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      Unter der Frankenburg war der Herbst eingezogen. Wolf Hetzer streckte sich gemütlich vor seinem Kaminofen aus und hielt die feuchten Wollsocken in die Wärme. Er hätte Gummistiefel anziehen sollen, dachte er, aber wie gewöhnlich war er in seine Lieblingsschuhe gestiegen und hatte nicht weiter darüber nachgedacht, dass Waldwege feucht sein könnten. Vor allem Wege, wie Gaga sie liebte. Seine Schäferhündin war in allem eine Lady, aber eben ein bisschen gaga. Die Sängerin war nach ihr benannt. Darauf bestand Hetzer, denn seine Hündin trug den Namen zuerst.

      Mittlerweile waren die Socken zwar warm, feucht waren sie aber immer noch. Mit einem Seufzer stand Hetzer auf, streifte sie sich von den Füßen und ging auf Zehenspitzen nach oben ins Schlafzimmer. Der Steinfußboden war trotz des Ofens kalt, da waren die Holzdielen im Schlafzimmer eindeutig angenehmer. In der Schublade ging der Sockenvorrat gegen null. Mist, ich muss waschen, dachte er und torkelte auf einem Bein, weil er mit dem Bund an der Hacke hängen geblieben war. Dabei wäre er fast auf Gagas Pfote gestiegen. Sie folgte ihm immer.

      Hetzer wohnte erst seit ein paar Wochen in Todenmann. Hinter dem Berg hatte er alles zurückgelassen. Die alte Kate am Waldesrand war ein wenig baufällig gewesen, als er sie Anfang des Sommers zu einem Spottpreis kaufte. Jetzt war er weit weg von allem, von der Vergangenheit und über den Berg, wenn man so wollte. Nach und nach hatte er Altes restauriert und Kaputtes ersetzt. Das hatte ihn abgelenkt von sich selbst. Dreieinhalb Räume mit Küche und Bad waren jetzt sein neues Zuhause. Er teilte sie mit Gaga, Emil und den beiden Katern. Letztere waren ihm geblieben – von ihr. Zwei Kater als Halbwaisen. Emil, der Ganter, hielt draußen Wache, darin stand er Gaga in nichts nach.

      Als es zu dämmern begann, streckte sich Hetzer gemütlich auf seinem Sofa aus und strich sich die krausen Haare aus dem Gesicht. Er hatte eben noch Holz nachgelegt und Emil in den Stall gebracht. Die Flammen tanzten hinter der Scheibe. Auf Gaga und ihm lag immer noch der Duft des Herbstes, feucht, leicht modrig und rau von der Nebelluft. Er dachte an den Wald, den er liebte und verdrängte das, was dahinter lag. Das Feuer machte ihn schläfrig und so döste er seinem ersten Arbeitstag im Rintelner Kommissariat entgegen.

       Der Pfarrer

       Am selben Abend, 21:56 Uhr

      Es klingelte. Josef war in seinem Ohrensessel über einem Buch und einem Glas Rotwein eingenickt. Jetzt streckte er sich, sah, dass die Standuhr beinahe zehn zeigte. Schwerfällig quälte er sich aus dem Sessel, alle Knochen taten ihm weh.

      Wer rief denn jetzt noch an? Weil er noch nicht ganz wach war, wäre ihm der Hörer fast wieder aus der Hand gefallen. Aber er erwischte ihn noch und riss ihn ans Ohr.

      „Guten Abend“, sagte die sanfte Stimme in der Leitung, „spreche ich mit Pfarrer Josef Fraas?“

      „Am Apparat!“

      „Ich werde mich umbringen.“

      Jetzt war Josef mit einem Schlag wach. Er war im Ruhestand. Dachte, dass er diese menschlichen Katastrophen hinter sich gelassen hatte.

      „Hören Sie, bitte, es gibt für alles eine Lösung, einen Ausweg. Wie heißen Sie?“

      „Es gibt nicht immer einen Ausweg, und wie ich heiße, tut nichts zur Sache. Mein Name gehört ohnehin nicht zu mir.“

      „Wer ist Ihr Seelsorger? Soll ich ihn für Sie anrufen? Gehören Sie zur Hamelner Gemeinde?“

      „In diesem Fall sind auf jeden Fall Sie mein ,Seelsorger’. Sorgen Sie sich um meine Seele?“

      „Dann kennen wir uns? Sind wir uns schon begegnet? Natürlich sorge ich mich um Ihre Seele, ich sorge mich um die Seele eines jeden Menschen. Vielleicht will Ihre heute gerettet werden.“

