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Wer die Ruhe hat, hört die Stille. Manuela Nemes
Читать онлайн.Название Wer die Ruhe hat, hört die Stille
Год выпуска 0
isbn 9783969405352
Автор произведения Manuela Nemes
Издательство Автор
Sie öffnete das Geschenk, schaute Theo an, sah das Geschenk an, blickte mich an, sah meine Eltern an, schaute abermals das Geschenk an und begann mit gesenktem Kopf zu heulen. Isi richtete mit ausgestreckter Hand das Geschenk gegen ihren Mann und meinte, sie wolle da nicht hin und Theo müsse da gar nicht mehr hin, weil er das Hotel schon vor drei Wochen mit seiner Sekretärin erkundet hatte. Ich sah blitzschnell zu Tom und Jerry, die zum Glück gerade ihre Kopfhörer aufhatten und ihre neuen I-Pads ausprobierten. Sie bekamen von der Situation nichts mit. Theo versuchte sich vor der versammelten Familie zu erklären, während ich die Jungs in ihr Zimmer schickte, das früher einmal ihrem Vater gehörte.
Theo beteuerte, dass Isi ihm verziehen hätte, was sie auch bestätigte, aber sie könnte es eben nicht so schnell vergessen. Meine Schwägerin konnte sich nach einigen Minuten wieder beruhigen, bedankte sich bei mir für das Geschenk und merkte an, dass ich von den Eskapaden ihres Mannes ja nichts wissen konnte. Ich bot ihr an, den Gutschein selbst einzulösen, obwohl ich in dem Moment nicht wirklich wusste, mit wem ich in ein Romantikhotel hätte fahren können. Sie nahm das Angebot dankend an und ich versprach ihr stattdessen einen Massagegutschein, worüber sie sich sehr freute.
Mutter unterbrach das Dilemma und wies uns darauf hin, dass es Zeit war zu essen. Sie stellte das Essen und Vater die nichtgekühlten Bierflaschen auf den gedeckten Tisch. Theo rief seine Jungs, die natürlich nichts hörten, weil sie ja die Kopfhörer immer noch aufhatten. Also holte er sie auf den zweiten Anlauf persönlich aus dem Zimmer. Wir alle setzen uns an den Tisch, Theo gab Isi einen Kuss auf die Wange und jeder griff hungrig zu. Nach der herrlichen Weihnachtsjause schlief mein Vater müde auf dem Sofa ein, Mutter und ich räumten die Küche auf und Theo und seine Familie gingen nach Hause. Sie wohnen nur fünf Gehminuten von unseren Eltern entfernt.
Meine Mutter und ich sahen wie jedes Jahr unseren Lieblingsfilm an, tranken Eierlikör dabei und schlemmten ihre selbstgemachten Kekse.
Nachdem der Film zu Ende war, weckte meine Mutter ihren Mann auf dem Sofa auf und beide gingen zu Bett. Ich ging mit einem vollkommen überfüllten Magen und einmal tief ein- und ausatmend ebenfalls in mein altes Kinderzimmer und legte mich schlafen.
Am nächsten Morgen fuhr ich nach einem guten Frühstück wieder nach Hause – zu mir nach Hause, nichts ahnend, was mich in den darauffolgenden Tagen noch alles erwarten würde.
2. ENDLICH BEI MIR
Der 25. Dezember fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag. Während der Fahrt hörte ich natürlich wieder alle Hits im Weihnachtsradio und sang den einen oder anderen Refrain lautstark mit – gut, ich sang alle mit und genoss es, meine eigenen Texte an Stellen zu singen, an denen zum Beispiel nur ein Gitarrensolo zu hören war. Die Zeit verging dadurch relativ schnell und ich dachte daran, mir in meinem Wohnort bei der Tankstelle, die als einzige offen hatte, eine Tafel Schokolade zu kaufen. Schließlich war Weihnachten und den restlichen Tag wollte ich damit verbringen, vor dem Fernseher zu liegen und mir eine Episode nach der anderen meiner Lieblingsserie reinzuziehen.
Da ich eher der süße als salzige Typ bin was Essen anbelangt, kamen gesalzenen Kartoffelchips oder dergleichen für mich nicht infrage. Ich überlegte auch noch, mir eine Flasche Prosecco zu kaufen, denn schließlich gehört Essen, egal welches, auch runtergespült. Ich hielt also an der Tankstelle, wo Sascha, ein ehemaliger Schulkollege meines Bruders seit zwei Monaten arbeitete, an. Sascha war früher oft bei uns daheim gewesen.
Er und Theo fanden früher in mir das perfekte und eigentlich auch das einzig mögliche Opfer für ihre Versuchsreihe „Brudertoleranz“, in der es, wie der Name schon sagt, darum ging auszutesten, wie tolerant ich meinem Bruder gegenüber sein konnte. Mit ihren nachmittäglichen privaten Rockparties in Theos Zimmer konnte diese Toleranzgrenze ziemlich niedrig sein. Nichts konnte ich aufgrund des Lärms mehr tun: Weder lernen, oder lesen, noch Hausaufgaben machen. Je mehr ich mich wegen der Lautstärke beschwerte, desto lauter wurde die Musik und die beiden genossen meinen Ärger. Meine Frustgrenzen zeichneten die beiden in ihrem eigens angefertigten Statistikpapier ein.
