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vier Jahren die Uhr gekannt und so das Erstaunen eines Hausarztes Dr. Wehner in meiner Heimatstadt ausgelöst hätte, der im Beisein vieler Patienten sein Chronometer immer wieder verstellt hätte, ohne dass ich ihm je eine falsche Zeitangabe lieferte. Doch daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

      Anders verhält es sich hingegen mit einem sogenannten „Kommunistenfest“ in Chodau westlich von Karlsbad, zu dem mich Vater und sein Gesinnungsfreund Paul Leicht mitnahmen. Vor vermutlich Hunderten von Teilnehmern sprach ein aus dem Altreich (Synonym für das Deutsche Reich) stammender Kommunist, der offenbar aus der Sowjetunion eingereist war, über die besorgniserregende Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland. Zum ersten Mal sah ich Abbildungen von vier bärtigen Männern, wahrscheinlich Marx, Engels, Lenin und Stalin. Als Geschenk erhielt ich ein mit einem Sowjetstern (Symbol der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei) versehenes rosarotes Zelluloidschild mit einem Gummiband um den Hinterkopf, sodass ich alles in einem rosaroten Licht sehen konnte. Dieser optisch gefällige Eindruck entwickelte sich für mich jedoch zu keinem Dauerzustand, denn später, als ich aufgefordert wurde, alles in dieser Farbqualität zu sehen, konnte ich verschiedene Farben sehr gut differenzieren. Somit litt ich nicht an jener politischen Blindheit, die in Diktaturen gerne von den Staatsbürgern erwartet wird.

      Auch deshalb hatte ich später meine Schwierigkeiten, denn ich wurde kein bedingungsloser Jasager. Selbst die Nationalsozialisten, die einen unbedingten Gehorsam bleibend einforderten, bestätigten in meinem Oberschulzeugnis in Karlsbad 1944/45 treffend die Charaktermerkmale „kritisch, noch etwas scheu“. Ob die Zurückhaltung nun angeboren oder erworben war, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls waren beide Eltern desgleichen mit diesen aus meiner Sicht nicht negativen Kennzeichen versehen. Ein kritischer Dickschädel, den der spätere Gesundheitsminister der DDR, Prof. Dr. Ludwig Mecklinger, mit dem Attribut Kritikaster warnend umschrieb, war ich allemal und brachte andere damit bisweilen zur Raserei – und freute mich darüber. Niemals aber war ich ein Provokateur, denn ich war immer „noch etwas scheu“ und hatte trotz eines innerlichen Aufbegehrens gegen Diktatur und Willkür den Widerstand gelegentlich wohl herbeigesehnt, aber niemals aktiv ausgelöst. Damit sind wesentliche Merkmale meines Charakters genannt und sicher nicht untertrieben.

      1937 zogen wir nach Neudau, einem kleinen Dorf ca. zwei Kilometer von Schlackenwerth entfernt. Da die Eltern aufgrund der etwa sieben Jahre währenden Arbeitslosigkeit meines Vaters die Miete in der Schlackenwerther Fleischergasse 118 nicht mehr bezahlen konnten, nahmen wir das Angebot der Tante Marie, der jüngsten Schwester meiner Mutter, dankbar an, in ihr neu gebautes Domizil zu ziehen, in dem wir uns sehr wohl fühlten.

      Ich erinnere mich an zahlreiche deutsche Jagdflugzeuge, die Anfang Oktober 1938 über Neudau kreisten und beim Tiefflug einen Höllenlärm entfachten, außerdem an Panzer, die offenbar am Vormittag des 4. Oktobers auf dem Bahngelände in Zügen der Deutschen Reichsbahn standen und mit freundlichen deutschen Soldaten besetzt waren. Sie wurden von uns Kindern begeistert empfangen. Die Freude nahm noch zu, als wir das Innere eines Panzers sehen durften. Ein Soldat gab uns ein Silberstück mit einem Porträt von Paul v. Hindenburg im Wert von fünf Reichsmark und bat meinen sechs Jahre älteren Bruder Rudi, mit diesem Geld Wurst für die Panzerbesatzung bei einem nahe gelegenen Fleischer zu kaufen, was wir gerne taten. Vom Metzger Schwengsbier erhielten wir eine große Menge an böhmischen Knackern, Schinken und Braunschweiger Wurst. Als wir nach wenigen Minuten auf das Bahngelände zurückkamen, hatte der Panzerzug Neudau bereits in Richtung Karlsbad verlassen, sodass wir unerwartet zu stolzen Besitzern mehrerer Kilogramm Wurst und Schinken geworden waren.

      Kurz darauf kamen wir zu Hause an und sahen, dass das Haus von vier Mann – offenbar Helfershelfern der Sudetendeutschen Partei – umstellt war. Sie erklärten meinem Vater, dass er das Gebäude nicht verlassen dürfe. Die befürchtete Verhaftung, denn er hatte nach Hitlers Machtantritt zahlreichen kommunistischen Emigranten aus dem Altreich geholfen, in der Tschechoslowakei einen Unterschlupf zu finden, geschah jedoch nicht. Später erfuhren wir, dass ein entfernter Verwandter aus unserer Großfamilie mit nationalsozialistischer Gesinnung für meinen Vater gebürgt hatte. Bald fand er sogar in der nahe gelegenen Porzellanfabrik in Lessau eine Arbeit, in der auch meine Mutter seit vielen Jahren beschäftigt war. Obwohl meine Eltern als Antifaschisten über den Einmarsch der Hitlertruppen nicht froh waren und Schlimmes befürchteten, waren sie über die Möglichkeit einer geregelten Arbeit für meinen seit sieben Jahren arbeitslosen Vater überglücklich.

