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steht als wichtigste Politikerin Europas ohnehin unter ständiger Beobachtung. Was sie sagt, denkt und plant, könnte wichtig sein. Also müssen fast immer ein Reuters-Korrespondent oder ein Reuters-Kamerateam bei ihren öffentlichen Terminen vor Ort sein. Pro Jahr gibt es deshalb weit mehr als hundert Termine, auf denen ich Merkel höre, sehe, manchmal auch etwas fragen kann – ob in Berlin, in Haigerloch oder Ulan-Bator, ob bei Regierungserklärungen, auf CDU-Wahlveranstaltungen, bei Diskussionen mit Schülern oder dem Treffen mit den Sternsingern im Kanzleramt. Diese Aufmerksamkeit durch eine internationale Agentur ist ein zwar sehr inoffizieller, aber gewiss kein schlechter Gradmesser für die Bedeutung von Politikern. Hier gilt das doppelte Macht-Prinzip ›MbM – Merkel bewegt Menschen, Merkel bewegt Märkte‹.

      Zur Dichte der Beobachtung kommt ein Langzeitblick auf die Kanzlerin: Mein erstes Interview mit Merkel habe ich 2005 vor ihrem Amtsantritt geführt, damals noch für das Handelsblatt. Wichtig für das Verständnis ihres Denkens und die Einschätzung ihres Handels sind aber auch unzählige Hintergrundgespräche, die ich im Laufe der Jahre mit Merkel, vielen Mitarbeitern, Politikern aller größeren Parteien, aber auch sehr vielen ausländischen Diplomaten und Regierungsvertretern über ihre Politik führen konnte.

      Dieses Buch soll vor allem eine Rückbesinnung auf das sein, was wir über Merkel aus erster Hand wissen können – und das ist viel. Das Problem der Beschreibung einer Spitzenpolitikerin wie Merkel liegt heute ganz offensichtlich weniger im Mangel an Informationen als in deren Überfluss. Gerade Merkel hat in ihren Jahren als Ministerin, Oppositionsführerin und Kanzlerin verblüffend viel gesagt, über sich und ihre Politik. Doch die Beobachtungszeiträume werden eher kürzer, die Thesen dafür oft zugespitzter. Das erklärt, warum es mehr gefühlte als tatsächliche ›Kehrtwenden‹ Merkels gibt – und immer wieder Erstaunen über ihre Politik.

      Dieses Buch ist deshalb auch kein weiterer Interpretationsversuch der Person und Politikerin Merkel. Es beschreibt, es bewertet nicht. Die Darstellung dessen, was Merkel sagt und wie sie denkt, bedeutet in keinem Fall, dass ich den Inhalt auch teilen muss, ihn richtig oder falsch finde. Natürlich gibt es einen Schuss Subjektivität, weil ich die Auswahl der behandelten Themen getroffen habe, die ich für ein Verständnis der Politik Merkels für wichtig halte. Zudem musste ich innerhalb der einzelnen Komplexe Einordnungen und eine Auswahl etwa der Zitate vornehmen. Aber das Ziel ist eine möglichst objektive, gleichzeitig facettenreiche Beschreibung dessen, was die mächtigste Frau der Welt bewegt – deshalb auch der lexikalische Ansatz. Es soll ausdrücklich der Leserin und dem Leser vorbehalten bleiben, wie sie die skizzierten Positionen und Haltungen Merkels bewerten. Dazu brauchen sie eine Faktenbasis, die in der meinungsstarken deutschen Medienlandschaft manchmal etwas verloren zu gehen scheint. Darum geht es in diesem Buch. Denn gerade in der Flüchtlingskrise basierten viele positive und negative Urteile über die Bundeskanzlerin eher auf lautstarken Einschätzungen anderer.

      Vielleicht sind ›Alternativlosigkeit‹, ›Zaudern‹ und ›Führung‹ am Ende gar keine Gegensätze? »Angela Merkel ist weder Sphinx noch Wonderwoman oder Glückskäfer«, schrieb einer ihrer Biografen schon 2006.1 Jedenfalls lassen sich in ihrer Amtszeit sowohl eine dramatische, abrupte Politikwende (Atomausstieg), das konsequente Festhalten an einer seit Jahrzehnten vertretenen Position (Euro, Flüchtlinge), deren stillschweigende taktische Aufgabe (Gentechnik) als auch das Lavieren zwischen Haltungen mit verschiedenen Koalitionspartnern wie etwa in der Wirtschafts- und Steuerpolitik finden.

      Dieses Buch sortiert die Fakten zudem neu. Wenn man Schneisen durch die riesige Fülle von Informationen schlagen will, bringt eine weitere chronologische Erzählung der Regierungsjahre Merkels eigentlich nicht viel – es sei denn, man würde den teilweise sehr guten Biografien über Merkels frühere politische Jahre eine Ergänzung etwa über ihre dritte Amtszeit hinzufügen. Aber um zu verstehen, warum Merkel so agiert, wie sie es tut, muss man den Gesamtblick wählen. Denn ihr Verhalten ist auch von den jeweiligen Koalitionen und Herausforderungen abhängig.

