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Nachts konnte ich tief im Schlaf undeutlich Großmutter und eine andere Frau mit gedämpfter Stimme im Flur sprechen hören. War es ein Traum? Ich hatte nicht die Energie, aufzustehen und nachzusehen.

      Dann spürte ich sie nahe bei mir, sie lag neben mir im Bett, instinktiv schmiegte ich mich an sie und legte meine Arme um ihren Hals. So erwachte ich am Morgen.

      Große blaue Augen voller Liebe schauten in die meinen, und Glücksgefühle stiegen in mir auf. Meine Arme lagen noch um ihren Hals, und ich wußte, daß sie wartete, bis ich aufwachte, glücklich, mich so nahe zu haben. Sie liebte mich!

      „Schön, schön, endlich bist du aufgewacht, Schlafmützchen!“

      „Mami!“ schrie ich. Ich drückte sie und kuschelte meinen Kopf an ihren Hals.

      „Wie geht’s meiner Kleinen?“ fragte sie mit gebrochener Stimme, mich fest an sich drückend.

      „Ich bin so froh, daß du hier bist, Mami.“

      Donna fing an zu weinen, und ich auch.

      Sie wollte mich zu einem besonderen Anlaß irgendwohin mitnehmen, sagte sie und fragte, ob ich denn ein besonders schönes Kleid zum Anziehen hätte. Ich sagte ja. Tief im Innern fühlte ich mich mit ihr verwandt.

      „Ich habe mir all deine Sachen angesehen“, sagte sie, „und ich habe bemerkt, daß Großmutter dich wirklich immer sehr schön kleidet. Du hast 27 Kleider!“ Sie hatte sie gezählt, jedes einzelne.

      „Ich weiß nicht, wie viele Mädchen 27 Kleider haben. Ich habe selbst nicht so viele.“

      Ich erzählte ihr, daß Großmutter in die Stadt ging und sich in den Schaufenstern die neueste Mode ansah. Dann kam sie heim und machte mir diese Kleider, wobei sie Reste und Materialien verwendete, die von den Kleidern übriggeblieben waren, die sie für andere Leute nähte. So blieb ich immer auf dem neuesten Stand der Mode. Dank Großmutter hatte ich in der Schule einen Preis als bestgekleidetes Mädchen bekommen.

      Nach dem Frühstück gingen Mami und ich in die Stadt zum Einkaufsbummel. Ein Regenmantel war genau das, was ich noch brauchte, beschloß sie, doch erst Stunden später fanden wir schließlich einen, den ich mochte – in einem wunderschönen Himmelblau anstelle von Gelb oder Schwarz.

      Dann kehrten wir in einem einfachen kleinen Speiselokal ein, in dem ich einen Hamburger, Pommes Frites und eine Limo verzehrte. Dies war meine erste Mahlzeit in einem Restaurant, seit Onkel Odin mich in die amerikanische Küche eingeführt hatte. Es war eine echte Wonne.

      Ich genoß es, mit Mami zusammen zu sein, und ich fühlte mich vollkommen wohl. Irgendwie vermittelte sie mir das Gefühl, als ob ich tatsächlich ihr eigenes besonderes kleines Mädchen sei. Es war eine Wärme und Nähe, die ich auf der Erde noch nicht erfahren hatte; ich war froh darüber. Und ich zweifelte nicht daran, daß wir beide schon viele Leben zusammen verbracht hatten.

      Zu Hause fing ich sofort an, in dem Malbuch zu arbeiten, das Mami mir mitgebracht hatte – eines, in dem Zahlen für die jeweiligen Farben in jedes Feld eingedruckt sind. Als ich ihr meine erste Seite zeigte, war sie erstaunt. Woher ich so gut lesen könne, wollte sie wissen. Alle Farben waren richtig. Großmutter und Mami unterhielten sich darüber eine Weile, während ich still blieb, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte.

      Mami besuchte uns ab und an während der nächsten Jahre, gewöhnlich einmal im Jahr, immer wenn sie in der Lage war, für eine Weile von C.L. wegzukommen. Nach dem, was ich hörte, wurde das Leben mit C.L. härter.

      Im Nu hing ich wirklich sehr an meiner neuen Mami. Während einer ihrer seltenen Besuche weinte ich den ganzen Abend lang, als sie mit Freunden ausging, statt die Zeit mit mir zu verbringen. Als Kind war ich unvernünftig. Die tiefen Gefühle, die ich für sie hegte, die Wärme, die ich fühlte, immer wenn ich ihr nahe war, verwirrten mich manchmal. Was war mit dieser Seele, welche Erfahrungen hatten wir in vergangenen Leben geteilt, daß ich so für sie empfand? Jahre würden vergehen, bis ich es endlich wußte.

      Als ich zehn Jahre alt war, fing mein Leben an, sich zu verändern. Ich vermute, das lag daran, daß ich mir bewußter wurde, was in der Welt um mich herum geschah. Bis dahin hatte ich gespielt und mich vergnügt, so weit dies eben ging. Nun war ich stark am Leben interessiert; ich befand mich zwischen Kindheit und Pubertät.