Diese Aufzeichnung schenkte mir Theo zu meinem dreißigsten Geburtstag zusammen mit Lautsprecherboxen, die ich mir für meinen Standcomputer gewünscht hatte. Die Boxen hatte ich freudig an den Computer angeschlossen und die Statistik ebenso genüsslich verbrannt. Schließlich hab ich im Jänner Geburtstag und da muss man einheizen und mein schwedischer Ofen verträgt nun mal nur Holz und Papier. Und dieses Stück Papier brannte ziemlich gut. Sascha und Theo waren eben pubertäre Jungs, die sich damals nicht bewusst gewesen waren, und vermutlich bis heute auch noch nicht sind, dass das Karma sie irgendwann einholen würde, was es mittlerweile anscheinend auch schon getan hatte: Der eine wurde mit der Sekretärin erwischt und der andere arbeitete trotz eines Studienabschlusses an der Tankstelle.
Ich stellte den Wagen neben einer Zapfsäule ab, stieg aus und betrat den Tankstellenshop. Sascha begrüßte mich freundlich und ich ihn ebenfalls. Ich ging durch die Regalreihen und als ich mir gerade eine Tafel Schokolade aus dem Regal nehmen wollte, lachte mich eine Packung mit gesalzenen schokoüberzogenen Erdnüssen an. Die hatte ich echt lange nicht mehr gegessen, also entschied ich mich für diese. Ich mag zwar nichts Salziges an und für sich, aber die Kombination aus Schokolade und Salz fand ich irgendwie immer schon besonders interessant. Ich nenne das immer „Junkfood süß-sauer“. Ich entschied mich also für die Nusspackung, denn schließlich würden die Erdnüsse ohnehin besser zum Prosecco passen. Ich nahm auch eine kleine Flasche Sprudelwein und nicht eine große, denn ich musste es ja nicht übertreiben. Mit den beiden Nahrungsergänzungsmitteln ging ich zur Kasse.
Da im Moment niemand in dem Shop war außer uns beiden, redeten wir kurz miteinander. Das war das erste Gespräch seit langem zwischen uns, denn wir hatten uns Jahre nicht gesehen und an der Tankstelle hatten wir bisher nie die Gelegenheit für ein paar Worte gehabt.
Sascha fragte mich, wie es mir ginge und ich meinte kurz und knapp: „Gut!“
Der Höflichkeit wegen stellte ich die Frage zurück und er antwortete: „Danke, auch wieder gut!“
„Was meinst du mit ‚Auch wieder gut’?“, fragte ich verwundert.
Er erzählte mir, dass er nach seinem Studienabschluss in Betriebswirtschaftslehre einen sehr guten Job erhalten hatte, den er ein Jahr lang ausübte. Durch seine Verlässlichkeit und Fähigkeiten schaffte er es nach diesem Jahr, dass ihm eine noch bessere, aber verantwortungsvollere Arbeit innerhalb desselben Betriebes angeboten wurde, die er weitere vier Jahre ausübte. Die Verantwortung wurde also größer, die Arbeit und der Druck mehr, die Zeit für ordentliche Mahlzeiten und Privates weniger und so schlitterte er in ein Burn-Out. Volles Programm: Dauermüdigkeit, Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit, Sinnlosigkeit …, alles, was es quasi mit -keit gibt, außer Fröhlichkeit. Nachdem er selbst realisiert hatte, in welchem Zustand er sich befunden hatte, entschloss er sich, einen radikalen Schnitt zu machen. Er kündigte seinen Job, denn Geld hatte er zur Überbrückung für seine Auszeit genug, und gewann seine Gesundheit durch regelmäßige und ausgewogene Mahlzeiten, viel Bewegung und Ausübung seiner Hobbys wieder zurück.
An diesem 25. Dezember wusste er noch nicht, was er zukünftig machen würde, aber die Arbeit an der Tankstelle passte zurzeit ganz gut für ihn.
„Wie gesagt: Mit geht es wieder gut!“, meinte er mit einem sympathischen Lächeln in seinen Mundwinkeln. „Hier habe ich keinen Stress, also nicht, was ich unter Stress verstehe, und bin mehr oder weniger mein eigener Herr in diesem Laden. Ewig mache ich das natürlich nicht, aber ich lasse alles auf mich zukommen.“
Wow! Nach seinen Erzählungen fühlte ich mich irgendwie innerlich schlecht. Anscheinend hatte ihn das Karma schlimmer getroffen, als ich es ihm je gegönnt hätte, aber er schien, so wie er redete und vor mir stand, zufrieden und glücklich zu sein.
„Und was geht bei dir so?“, wollte er von mir wissen.
„Du,