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einen Befreiungsschlag wagte, würde er nach Hause gehen. Wenigstens schien ihn der Alte nicht erkannt zu haben.

      „Wie ist es denn so?“, hörte er den Mann fragen, und eine Schrecksekunde lang fürchtete Milton, er habe ihn doch erkannt.

      „Was?“

      „Als Frau.“ Der Alte spitzte die überreifen Lippen. „Fühlt man sich da besser?“

      „Kalt.“ Milton knüllte die feuchten Handschuhe zusammen und steckte sie in seine Tasche. „Seien Sie froh, dass Sie eine Hose anhaben.“

      Der Mann sah ihn eindringlich, fast flehend an. „Aber Sie denken trotzdem, ich sollte es mal versuchen?“

      Milton dachte an seine Gerichtsakte und versuchte, sich den Namen des alten Mannes ins Gedächtnis zu rufen. Er wusste noch, dass der Name ihn damals belustigt und ihm ein wenig über seine prozessbedingten Depressionen hinweggeholfen hatte.

      „Wenn Sie es in diesen tollen Tagen versuchen, wird nicht viel schief gehen. Hinterher können Sie sich die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Bis Ostern ist es noch lang.“

      „Stimmt.“ Der Mann wirkte niedergeschlagen. „Mir graut schon davor. Meine Frau ist sehr katholisch, also ist die Fastenzeit eine riesige Sache für sie. Sechs Wochen lang wird sie nichts anrühren, das ihr in irgendwelcher Hinsicht Spaß macht. Nicht mal mich.“

      In diesem Moment glaubte Milton zu verstehen, dass religiöse Enthaltsamkeit gelegentlich eine gute Deckung bieten konnte. Gleichzeitig schob sich der Name des Mannes wieder in sein Gedächtnis. Graut oder Kraut und davor noch was. Elfenkraut. Das war es! Milton erinnerte sich, der Name klang nach Märchenbuch und Hexerei. Der Mann war Patentanwalt gewesen. So stand es in der Akte. Während der Anhörung kam er mit Paragraphen und behauptete, Milton habe ihn in der verbotenen Aufmachung provozieren wollen. Als Milton erklärte, er habe den Mann erst gar nicht gesehen, entgegnete Elfenkraut, Miltons Verhalten sei eindeutig libidinös motiviert gewesen. Daraufhin hatte Milton eine kurze Rede gehalten, über betagte Viagra-Schlucker und die geistigen Schäden, die potenzsteigernde Mittel bei Rentnern anrichten konnten. Den Beweis zitierte Milton aus Michel HouellebecqsElementarteilchen. Das Ende vom Lied: vierzig Stunden gemeinnützige Arbeit. Müllsammeln im Park.

      Wie auf Kommando stürmte eine grölende Gruppe Flaschen schwingender Jugendlicher um die Ecke. Unter ihren Kapuzen und Gangsta-Wollmützen glichen sie den anderen Narren, doch sie bewegten sich schneller, zielgerichteter. Offenbar wollten sie zur trägen, glühweinseligen bürgerlichen Faschingsstimmung ihre eigene Note beitragen.

      „Sehen Sie nur!“ Elfenkrauts empört resignierten Tonfall hatte Milton in den Tagen des Müllsammelns oft von Menschen gehört, die sich nicht trauten, selbst für Recht und Ordnung zu sorgen. Die erste Bierflasche splitterte gegen eine Hauswand. Die Jugendlichen begannen einen Teufelstanz. An Glühweinbuden, Straßenschildern und der Basstuba eines Musikanten gingen Flaschen zu Bruch. Mit perfekt synchronisiertem Gebrüll durchbrachen die Halbwüchsigen die Formation der Blaskapelle und hinterließen angeschlagene Trommeln, verbogenes Blech und durchnässte Uniformen. Die Marschmusik geriet aus dem Takt, setzte mehrfach aus und endete schließlich mit dem verlorenen Pfeifton einer Piccoloflöte und dem Tsching zweier Becken, die einem jungen Wollmützenträger von links und rechts so derb über die Ohren geschlagen wurden, dass er sich taumelnd von dannen schleppte.

      Milton sah, wie Viktor sich den zusammengeknüllten Staublappen unter der Brille hervorzog. Seine aufgedrehten Verehrerinnen rückten unauffällig hinter ihm zusammen. Elfenkraut war die Lust vergangen, sich weiter mit Milton zu unterhalten. Zwischen Hauswand und Glühweinbude wollte er im nächstgelegenen Gässchen verschwinden. Zu seinem Pech traf er dort auf einen Jugendlichen, der gerade versuchte, seine Notdurft in einen grau vereisten Blumenkübel zu verrichten. Elfenkraut sagte etwas und gestikulierte heftig, worauf sich der Junge mit der einen Hand den Reißverschluss hochzog und Elfenkraut mit der anderen eine Wodkaflasche gegen den Helm rammte.

