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für die Menschheit waren. Man hatte Mitleid mit uns. Ich selber habe zehn Jahre gebraucht, bis ich darüber sprechen konnte, und ich sage im Grunde ja nur wenig darüber, und ich sage es nicht sehr gut. Man wollte uns jedenfalls nicht zuhören“, konstatierte Wiesel.15

      Am 13. Juli 2011 führte ich ein Gespräch mit Professor Ivan Lefkovitz. Als fünfjähriges Kind erlebte er mit Mutter und Bruder das ganze Ausmaß der Verfolgung: Kellerversteck, Gefangennahme, Gestapo-Gefängnis, Deportation, Trennung der Familienmitglieder, KZ Ravensbrück, Vergasung seines Bruders, Todesmarsch, anschließend KZ Bergen-Belsen, Typhus, Befreiung am 15. April 1945 durch die Engländer. Am Schluss eines langen Gespräches stellte ich ihm die Frage: „Wie kommt es, dass Holocaustüberlebende es oft so schwer haben, über ihre Erlebnisse zu sprechen, und auch den eigenen Verwandten gegenüber, oft ein Leben lang schweigen? Ihnen wurde Böses getan. Sie hätten doch die Möglichkeit, darüber zu sprechen?“ Darauf antwortete mir Lefkovitz: „Es ist schwierig für mich, dies im Allgemeinen zu beantworten. Ich kann es aus der Sicht unserer Familie erzählen, das heißt, meiner Mutter und mir. Wir kehrten aus Bergen-Belsen zurück und stellten fest: Erstens haben nur wir zwei überlebt. Zweitens war es schwierig, den Leuten zu erklären, um was es eigentlich ging. Wir wurden oft mit der Bemerkung unterbrochen, dass es bei anderen genauso schlimm gewesen wäre. Wir stellten fest, dass Dinge, die nicht vergleichbar sind, durchaus von anderen verglichen wurden. Deshalb zogen wir das Schweigen vor. Aber es waren auch ganz triviale Gründe: Wir kamen zurück und hatten nichts, nicht einmal einen Koffer mit unseren Sachen. Leute sprachen uns auf der Straße an und sagten, dass von den Dingen, die wir bei ihnen deponiert hätten, nichts übrig geblieben sei. Unser Hab und Gut wurde entweder von den Deutschen oder den Russen weggenommen. Wir sahen so viel Unverständnis, dass es am besten war zu sagen: ‚Schwamm drüber.‘ Wir reden nur darüber, was jetzt ist, und nicht von dem Vergangenen.“

      Aber es gab auch andere Gründe. Ich habe festgestellt, dass meiner Mutter die Fragen, die ich ihr eventuell stellen würde, wehtun würden, und das wollte ich nicht. Ich verdeutliche es an einem Beispiel: Da gab es eine Frau, sie war Apothekerin, genau wie meine Mutter. Sie kehrte aus Auschwitz zurück, wo ihr Mann und ihre zwei Söhne ermordet worden waren. Sie blieb alleine zurück. Wenn sie zu uns zu Besuch kam, umarmte sie mich und sagte, dass es schön gewesen wäre, wenn ihr Sohn noch leben würde. Dann sagte sie zu meiner Mutter: ‚Du bist doch so glücklich, dass du deinen Sohn noch hast, ich habe niemanden.‘ Ich hörte das alles, und die Reaktion des Elf- oder Zwölfjährigen, der ich damals war, war es, diese Frau zu meiden. Ich wusste, dass ich ihr durch meine Präsenz wehtue, weil sie durch mich an ihr tiefes Unglück erinnert wird.“16 Sogar unter Leidensgenossen war es also sehr schwer, das jeweils Erlebte zu teilen.

      Die anhaltende Traumatisierung durch die Bedrohung, die Flucht, die Ermordung der Angehörigen, durch den Verlust der Heimat und schließlich das erwähnte Desinteresse derer, die den Berichten misstrauten bzw. diese nicht hören wollten, haben so schwer gewogen, dass viele Opfer das Schweigen als Lebensweise angenommen haben. Unzählige, die überlebt haben und über ihre Erfahrungen nicht zu sprechen vermögen, tragen ein Leben lang die Folgen ihres Schweigens, was nicht ohne Wirkung auf Kinder und Kindeskinder bleibt.

