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Gebiet, dass er sich 1914 nichts anderes vorstellen konnte als einen gemeinsamen Sieg. Ein Krieg an der Seite Deutschlands, der war einfach nicht zu verlieren.

      Der Krieg hat die Kinder rasch reif werden lassen. Mit sechs Jahren gehörte ich zu einem Kreis von eigentlich recht wohlerzogenen Buben. Wir hatten einen Anführer, dem wir vollkommen hörig waren. Er war zehn Jahre älter und hat seine Autorität bis zum Letzten ausgespielt. Durch ihn bin ich zum ersten Mal in die Elendsviertel in der Umgebung Wiens gekommen, nach Inzersdorf hinaus, wo seinerzeit Victor Adler der ganze Jammer der Menschheit angefasst hat und wo die großen Sozialreportagen entstanden, die viele aufrüttelten. Als Victor Adler von einer alten Frau gebeten wurde, angesichts dieses Elends doch zu helfen, musste er ihr sagen: »Leutln, euch kann kein Doktor helfen.« Gegen Ende des Krieges hielten sich in Inzersdorf die Deserteure verborgen. Es war der Treffpunkt der Unterwelt, und meiner Mutter wäre es im Traum nicht eingefallen, dass ich mich unter dem Wiener Lumpenproletariat herumtreiben könnte. Als mir einmal eine Tante eine Exkursion zur »Spinnerin am Kreuz« vorschlug, habe ich mich versprochen und gesagt, dort sei ich schon gewesen. »Entweder, Bub, du lügst«, hat sie ungläubig erwidert, »oder du warst wirklich dort. Aber um Himmels willen, mit wem?« Ich habe natürlich geschwiegen.

      Unser Anführer hat uns auch zu einer Reihe von kriminellen Handlungen angestiftet. So gab es damals einen großen Mangel an Kupfer-Zink-Legierungen, und die Messingklinken in den Wohnungen waren vielfach durch Eisenklinken ersetzt worden. Die Parole hieß: Kupfer für Eisen, so wie es hundert Jahre zuvor gelautet hatte: Gold gab ich für Eisen. Wo es noch Messingschnallen zu Hause gäbe, sollten wir sie abmontieren und ihm, unserem Anführer, abliefern. Dann hat er uns beigebracht, wie man das am gescheitesten anstellte. Meine Mutter, aber auch die Hausgehilfinnen waren verzweifelt, als plötzlich die letzten Messingschnallen verschwunden waren. Ich habe natürlich kein Wort gesagt.

      Vorzeitig durfte ich von der Volksschule auf die Mittelschule wechseln. Fünf Volksschulklassen waren die Regel; den Begabten wurde ein Jahr erlassen, so dass ich bereits mit zehneinhalb Jahren auf die Bundeserziehungsanstalt für Knaben kam. Unter meiner so genannten Begabung habe ich ziemlich gelitten, nicht aus Bescheidenheit, sondern weil die Konsequenzen unerträglich waren. Gleich nach dem Krieg hatte man in Österreich aus den ehemaligen Kadettenschulen staatliche Erziehungsanstalten gemacht, die später in »Bundeserziehungsanstalten« umbenannt wurden. Die Idee dieser internatsähnlichen, nach englischem Vorbild eingerichteten Schulen für meist mittellose, aber begabte Kinder ging auf einen sozialdemokratischen Politiker und Pädagogen namens Glöckel zurück. Nachdem ich eine schwierige Aufnahmsprüfung absolviert hatte, rückte ich ein.

      Alles in dieser Anstalt roch nach dem Kaiser. Diejenigen, die wollten, konnten die alten Uniformen der Kadetten tragen, hohe Tschakos, lichtblaue Mäntel und dunkelgraue Uniformjacken. Ich habe keine Uniform getragen. Die schwarz-gelben Bettdecken mit dem aufgenähten Doppeladler mussten immer genau in der Mitte liegen, sonst kam der Präfekt, riss die Decke vom Bett, und alles fing wieder von vorn an. Es war sehr schwierig, die Adler exakt in die Mitte zu bekommen, weil die Betten sehr dicht beieinanderstanden. So hat man sich furchtbar damit abgemüht. Gelegentlich ist es auch vorgekommen, dass ein besonders sekkanter Präfekt einem den ganzen Spind ausgeräumt hat, weil der angeblich nicht in Ordnung war.

      Um 6 Uhr mussten wir aufstehen und im Hof zum Frühturnen antreten. Oben im ersten Stock stand der Präfekt in der kurzen Pelzjacke der Dragoner und gab in forschem Ton die Befehle. Ebenfalls aus der Tradition der Kadettenschule kam die sogenannte Absentierung am Wochenende. Man hatte es nicht einmal für nötig befunden, die Bezeichnung zu ändern, und so war alles in dieser Anstalt alter Wein in neuen Schläuchen. Viele Kinder, vor allem die aus ärmeren Familien, fühlten sich sehr wohl, aber für mich war es die Hölle.