      „Heh, heeh!“ Viktor erreichte Elfenkraut noch vor Milton, doch in Anbetracht der Damenkleidung und der Schuhe war Miltons Tempo auch nicht schlecht. Er streckte das rechte Bein genau im richtigen Moment vor, und der flüchtige Schläger, der bereits den Blumenkübel, ein schlecht verlegtes Stromkabel und einen umgestürzten Stehtisch hatte bewältigen müssen, ging direkt vor ihm zu Boden. Elfenkraut verlor ebenfalls das Gleichgewicht. Von Viktor gestützt, lehnte er mit schief sitzendem Wehrmachtshelm an der Hauswand. Eine Gefolgsfrau Viktors spähte besorgt um die Ecke der Glühweinbude.

      „Schöner Fall.“ Milton ließ seine Handtasche über dem gestürzten Jungen hin- und herpendeln. „Und was machen wir jetzt?“

      „Lass mich in Ruh, du blöde Fotze“, röchelte der Junge. Unter seiner Mütze schlängelten sich dunkle, weiche Haare hervor; auf seinem flaumigen Kinn zeigten sich die ersten Anzeichen einer Platzwunde.

      „Du brauchst ein Taschentuch“, stellte Milton fest.

      „Der da hinten hoffentlich auch“, stieß der Junge gehässig hervor. „Damit es sich lohnt.“

      Milton kramte in seiner Handtasche. Aus den Tiefen eines ihm bisher verborgenen Nebenfaches förderte er ein Spitzentüchlein zutage, das schwach nach Eau de Cologne roch. „Du siehst furchtbar aus.“

      „Was kümmert’s dich, Alte.“ Der Junge riss ihm das Taschentuch aus der Hand und hielt es sich ans Kinn. „Du bist doch selber aus dem letzten Jahrhundert.“

      „Wir Drag Queens haben ein hartes Leben“, erwiderte Milton. „Besonders angesichts solcher Helden wie du einer bist.“

      „Ich glaub, das muss genäht werden“, wimmerte der Junge. „Oh Scheiße!“ Er hob den Kopf und starrte Milton ins Gesicht. „Ich weiß nicht. Krieg ich jetzt ne Blutvergiftung oder so was? Mein Schädel tut mir so weh!“

      „Nimm doch den Eierwärmer ab“, schlug Milton vor. „Dann können wir nachsehen.“

      „Waas?“, sagte der Junge, hockte sich auf die Fersen und starrte Milton noch eindringlicher an. „Was bist du eigentlich für einer?“

      „Bloß ein Faschingsnarr.“ Milton zog dem Jungen die Mütze vom Kopf und tastete in seinen dichten Haaren nach Spuren weiterer Verletzungen. „Ich kann nichts finden. Nur dein Kinn …“

      Ein Polizistenpärchen hatte sich den Weg durchs Getümmel gebahnt. Zwei Männer. Die anderen Gangsta-Narren waren längst verschwunden, und der Junge merkte es zu spät.

      „Oh, nee!“

      „Sie haben den Herrn dort hinten mit einer Flasche angegriffen?“, fragte der Ältere der beiden Polizisten.

      „Er hat mich beim Pissen angegrabscht“, heulte der Junge. Dann zeigte er auf Milton. „Und der da hat … hat mich … mich …

      „ … zu Fall gebracht, als du weglaufen wolltest“, ergänzte Milton.

      „Drogen oder Alkohol?“, stellte der jüngere Polizist müde die immergleiche Frage. Der Junge stieß eine Flut wüster Schimpfwörter hervor, und die beiden Beamten verständigten sich mit einem Blick.

      „Dann wollen wir mal.“

      Sie packten den Jungen links und rechts unter den Armen und zogen ihn hoch. Das vollgesogene Spitzentaschentuch fiel zu Boden. Über die Schulter sah der Junge fluchend und zeternd zu Milton zurück. Milton winkte. Eine junge Frau mit Elbenohren und roter Turmfrisur stand plötzlich neben ihm. Der Junge zappelte und schrie, bis ihm der ältere Polizist den Arm verdrehte. Erst dann ließ er sich mitziehen.

      „Ein temporärer Sieg des welken Alters über die Jugend“, sinnierte die junge Elbin.

      „Noch ein paar Jahre, und sie werden die Welt regieren“, stimmte ihr Milton zu. „Und wir sitzen dann im Altersheim und müssen ihnen dabei zusehen.“

      Die Elbin wandte den Kopf mit einem Schwung, den er kannte, und ihr Blick traf auf seine Schuhe. „Gutes Ensemble! Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Dieses Kleid! Ein Original aus den Zwanzigern! Wo haben Sie das denn aufgetrieben? In meinem Laden jedenfalls nicht, so

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