      Es wäre zu einfach, bei diesen jahre- und jahrzehntelang andauernden Verhaltensweisen von „Traumata“ zu sprechen. In der gängigen medizinischen Betrachtung ist ein Trauma die psychische Reaktion eines Einzelnen auf ein akutes, überwältigendes und mit Lebensgefahr verbundenes Geschehen. Bei betroffenen Menschen folgt vielfach nach relativ kurzer Zeit eine deutliche Erholung. Bei Kriegsopfern und speziell bei den Opfern des Holocausts aber verhält es sich oft anders: Ihre Erkrankung erstreckt sich über Jahrzehnte oder über das ganze Leben. Der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ ist hier durchaus eine adäquate Bezeichnung. Eine posttraumatische Belastungsstörung beginnt in der Regel dort, wo das Trauma aufhört.17

      Die in diesem Sinn traumatisierten Menschen leben sozusagen seelisch zerstört in dem „Gefängnis“ ihrer Trauer und ihres Schmerzes. Als Folge der traumatischen Beeinträchtigung ist es für die Betroffenen unmöglich, auf das zeitgeschichtliche Geschehen flexibel zu reagieren und sich im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen.18

      Der Psychologe G. William Niederland hat den Begriff „Überlebenden-Syndrom“ geprägt:

      [B]ei aller Unterschiedlichkeit der Begrifflichkeiten handelt es sich im Wesentlichen um Schmerz, Pein und große innere Drangsal […] die frühere Lebenslinie wurde durch Verfolgung abgeschnitten – vollständig und oft in grausamster Weise. So entstand ein zumeist unheilbarer Knick in der Lebenslinie […] nach der Rettung kam es zu Depressionen und Angst. Die Angst mündete bei vielen in quälende Empfindungen des ständigen Sich-fürchten-Müssens mit begleitenden körperlichen Zustandsänderungen (Herzklopfen, Atemnot, Händezittern, Schwäche) ein. Die seelischen Störungsbilder zeigten sich in der Form von ängstlichem Erregtsein, innerer Spannung und nervöser Unruhe, Angst- und Albträumen, unausgesprochenen phobischen Erscheinungen wie plötzlichem Zusammenschrecken beim Hören der Türklingel oder beim Anblick von uniformierten Menschen auf der Straße. Misstrauen, Furcht und Argwohn beherrschten die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt der so Geschädigten. Das Verbrechen am Seelenleben dieser Menschen hält an.19

      Der Psychologe Weitzel-Polzer ergänzt die Liste durch folgende weitere Beobachtungen:

       Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen

       gestörte Selbstwahrnehmung mit Ohnmachtsgefühl

       Selbstbezichtigung, Beschmutzungsgefühl oder Stigmatisierung

       das Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden

       ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter

       unrealistische Einschätzung des Täters, Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit

       Übernahme des Überzeugungssystems des Täters

       Beziehungsprobleme mit Isolation und Rückzug

       gestörte Intimbeziehungen

       wiederholte Suche nach einem Retter

       anhaltendes Misstrauen

       Verlust fester Glaubensinhalte

       Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung

       andauernde Gefühle des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit

       Anhedonie (die Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden)

       Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten

       Suizidgedanken

       Depressionen

       Alkoholmissbrauch

      Hinzu kommen noch in bestimmten Situationen Angst auslösende Assoziationen, die Erinnerungen wachrufen wie Hundegebell, dichtgedrängte Menschenmassen, Feuerwerkskörper, Kindergeschrei oder Sirenen. Opfer des Holocausts haben oft das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Verlassenseins und des Nichtgewolltseins.20

      Bei einer so umfangreichen Liste von Symptomen ist es sehr verständlich, dass manche Opfer das Erlebte nicht nur verdrängen, sondern sogar versuchen, es von ihrer eigenen Person abzuspalten, so als wäre das Verbrechen nicht an ihnen, sondern an jemand anderem begangen worden.

      Gerade wegen dieses verdrängenden Schweigens waren viele paradoxerweise zu einem vollen, nützlichen und produktiven Leben imstande, immer danach strebend, ihre unaussprechlichen Verluste wiedergutzumachen.

      Das unbewusste Schweigen diente dazu, den Überlebenden in ihrem Daseinskampf zu helfen. Die Welt nach 1945 forderte von den Zurückgekommenen Verleugnungen zugunsten der Wiederanpassung: „Und tatsächlich haben sie sich angepasst, haben Familien gegründet, haben Karriere gemacht. Und es fehlte ihnen die Zeit zum Sprechen.“21

      Forschungsergebnisse

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