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Mitschüler lassen keine einzige Gelegenheit aus, Jaspers Vorliebe für Lyrik als Zielscheibe für Hohn und Spott zu nutzen. Vom traditionellen Tafelbild bis zu Facebook und Twitter sind ihnen alle Mittel recht, um ihn zu verletzen. Wenn er sich mit Horrorgeschichten oder Mystery-Romanen gut auskennen würde, das wär' immerhin cool… Die Mädchen zeigen da etwas mehr Toleranz. Im Sportunterricht kann er auch nicht glänzen, ganz im Gegenteil. Die anderen hänseln ihn grausam wegen seiner Unsportlichkeit und hier mischen auch die Mädchen völlig unbekümmert mit.

      Zu Hause tratschen Anne und Thore alleine über Nachbarn und Arbeitskollegen, als Eltern hören sie Ina und Markus aufmerksam zu, wenn sie umständlich versuchen, kleine Anekdoten aus der Schule zu erzählen und gemeinsam lachen sie ausgelassen.

      Ausgiebig prahlt Markus mit kleinen Trainingsfortschritten und Ina wünscht sich sehnlich Musikunterricht. Nur fällt es ihr schwer, sich für ein Instrument zu entscheiden. Bisher weigert sie sich beharrlich, dem Rat der Musikschule zu folgen und mit einer Blockflöte zu beginnen.

      Demnächst wird Thore befördert und er kann sein Glück kaum fassen, nur Anne hat Sorgen.

      Ihr Arbeitsplatz fällt eventuell einer Rationalisierungsmaßnahme zum Opfer. Doch sie zwingt sich zum Optimismus und sagt sich immer wieder: „Du bist eine Bäckereifachverkäuferin und du hast schon viele Jahre Berufserfahrung, ganz klar, du findest sofort wieder eine neue Stelle.“

      Jeden Abend macht Thore ihr Mut, so gut er eben kann.

      Jasper muss richtig leiden, er ist der Blitzableiter für alle. Es ist ganz einfach, sich über Jaspers Liebe zu Gedichten lustig zu machen und so reißt auch die Familie bösartige Witze. Doch immer häufiger ignorieren die Familienmitglieder ihn einfach in seiner Traurigkeit und Jasper fühlt sich so unsichtbar als trüge er eine Tarnkappe.

      Viel Zeit verbringt er allein in seinem Zimmer und weint.

      An einem Dienstag geht Jasper in der ersten, großen Pause von der Schule einfach nach Hause, ohne dass es jemand bemerkt.

      Jasper schwänzt jetzt oft den Unterricht.

      Auf dem Heimweg trödelt Jasper, in der Hand hält er einen Info-Brief an die Eltern, der detailliert Auskunft über eine mehrtägige Klassenreise gibt. Ernsthaft überlegt er, den Brief einfach verschwinden zu lassen. Das geht aber nicht, der Brief soll in drei Tagen von einem Elternteil unterschrieben, an Frau Rieck zurückgegeben werden. Diese Klassenreise empfindet Jasper als eine Katastrophe, er will unbedingt zu Hause bleiben und weiß nur nicht, wie er das anstellen soll. Er läuft immer langsamer.

      „Na, du heulender Dichter? Freust du dich auch schon auf die Klassenfahrt?“ Tim, der beste Fußballspieler der Klasse, überholt ihn lachend auf dem Fahrrad. Ein kräftiger, schmerzhafter Tritt befördert Jasper vom Fußweg auf die Straße.

      Die drei anderen Jungen, die Tim ständig begleiten, brüllen vor Lachen. Sie brennen schon darauf, Jasper Tag und Nacht schikanieren zu können.

      Langsam schlurft Jasper zurück auf den Fußweg, Schmerzen zeigt er nicht, das macht alles nur schlimmer. Hektische rote Flecken breiten sich auf Gesicht und Hals aus.

      Zu Hause legt er den Info-Brief einfach auf den Küchentisch und geht still nach oben in sein Zimmer. Zu melancholischer Musik legt er sich mit seinem liebsten Gedichtband aufs Bett.