      Am Nachmittag des 4. Oktobers 1938 gingen meine Mutter, mein Bruder und ich nach Schlackenwerth einkaufen. Dutzende von Autos, Panzerspähwagen, Geschützen und Wehrmachts-Lkw kamen uns entgegen. Aber es fiel kein Schuss. Von der tschechischen Armee, die offenbar bis zum 3. Oktober 1938 aus dem Karlsbader Bereich abgezogen war, war nichts zu sehen. Die deutsche Wehrmacht überschritt in unserer Nähe am 4. Oktober 1938 die nur 10 Kilometer entfernte Grenze und wurde von der Bevölkerung herzlich begrüßt. Doch der Tag war noch nicht vorbei.

      Plötzlich und unerwartet fuhr in einem Konvoi ein schönes Cabriolet vor, in dem sich ein relativ unscheinbarer Mann mit erhobenem rechtem Arm befand, der von der Bevölkerung in gleicher Weise freudig begrüßt wurde. Es war Adolf Hitler auf der Rückfahrt von Karlsbad nach Berlin, der in Schlackenwerth bei der Gaststätte „Zur wilden Henne“ kurz anhielt. In Karlsbad hatte er zuvor auf dem Dr.-David-Becher-Platz eine Ansprache gehalten und – laut Dokumentation in den Printmedien – Folgendes gesagt:

      „Es war ein harter Entschluss, der mich hierher geführt hat. Hinter dem Entschluss stand der Wille, wenn nötig, auch die Gewalt zu Hilfe zu rufen, um euch frei zu machen. Umso glücklicher und dankbarer wollen wir sein, dass dieser letzte und schwerste Appell nicht notwendig war, um uns zu unserem Recht zu verhelfen ... Ich wusste nicht, wie und auf welchem Wege ich einmal hier herkommen würde. Aber dass ich einmal hier stehen würde, das habe ich gewußt.“

      Das Auto hielt zufällig direkt vor uns. Ich sah Adolf Hitler aus einer Entfernung von ca. zwei bis drei Metern, umgeben von zahlreichen Stabsoffizieren und Generälen in ihren schmucken Uniformen. Dass es sich bei dem im Vergleich zu ihnen relativ unscheinbaren, eher bescheiden wirkenden Hitler um den „Führer“ des Deutschen Reiches handeln könnte, war aus meiner kindlichen Sicht kaum zu begreifen. Ich hielt ihn wohl eher für den Kraftfahrer. Warum ihm unsere offenbar glückliche Bevölkerung frenetisch zujubelte, als sei er ein „Messias“, habe ich zu dieser Zeit nicht verstanden, denn mit meinen knapp fünf Jahren konnte ich nicht wissen, dass die Tschechen und Slowaken die dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen in den vergangenen zwanzig Jahren (1918-1938) nicht als ein gleichberechtigtes „Staatsvolk“ anerkannt hatten und dass 1919 zahlreiche unserer sudetendeutschen Landsleute von der tschechischen Soldateska erschossen worden waren.

      Am 2. Dezember 1938 regnete es – nach meiner Erinnerung – blaue und pinkfarbene Flugblätter und Hakenkreuzfahnen vom Himmel, denn es zog das deutsche Luftschiff LZ 130 („Graf Zeppelin II“) wie eine silbergraue Zigarre lautlos-langsam seine Bahn. Da ich des Lesens mit knapp fünf Jahren noch nicht mächtig war, hatte ich den Inhalt der Botschaften nicht erfasst. Es ging offenbar um eine Propagandaaktion für die am 4. Dezember im Sudetenland durch „Führererlass“ anstehenden Wahlen zum „Großdeutschen Reichstag“. Der Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich war von der übergroßen Mehrheit unserer Landsleute begrüßt und seit Längerem auch gewünscht worden. Selbst der britische Sonderbotschafter, Lord Walter Runciman, der sich seit dem 8. August 1938 im Sudetenland aufgehalten hatte, empfahl am 21. September, „die Grenzgebiete mit überwiegend deutscher Bevölkerung unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und Deutschland anzugliedern.“

      Im Sommer 1939 zog unsere Familie von Neudau in das nahe gelegene Rodisfort, einem Kirchdorf an der Eger. Hier besaßen die Eltern meines Vaters eine große Bauernwirtschaft, die aber in der zweiten Hälfte der 30er Jahre aufgegeben werden musste, denn die Großeltern waren aufgrund ihres hohen Lebensalters nicht mehr in der Lage gewesen, die große Fläche zu bewirtschaften. Von den fünfzehn noch lebenden Kindern wollte niemand Landwirt werden oder einen Bauern heiraten, der die Wirtschaft hätte fortführen können.

      Wir

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