      Von Anfang an galt ich als der große Rädelsführer. »Die andern sind alle sehr brav«, hieß es immer, »nur der Kreisky, der ist ein reiner Bösewicht.« Wie in jedem Internat, kam es auch hier immer wieder zu kleinen Diebstählen. Man hatte sogar eine Liga gegen den Kameradschaftsdiebstahl organisiert, deren Führer groteskerweise einer von denen war, die später entlarvt wurden. Einmal fiel der Verdacht auf mich, da ich relativ viel Taschengeld hatte. So konnte ich, wenn wir zum Konzert fuhren, einen oder zwei Freunde in ein Wirtshaus einladen und ihnen die Würstel bezahlen. Alle zerbrachen sich den Kopf, woher ich soviel Geld hatte. Als der Präfekt meinen Vater fragte, wie er sich das erkläre, meinte der, mein Taschengeld reiche dafür sicherlich nicht. Des Rätsels Lösung war, dass ich von meinem Vater eine ziemlich wertvolle Briefmarkensammlung geschenkt bekommen hatte, die er auch regelmäßig durch die Marken seiner Korrespondenzpartner auf der ganzen Welt ergänzte. Zizerlweis habe ich diese Sammlung irgendeinem Gauner von Briefmarkenhändler verkauft, wobei der mich sicherlich betrogen hat, aber mir genügte es. Jedenfalls konnte ich auf diese Weise einen kleinen Freundeskreis um mich scharen, der mir über die Qualen des Internats hinweghalf. Mit einigen von ihnen, die Krieg und Krankheit überstanden haben, bin ich noch heute in Kontakt.

       Nestwärme der Familie: Vater Max Kreisky mit seinen Söhnen Bruno (rechts) und Paul (links).

      Bei manchen meiner Lehrer fand ich sehr viel Zuneigung. Einer von ihnen war der bedeutende österreichische Geograph Johann Slanar, nach dessen Atlas auch nach 1945 noch an manchen Schulen Geographie unterrichtet wurde. Slanar war ein überzeugter Sozialdemokrat der alten Schule, und ich hatte das Gefühl, dass er mich aufrichtig gern hatte. Als er mich nach dem Krieg einmal in der Präsidentschaftskanzlei besuchte, empfand ich ihm gegenüber ein warmes Gefühl der Dankbarkeit. Ein anderer meiner Lehrer war Professor Franz Prowaznik; ein echter Erzieher und ein großartiger Mathematiklehrer. Auch er war Sozialdemokrat, und während meines Studiums bin ich oft mit ihm in der Straßenbahn gefahren, weil er Direktor der Mittelschule war, die neben meinem Elternhaus lag. Ich hatte immer das Gefühl, dass er sehr glücklich war, zu jenen zu gehören, die nicht ihre Hand von mir genommen hatten. Der dritte schließlich, an den ich hier erinnern will, Eugen Mitter, war eine besondere Persönlichkeit. Ich habe ihn immer für einen kultivierten Deutschnationalen gehalten, aber offenbar war er Heimwehrler, denn er ging zu dieser berüchtigten Großkundgebung, bei der Starhemberg sagte: »Erst wenn der Kopf dieses Asiaten in den Sand rollt, wird der Sieg unser sein.« Gemeint war der Stadtrat für Finanzwesen der Gemeinde Wien, Hugo Breitner. Um von der ehemaligen Kadettenschule relegiert zu werden, habe ich das getan, was einem in einer solchen Situation zu tun bleibt: Man wird ein schlechter Schüler. Das habe ich mit Brillanz erreicht. Nach dem ersten Halbjahr der dritten Klasse hatte ich so viele »genügend« und »nicht genügend«, dass mein Hinauswurf abzusehen war. Um die Prozedur zu beschleunigen, lief ich auch noch davon. Auf dem Höhepunkt der Krise befand sich mein Vater auf einer Reise durch die Sowjetunion; er gehörte zu der ersten österreichischen Handelsdelegation, die die Sowjetunion besuchte – eine der ersten Delegationen aus dem Westen überhaupt. Die Schulleitung wandte sich an meinen Onkel Oskar Kreisky, der sich damals ein wenig um mich kümmerte, und dieser Onkel, der selber Mittelschulprofessor war, sah glücklicherweise ein, dass es das Beste sei, mich gleich von der Schule zu nehmen und an einer anderen Anstalt unterzubringen. Hätte man mein vollständiges Versagen abgewartet, hätte ich eine Klasse tiefer neu beginnen müssen. Mein Vater war bei seiner Rückkehr sehr aufgebracht, denn er war immer sehr stolz darauf gewesen, dass sein Sohn die Begabtenschule besuchte.

       Eine »unendlich gütige Frau«: Die Mutter Irene Kreisky, geborene Felix, stammte aus einer mährischen Industriellenfamilie.

      In der nächsten Schule habe ich mich einigermaßen wohl gefühlt; sie lag in der Nähe unserer damaligen Wohnung in der Schönbrunner Straße. Der Direktor, Gustav Rohrauer, war der Sohn des Gründers der »Naturfreunde« und ein sehr guter Pädagoge. Eine seiner sehr sportlichen Töchter, die mir außerordentlich hübsch vorkam, war ebenfalls Schülerin der Anstalt.

      Als meine Eltern 1925 vom V. in den IV. Bezirk zogen, setzte ich alles daran, nicht in dem Bezirk, in dem wir wohnten, zur Schule gehen zu müssen. Inzwischen hatte ich nämlich ein System des Schulschwänzens ausgetüftelt – Schulstageln hat das im Dialekt geheißen: wichtig war vor

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