      Das Leben zu Hause war schön und friedlich. Ich freute mich immer darauf, wenn Merle und Ben ihre Band mit nach Hause brachten, um zu üben und Spaß zu haben. Ben spielte das Schlagzeug und Merle den Bass. Dann konnte ich tanzen.

      Wenn Ben Gitarre für mich spielte, übte ich Ballett. Und immer, wenn Großmutter mich tanzen sah, war sie sicher, ich würde eine Ballerina werden.

      Ich entdeckte, daß ich beim Tanzen fähig war, für eine Weile ich selbst zu sein, mein wirkliches Selbst. Wenn die Musik spielte und ich mich in ihren Rhythmen verlor, war ich wieder Omnec. Wie wunderbar wäre es doch, dachte ich oft, wenn meine Familie nicht so arm wäre. Dann hätten wir vielleicht eine Harfe.

      Ich genoß es, mit den Kindern in unserer Nachbarschaft zu spielen. Wir gründeten einen Club, tranken Limonade und aßen Plätzchen. Wir spielten Vater-Mutter-Kind, Zirkus, Dodgeball und Softball zusammen. Während des Sommers gab es nur wenige Tage, an denen wir nicht sehr lange draußen blieben, oft ging es bis Mitternacht. Wir rannten im Bereich unserer Siedlung die Straße auf und ab, während die Erwachsenen zusammensaßen und redeten.

      Gewöhnlich vermied ich Wettkämpfe, bei denen es nur ums Gewinnen ging. Es störte mich, daß die Gewinner die Verlierer verspotteten und sich über sie lustig machten, die ihrerseits anfingen zu kämpfen. Das Leben war ernst genug; Spiele sollten Spaß machen. Wenn es zu Gruppenspielen kam, erwies ich mich fast immer als Anführerin. Das lag vielleicht daran, daß mein Kopf immer von neuen und aufregenden Ideen überquoll, und da ich ein offenherziger Mensch bin, liebte ich es mitzuteilen, was ich wußte und fühlte.

      Selten empfand ich mich gegenüber den anderen Kindern als kritisch. Ich bemühte mich immer darum, mich mit den Außenseitern anzufreunden, sie gleich zu behandeln, was mich manchmal selbst zur Außenseiterin machte. Und ich begann, mich weniger und weniger für meine Lage selbst zu bedauern. Ich war zu beschäftigt damit, viele neue Lektionen zu lernen.

      Beim Spielen mit den Kindern in unserer Nachbarschaft lernte ich eine Menge über die Welt und die Erwachsenen. Die Einstellungen und Gewohnheiten der Kinder rührten direkt von denen ihren Eltern her statt von ihren eigenen Erfahrungen. Sie fluchten wie ihre Eltern und wiederholten, was ihre Eltern über Politik und über die Schwarzen sagten. Einige der Kinder haßten den Präsidenten, weil er nicht derselben Partei angehörte wie ihre Eltern. Die Russen waren alle schlecht, weil sie planten, uns zu bombardieren. Und alle wollten groß werden und in die Armee gehen, weil Daddy und Opa und all die Onkel hingegangen waren, um Amerika zu retten. Genauso hatten die Erwachsenen die Eigenschaften ihrer Eltern übernommen.

      Es schien, daß die gläubigen Christen den Schwarzen gegenüber nicht so vorurteilsbeladen waren wie alle anderen. Großmutter zum Beispiel stellte Essen für die obdachlosen Eisenbahntramps beiseite, die gelegentlich an unsere Türe klopften. Sie meinte, solange sie großzügig zu anderen war, würde Gott großzügig zu ihr sein. Von ihr lernte ich eine wertvolle Lektion in Großzügigkeit. Ich lernte, daß derjenige, der gibt, immer das hat, was er braucht. Ich lernte auch, daß Erwachsene sehr leicht durch das beeinflußbar waren, was andere sagten oder dachten. Und jeder mischte sich in das Leben des anderen ein.

      Ich ärgerte mich darüber, wenn man mir die ganze Zeit sagte, was ich zu tun hätte, doch ich mußte meinen Platz als Kind akzeptieren. Wie seltsam, daß den Kindern kaum Intelligenz und wenig Wahlfreiheit zugestanden wurde. Was die Erwachsenen sagten, war Gesetz und durfte nicht hinterfragt werden.

      Von Kindern erwartete man, daß sie Abbilder ihrer Eltern wurden, keine Individuen. Dies war keine Absicht, sondern resultierte aus dem Nichtverstehen, daß jedes Kind eine individuelle Seele ist. Kinder nach ihrem Vater oder einem Verwandten zu benennen, nimmt ihnen ihre Individualität. Jeder Name hat eine charakteristische Schwingung, und Menschen mit den gleichen Namen sind karmisch miteinander verwandt.

      Mit der Zeit sah ich, wie extrem

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