      Bei aller Faszination für Biografien hat mich oft gestört, dass das Wissen in diesen Büchern später oft nicht mehr gut abrufbar ist. Hier kommen die Stichworte ins Spiel. Diese sind ebenfalls ein Ergebnis meiner täglichen Arbeit als Journalist. Denn bei der eigenen Beobachtung der Arbeit Merkels gilt es, immer wieder Fäden aus der Vergangenheit aufzunehmen. Dazu muss die Kanzlerin thematisch ›filetiert‹ werden: Mal ist eine Beschreibung Merkels als Euro-Kanzlerin, mal eine als Ukraine-Vermittlerin, mal eine als CDU-Chefin gefragt. Manchmal drängt sich nach Monaten wieder ein Thema wie Griechenland in die Aktualität, mit dem sie sich bereits früher beschäftigen musste. Aber oft lassen sich Positionierungen nur – oder zumindest besser – verstehen, wenn man noch weiß, was Merkel früher über dieses und jenes Thema gedacht und wo sie sich bereits auf Positionen festgelegt hat.

      Dazu habe ich die Methode gewählt, Angela Merkel möglichst oft selbst zu zitieren. Dies ist die authentischste Herangehensweise für eine möglichste neutrale Beschreibung eines Politikers. Sie begrenzt die Möglichkeit einer Interpretation zumindest. Die starke Einbindung von Zitaten funktioniert gerade bei Merkel, weil es nach meiner Erfahrung keine doppelte Agenda gibt: Das Gesagte weicht von dem Gedachten nur insoweit ab, als auch eine Kanzlerin natürlich nicht über alles spricht, was sie bewegt. Nach mehr als zehn Jahren direktem Kontakt würde ich jedoch Stefan Kornelius weitgehend zustimmen, wenn er schreibt: »Bei Merkel bekommt man, was man sieht. Hinter dem öffentlichen Bild verbergen sich keine gewaltigen Geheimnisse.«2 Aus der riesigen Anzahl von Merkel-Äußerungen habe ich versucht, die aussagekräftigsten, für ihr Denken meiner Meinung nach typischsten und in der Abwägung meist auch die aktuellsten für ein jeweiliges Thema herauszusuchen. Wo immer möglich, habe ich zur größeren Transparenz die Fundstellen von Zitaten und Äußerungen belegt. Bei der Nutzung der Informationen aus den vielen Hintergrundgesprächen geht dies jedoch nicht. Hier muss Vertraulichkeit gewahrt werden – und hier müssen die Leser dem Autor vertrauen, die relevanten Einschätzungen verwendet zu haben. Manchmal – etwa bei den Passagen über ihre Zeit in der DDR – habe ich in stärkerem Maße vorliegende Biografien herangezogen, was ebenfalls markiert ist.

      Die Stichworte selbst sollen Lesern einen besseren, selbstbestimmten Zugang zum Thema Merkel ermöglichen. Meine Erfahrung ist, dass Journalisten, Politiker und Menschen außerhalb des politischen Betriebes in Berlin nicht immer dieselben Fragen und Interessen haben. Hier kann jeder selbst Bezüge herstellen, das Buch von vorne bis hinten, hinten nach vorne oder nach Stichworten lesen. Wo immer möglich, habe ich Querverweise eingefügt, um das Weiterlesen zu erleichtern. Natürlich kann dieses Lexikon nicht alle Aspekte abdecken. Aktuellen oder besonders strittigen Fragen wie der Flüchtlingskrise sowie ›großen‹ Themen wie ›China‹, ›EU‹, aber auch ›Frauen‹, ›CSU‹ oder ›AfD‹ habe ich dabei mehr Platz gewidmet als anderen. Wenn einige Informationen in dem Buch gleich mehrfach auftauchen, ist dies übrigens kein Versehen: Es soll vielmehr das Verständnis innerhalb der Stichworte erleichtern, weil sie möglicherweise quer und punktuell gelesen werden.

      Die Themenvielfalt ist ebenfalls bewusst gewählt: Dieses Lexikon beinhaltet neben ›harten‹ politischen Stichworten auch solche etwa zu Merkels Blazern oder ihrer Frisur. In Anlehnung an Woody Allen könnte man sagen, das Buch trägt den Untertitel »Was Sie schon immer über Merkel wissen wollten, aber nie zu fragen wagten«. Denn einiges von dem, was die Person Merkel betrifft, lässt auch Rückschlüsse auf die Politikerin Merkel zu. Allerdings gibt es klare Grenzen: Dieses Buch ist alles andere als eine schriftliche Version eines Paparazzi-Angriffs. Politiker haben ein Anrecht auf Privatsphäre wie andere Menschen auch. Merkel hat sich klar dafür entschieden, etwa ihre Ehe, ihre Wohnung, ihre Datsche strikt vertraulich zu halten. Und dies soll bei aller Neugierde respektiert werden. Das Erstaunliche bei der Recherche ist aber, wie viel Privates aus dem Leben der ersten Bundeskanzlerin dennoch über die Jahre bereits bekannt wurde. Diesen Schatz an oft vergessenen oder verstreuten Informationen wollte ich heben und mit eigenen Recherchen ergänzen – ohne den Schutz der Privatsphäre zu verletzen.

      Merkel selbst hat oft genug betont, dass sie eigentlich nur in ihrer politischen Arbeit beobachtet und bewertet werden möchte. Sie hat aber bereits vor ihrer Kanzlerschaft eingeräumt, dass eine völlige Abschottung des Privaten in der heutigen Mediengesellschaft nur begrenzt möglich sein wird. Im typischen Merkel-Stil sagte sie 2005, also nach immerhin schon 15 Jahren Erfahrung in der bundesrepublikanischen

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