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Womöglich ist das auch der Grund, weshalb ich mich noch aufs Jota an den Wortlaut seiner Erzählungen erinnere, obwohl inzwischen auch schon wieder über vier Jahrzehnte ins Land gegangen sind, seit er mir die Geschichte anvertraute.

      Andere historische Quellen wollen, wie mir inzwischen zu Ohren gekommen ist, glauben machen, dass nicht der Kaiser es war, der Margarethe Krupp in die Jenaer Psychiatrie verbringen ließ, sondern ihr Gatte Friedrich Alfred. Wenn auch auf des Kaisers Anraten hin! Dieser soll Krupp mitgeteilt haben, dass man in Berlin weniger ihn, Friedrich Alfred, denn vielmehr seine Frau Margarethe als die eigentliche Gefahr betrachte. Könne doch nicht ausgeschlossen werden, dass sie, verletzt und gedemütigt, wie sie augenscheinlich sei, querschieße bei den ohnedies höchst diffizilen Bemühungen, den um seine, