalten und gleichzeitig den Anforderungen an moderne Mobilität gerecht zu werden. Sie ging kurz in ihr Büro, um den Laptop zu holen, auf den sie als Beispiel einige Pläne von einem Großprojekt in Aksaray, an dem sie vor einigen Jahren mal am Rande mitgearbeitet hatte, kopiert hatte, um sie über den Beamer an die große Leinwand zu werfen.

      Als sie pünktlich zu Vorlesungsbeginn um neun Uhr am Hörsaal ankam, hörte sie lautes Stimmengewirr. Sie öffnete die Tür und sah, dass kaum einer der Studenten, wie sonst üblich, saß. Fast alle standen in Gruppen zusammen und diskutierten. Es gab, das konnte sie heraushören, nur ein Thema: Offensichtlich hatte sich das gewaltsame Vorgehen der Polizei im Gezi-Park herumgesprochen. Auch wenn weder die Abendnachrichten im Fernsehen noch die Tageszeitungen darüber berichtet hatten, Kathrin hatte zumindest nichts gesehen. Die ausufernde Gewalt, die so häufig bei Polizeieinsätzen gegen Demonstranten zu beobachten war, war ihr selbst auch schon häufiger aufgestoßen. Sie hatte bei einer Demo gegen den Abriss des Emek-Theaters einmal miterlebt, wie hemmungslos Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer selbst gegen friedliche Protestler eingesetzt wurden. Und die Pläne für diese nostalgische Kasernenkopie auf dem Gelände des Gezi-Parks und die gesamte Neugestaltung des Taksim-Platzes hielt sie, gelinde gesagt, für eine städtebauliche Katastrophe. Der Park selbst, immerhin von dem bekannten französischen Architekten und Städteplaner Henri Prost auf persönliche Einladung Kemal Atatürks 1936 entworfen und knapp fünfzehn Jahre später fertiggestellt, war allerdings auch keine Glanzleistung. Zumindest war er ziemlich verwahrlost. Wegen des Vorfalls gestern nun aber gleich den Lehrplan über den Haufen zu werfen und eine spontane Diskussion über Wert und Nutzen städtischer Grünflächen gegenüber denen eines Einkaufszentrums zu beginnen, ging ihr dann doch zu weit. Sollten sich die Gemüter an so etwas Profanem wie den Planungsschwierigkeiten bei der Verkehrsführung und dem Bau einer Fußgängerverbindung zwischen Metro und Tram in Aksaray abkühlen, bei der die knapp fünfhundertfünfzig Jahre alte Murat Paşa Moschee hatte mit einbezogen werden müssen. Und so verschaffte sie sich mit lauter Stimme Gehör, bat, dass sich die Anwesenden setzen mögen, wartete eine Minute, bis ihrer Aufforderung Folge geleistet worden war und begann mit der Vorlesung. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wie sie wenig später feststellen musste. Ihre Studenten blieben unruhig, beteiligten sich kaum, überall steckten Köpfe zusammen, wurde getuschelt. Kathrin verkürzte ihr Programm und beendete die Vorlesung nach einer knappen Stunde, dreißig Minuten vor der Zeit.

      »Frau Professor, was sagen Sie denn dazu?«

      Eine Studentin rief ihr hinterher, als sie den Hörsaal mit dem Laptop unter dem Arm verließ. Sie tat, als habe sie die Frage nicht gehört und ging schnellen Schrittes Richtung Mensa. Im Gang kam ihr ihre Kollegin Zübeida entgegen.

      »Kathrin, hast du gehört, was gestern passiert ist?«

      Kathrin nickte.

      »Ja, und? Machst du mit?«

      Zübeida wirkte ganz aufgeregt.

      »Mitmachen? Wobei?«

      Zübeida guckte sie etwas überrascht an.

      »Na, protestieren. Im Park. Ein paar Kollegen gehen jetzt hin. Viele meiner Studenten sind schon da.«

      Kathrin staunte. Zübeida, die wie sie in Kuzgungcuk wohnte, war Mitte fünfzig, hatte drei Militärputsche, die blutigen Unruhen in den Kurdengebieten und Hunderte niedergeknüppelte Demonstrationen in ihrem Land miterlebt und war dennoch Feuer und Flamme für den Widerstand von ein paar Baumschützern in einem kleinen Park? Was passierte hier?

      »Ich überleg’s mir«, sagte Kathrin, wollte weitergehen, überlegte es sich dann – warum, wusste sie nicht wirklich – anders.

      »Warte, ich komme mit.«

      Draußen, vor dem Haupteingang des Unigebäudes, hatten sich bereits Dutzende Studenten versammelt, viele trugen Rucksäcke, an die Isomatten und

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