      Als Anne abgehetzt vom Einkaufen kommt, findet sie den Info-Brief. Sofort ruft sie nach oben: „Jasper? Kommst du mal runter?“ Minuten vergehen, während Anne die Lebensmittel verstaut. „Jasper! Wo bleibst du? Ich möchte mit dir reden.“ Endlich hört sie Schritte auf der Treppe. „Hallo, Jasper, ich hab' den Info-Brief gefunden. Ihr geht auf Klassenfahrt?“ Sie blickt flüchtig auf. „Du hast ja schon wieder geweint. Was ist denn los? Klassenfahrten sind doch toll.“

      Jasper zögert, dann sagt er leise: „Ich möchte nicht mitfahren. Kann ich nicht solange in die Parallelklasse gehen? Ich helfe dir auch mehr im Haushalt.“

      Irritiert sieht Anne ihren Sohn an. „Du gehst also freiwillig zum Unterricht, nur damit du nicht an der Klassenfahrt teilnehmen musst?“

      Jasper nickt, Anne wird ärgerlich. „Weißt du eigentlich, dass deine Klassenlehrerin mich angerufen hat, weil du schwänzt?“

      Jasper zuckt zusammen und sinkt auf den nächsten Küchenstuhl.

      „Und deine schlechten Noten hast du uns auch nicht gezeigt. Warum? Willst du sitzen bleiben, oder was?“

      Über Jaspers Gesicht beginnen wieder Tränen zu laufen. „Jasper, heul' nicht wieder. Davon wird's nicht besser. Du gehst ab jetzt wieder regelmäßig zur Schule, verstanden? Und reiß' dich zusammen.“

      Jasper nickt kläglich.

      „Brauchst du Nachhilfe oder schaffst du das alleine?“

      Schniefend schüttelt er den Kopf.

      „Dann sind wir uns ja einig. Ich besprech' das noch mit Papa. Die Klassenreise machst du mit, das ist klar. Auch wenn die ziemlich teuer ist.“ Sie ringt sich ein Lächeln ab und blickt auf die Uhr.

      Während er langsam an seiner Mutter vorbeigeht, sagt Jasper: „Wenn ich auf Klassenfahrt gehen muss, bring ich mich um!“

      Anne lacht: „Klar, Jasper! Erst die Parallelklasse und jetzt Selbstmord. Die anderen fahren doch auch alle mit, oder?“

      Jetzt hat sie es eilig und muss noch schnell das Mittagessen vorbereiten. Immer dieses blödsinnige Gerede.

      Heute Abend mit Thore kann sie bestimmt schon wieder darüber scherzen, ganz bestimmt.

      Jasper geht die Treppe nach oben. Zum ersten Mal schließt er sich in seinem Zimmer ein.

      Mai 2000

      Es ist ein strahlend schöner Maimorgen, schwungvoll betritt Frau Rieck den Klassenraum.

      In der letzten Woche hat sie mit ihrer Klasse vereinbart, dass heute die unterschriebenen Abschnitte der Infobriefe auf dem Pult für sie bereit liegen sollen.

      Frau Rieck ist gespannt, ob die Jugendlichen sich an die Absprache gehalten haben.

      Eltern haben sich nicht mit Rückfragen gemeldet, vielleicht passiert das ja auch erst an dem Elternabend, direkt vor der Klassenreise.

      Nach der Begrüßung wartet sie kurz, bis sich das Stimmengewirr legt.

      Alina, die ganz vorne sitzt, meldet sich mit einer umständlichen Erklärung, dass sie den unterschriebenen Zettel zu Hause vergessen hat.

      Schnell zählt Frau Rieck den Stapel mit den Briefabschnitten durch, der tatsächlich auf dem Pult bereit liegt. Die Anzahl stimmt nicht, ein weiterer Abschnitt fehlt. Sie zählt noch einmal und kommt exakt zum gleichen Ergebnis.

      Mittlerweile unterhält sich die Klasse leise.

      Frau Rieck sieht auf und bevor sie etwas sagt, schaut sie noch einmal langsam durch die Reihen. Das fehlende Papier liegt mitten auf Jaspers Tisch. Die Lehrerin steht auf und geht zu ihm, freundlich fragt sie: „Warum hast du deinen Abschnitt nicht abgegeben, Jasper?“

      Jasper sieht sie unendlich traurig an, sagt nichts.

      Die ersten Mitschüler kichern.

      Frau Rieck streckt die Hand nach dem Stück Papier aus, doch Jasper ist schneller.

      Er knüllt den Briefabschnitt blitzartig zusammen, lässt ihn in seinem Mund verschwinden, kaut kurz und schluckt ruckartig.

      Die Klasse tobt vor Lachen.

      „Ruhe! Sofort!“, schreit Frau Rieck. Die Heiterkeit beruhigt sich nur langsam. Sehr leise fährt sie fort: „Jasper, ich möchte nach der Stunde mit dir sprechen, ja?“

      Jasper nickt mit unbewegtem Gesicht, auf dem sich wieder hektische, rote Flecken ausbreiten.

      Die Lehrerin dreht sich um und versucht, so routiniert wie möglich in die Deutschstunde zu starten.

      Die Schulklingel ertönt zur Pause, gleichzeitig bricht ohrenbetäubender Lärm

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