      „Wenn Sie wirklich etwas für meine Seele tun wollen, dann kommen Sie runter zur Weser. Ich bin direkt am Ende der Fontanestraße den Trampelpfad heruntergegangen und dann ein Stück flussabwärts. Hier ist es so schön einsam, wie geschaffen für einen Freitod. Aber lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit. Ich stehe schon mit den Füßen im Wasser, ich will nur die letzte Ölung.“

      „Warten Sie, es ist viel zu kalt, wir haben Oktober. Herrgott, Maria und Josef. Tun sie nichts Unüberlegtes. Ich bin gleich da und dann reden wir. Ich habe es nicht weit. Ich muss nur schnell was anziehen. In fünf, maximal zehn Minuten bin ich da. Ich bringe Ihnen eine Decke mit.“

      „Das wird nicht mehr nötig sein“, sagte die Stimme und legte auf.

      Jetzt hatte es Fraas eilig. Der Fremde meinte es ernst, er hatte keine Zeit mehr. Den Notruf wollte und konnte er auch nicht mehr verständigen, außerdem kamen die immer mit so viel Trara. Wer weiß, ob der Mann verschreckt werden würde. Dann konnte es zu einer Kurzschlussreaktion kommen. Nein, er musste da allein hin, und zwar schnell. Im Keller stieg er in seine Schuhe und seinen Wintermantel, griff die große Taschenlampe, warf sich eine Decke über die Schulter und ging so schnell er konnte in Richtung Fluss. Früher hätte er rennen können, aber das ließen seine alten Knochen nicht mehr zu, er war schon über siebzig. Vielleicht war es gut, dass der Fremde ihn angerufen hatte, immerhin hatte er Erfahrung mit Menschen in den schwierigsten Lebenssituationen.

      Der Weg hinunter zum Ufer war für ihn eine Herausforderung. Ohne Taschenlampe wäre er sicher gestürzt, hier war es stockfinster. Nur manchmal riss die Wolkendecke durch den starken Wind auf. Da brachte der Mond wenig Licht.

      Es war fast Neumond.

      „Hier bin ich“, raunte die sanfte Stimme nahe dem Flussufer.

      Der Mann stand tatsächlich im Wasser.

      „Kommen Sie raus, lassen Sie uns in Ruhe reden.“

      „Wir können auch so reden. Was möchten Sie mir denn sagen?“

      „Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie – egal was Ihnen passiert ist – immer wieder Freude am Leben finden können. Es wird auch wieder schöne Tage geben.“

      Ein Lachen durchriss den Sturm. Es war mehr ein Schreien, das nur langsam über dem Flussbett verhallte.

      „Das sind leere Worte, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie leer diese Worte sind – vor allem für mich. Alles Phrasen, alles Geplapper. Haben Sie nicht mehr zu bieten?“

      „Sie müssen mir erklären, was Ihnen geschehen ist. Ich möchte Ihnen so gerne helfen. Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, was passiert ist.“

      „Oh, das sollten Sie aber genau wissen, denn Sie sind dafür verantwortlich. Sie gehören zu den Menschen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Es war Ihre Entscheidung, Ihr Rat. Sie sind ein Teil des Gerichts gewesen, das über mich geurteilt hat. In diesem Moment haben Sie meine Seele zerstört und darum ist sie jetzt auch nicht mehr zu retten.“

      Der Fremde machte einen Schritt rückwärts und stand jetzt bis zu den Knien im Wasser.

      „So warten Sie doch! Bitte lassen Sie mich Ihnen helfen. Wie kann ich das Unrecht wiedergutmachen, das Ihnen geschehen ist. Was um Himmels willen habe ich denn getan ...?“

      Fraas dachte nach. Sicher hatte er in seiner Amtszeit Fehler gemacht. Und ganz bestimmt war sein Rat nicht immer der richtige gewesen. Aber er hatte stets in guter Absicht, im Sinne Gottes gehandelt. Das musste ihm der Fremde doch glauben.

      „... bitte sagen Sie mir, was damals passiert ist, ich möchte Ihnen wirklich helfen. Bitte!“

      „Dann müssen Sie zu mir kommen. Ich kann es nicht laut sagen. Es muss im Verborgenen bleiben. Niemand darf es wissen.“

      „Hier kann Sie doch niemand hören. Meinen Sie, dass ich zu Ihnen ins Wasser kommen soll? Hier ist doch niemand. Ich bin alt, meine Füße werden nass. Es ist schon so bitterkalt. Bitte nehmen Sie Rücksicht und kommen Sie ans Ufer.“

      „Auf keinen Fall. Wenn Sie nicht kommen, haben Sie auch noch den Rest meiner armseligen Seele auf dem Gewissen. Ich gehe jetzt weiter rein. Meine Unterschenkel spüre ich schon nicht mehr.“

      „Halt!“,

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