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waren es Blesshühnchen, die an dem trüben Vormittag auf der Havel herumpaddelten. Kleine, schwarze Vögelchen mit einem weißen Fleck, eben der Blesse, überm Schnabel. Hastig schwammen sie in der kleinen Ausbuchtung der Havel hin und her. Der Grund für ihre Aufregung war eine große, dunkle Gestalt am Ufer. Aus einem alten Baumwollbeutel holte der Mann im Mantel Brotreste hervor, zerkleinerte sie bedächtig und warf sie ins Havelwasser. Jedes Mal, wenn er wieder eine Handvoll Brösel mit Schwung ins Wasser beförderte, stürzten sich die Blesshühnchen gierig auf die Leckerbissen.

      Es war einer dieser kalten, trüben Dezembertage, die bei vielen Menschen eine Winterdepression hervorriefen. Auch die Aussicht auf die nahen Feiertage konnte das unbestimmte Gefühl von Melancholie nicht lindern.

      Der Mann, der am Ufer stand und den schwarzen Vögelchen bei ihrer Hatz nach den Brotkrumen zusah, hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen. Seine Miene war nur zu erahnen. Die Brille verwehrte den direkten Blick in seine Augen.

      Er kam nun schon seit drei Wochen jeden Vormittag an diese Stelle. Mal waren Stockenten da, mal kamen auch ein paar stattliche Havel-schwäne vorbei, Blesshühnchen gab es immer. Möwen segelten über dem Futterplatz und fischten ebenfalls nach den begehrten Happen. Ein Beobachter, falls es ihn den gäbe, bekäme den Eindruck, dass sich hier ein Ritual vollzöge. Alle Handgriffe des Entenfütterers wurden bedächtig und sorgfältig gemacht, als ob es gälte, einem omi-nösen Flussgott zu opfern, dessen Diener, als Vögel verkleidet, die Opfer-gaben freudig annahmen. Fast eine Stunde stand der Mann am Ufer und beobachtete die Wasservögel bei ihrem Tun. Wind bauschte seinen Mantel wie ein dunkles Segel. Erstaunlicherweise saß der schwarze Hut fest auf seinem Kopf und schien den physikalischen Gesetzen zum Trotz dem Havelwind keinerlei Widerstand entgegenzusetzen.

      Ein Blick auf die Armbanduhr, der Entenfütterer rollte seinen Baum-wollbeutel zusammen und spazierte Richtung Glienicker Brücke weiter.

      Etwas hatte seine Aufmerksamkeit gefordert. Drüben am anderen Havelufer, auf der Glienicker Seite, die bereits zur Stadt Berlin gehörte, waren Blaulichtfahrzeuge auf der Havelpromenade zu sehen. Das nervöse Aufzucken der blauen Rundumleuchten zerstörte die stille Harmonie des trüben Dezembertags. Missmutig wandte sich der Entenfütterer ab.

      Kein Tag ohne Blaulicht!

      Er hasste inzwischen die Fahrzeuge, obwohl er wusste, dass ihr Einsatz über Leben und Tod entscheiden konnten. Aber es waren einfach zu viele geworden. Früher gab es mal ein oder zwei Einsätze, die durch die Straßen Berlins jagten. Jetzt kamen sie im Stundentakt. Als ob der normale Verkehr nicht schon genug für Hektik sorgte!

      Kopfschüttelnd bröselte er die letzten Krumen ins dunkle Havelwasser und stapfte davon. Inzwischen waren neben den roten Feuerwehrfahrzeugen auch weiße Rettungsfahrzeuge eingetroffen. Er konnte die silber-grünen Autos der Berliner Polizei erkennen. Es schien wohl doch ein mittlerer Katastropheneinsatz zu sein.

      Wer weiß, vielleicht war ein unvorsichtiger Mensch ins kalte Havelwasser gefallen. Einen Verkehrsunfall konnte man an diesem Ort ausschließen. Die kleine Havelpromenade war nur für Radfahrer und Fußgänger zugänglich.

      Der Entenfütterer kannte die andere Uferseite ebenso gut wie die hiesige. Ihm war das gesamte Areal vertraut. Er liebte die Gegend, die geprägt war von den prächtigen Kulissen der Hohenzollernschlösser und der dazu gehörigen Parklandschaften. In den Hochglanzprospekten der Tourismusbranche wurde die gesamte Region auch als das preußische Arkadien bezeichnet.

      Der Mann im schwarzen Mantel wusste über die Bezeichnung der Unterhavelseenlandschaft Bescheid. Er verfolgte die Publikationen zu den alten preußischen Bauten in Potsdam, Berlin und deren Umgebung aufmerksam. Bei seinen Spaziergängen durch die Parklandschaft kehrte er oft in den kleinen Souvenirläden ein. Die Verkäuferinnen kannten ihn. Jedes Mal, wenn etwas Neues auf dem Markt erschien, benachrichtigten sie ihn. Dankbar kaufte er alles, was ihm angeboten wurde. Zuhause hatte er innerhalb von zehn Jahren eine beachtliche Bibliothek aufgebaut.

      Aber im Moment war das nicht so wichtig. Der Entenfütterer war unglücklich. Alles hatte für ihn seine Bedeutung verloren. Der große Mann fühlte sich leer und ausgebrannt. Eine Erkenntnis, die außer ihm selbst noch niemand bemerkt hatte. Sein Äußeres wirkte wie immer auf seine Mitmenschen vollkommen harmonisch und ausgewogen. Weder sein Gesichtsausdruck noch seine Körpersprache verrieten seinen inneren Zustand.

      Seine Situation hatte etwas mit seinen Nachmittagsterminen zu tun. Jeden Tag fuhr er mit der S-Bahn von Potsdam zurück nach Berlin-Mitte, stieg im Bahnhof Friedrichstraße aus und lief ins Charité-Viertel. Dort lag in einem Zimmer der Neurologie eine Frau. Kabel führten zu diversen Apparaten, die auf kleinen Displays zitternde Kurven erzeugten und ein Sauerstoffschlauch sorgte für Luftzufuhr. Die Frau lag im Koma.

      Pünktlich um Sechzehn Uhr erschien der Entenfütterer in ihrem Zimmer, setzte sich behutsam auf den blauen Kunststoffstuhl, der als einziges Mobiliar im Raum stand. Dann saß er da, beobachtete die Frau zwischen den Kabeln, legte ab und zu mal seine Hand auf ihre Schulter, darauf hoffend, dass sie seine Nähe spüre.

      Doch es passierte nichts. Das Wunder blieb aus.

      Die Frau blieb stumm in ihrem unheimlichen Schlafzustand. Der Mann spürte die Ohnmacht gegenüber dem medizinischen Patt. Weder lebendig noch tot – ein unerträgliches Zwischenstadium, immer wieder Hoffnung erzeugend, die jedoch täglich bei jedem Besuch Zunichte gemacht wurde. Der Mann auf dem blauen Stuhl wusste nicht, wie lange er das noch so durchhalten würde.

      Etwas war an dem trüben Dezembernachmittag jedoch anders. Gerade als der große Mann den Raum verlassen wollte, kamen zwei weitere Besucher in das Zimmer.

      Ein zwölfjähriger Junge und eine Frau, vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig. Bisher war außer ihm noch nie jemand zu dieser Uhrzeit erschienen. Der Junge war ihm bekannt, es war der Sohn der Frau im Krankenlager. Doch die Frau in seiner Begleitung kannte er nicht, dennoch erinnerte ihn ihr Gesicht. Sie war ziemlich groß, trug eine Brille und eine Wollmütze. Sie schaute den Mann im Zimmer fragend an. »Nanu? Besuch?«

      Er war geschockt. Was da vor ihm stand war eine ziemlich originalgetreue Kopie der Frau im Bett. Nicht ganz so groß, etwas kräftiger und mit rotblondem Haar, das unter der Mütze in üppigen Locken hervorquoll, aber ansonsten der Frau im Koma zum Verwechseln ähnlich. Sie lächelte den Mann an. »Oh, wir dachten …«

      Der Junge lächelte ihn kurz an. »Tante Charlotte, das ist er. Das ist Theo Linthdorf.«

      Die Frau versuchte ebenfalls ein Lächeln. »Louise hat mir von Ihnen erzählt. Schön, Sie endlich mal kennenzulernen. Allerdings, unter diesen Umständen wollte ich nicht …« Sie stockte. Das Lächeln war wieder aus ihrem Gesicht verschwunden.

      Linthdorf wunderte sich. Louise hatte ihm gegenüber bisher nicht erwähnt, dass sie eine Schwester hatte. Er beeilte sich, den Hut vom Kopf zu reißen und ihr seine Hand entgegen zu strecken. »Linthdorf, Theo Linthdorf mein Name. Ich habe ihre Schwester …«

      Sie unterbrach ihn: »Ja, ich weiß. Rauchfuss. Charlotte Rauchfuss. Ich bin Louises Schwester. Wir sind nur zwei Jahre auseinander. Ich kümmere mich um Bastian, also, jemand muss sich ja um den Jungen kümmern …«

      Er nickte und schaute etwas ratlos auf die beiden Besucher. »Ja, also, ich muss dann mal wieder … Also, dann … Frohe Weihnachten! Auch wenn’s im Moment nicht ganz so … Also, ja! Auf Wiedersehen.«

      Linthdorf bemerkte, dass er Probleme hatte, sich halbwegs zu artikulieren. Er war im Augenblick nicht in der Verfassung um geistvolle Konversation zu betreiben. Die Frau schien Verständnis für sein Gestammel zu haben. Ihr war die Situation ebenfalls entglitten. Auf die Anwesenheit eines Mannes im Zimmer ihrer Schwester war sie nicht eingestellt. Erleichtert verabschiedete sie sich von Linthdorf, erwiderte die Weihnachtsgrußfloskel und sah dem enteilenden Riesen hinterher.

      Linthdorf rannte fast aus dem Krankenhaus. Die Begegnung hatte ihm noch einmal schmerzlich vorgeführt, wie sehr ihn die vergangenen Ereignisse emotional mitgenommen hatten. In dem Moment, als er der Schwester Louises ins Gesicht sah, hatte er einen tiefen Schmerz gespürt, eine Art Stich, der quer durch alle inneren Organe zog. Ob es die Ähnlichkeit mit Louise war oder die unerwartete Begegnung mit einem

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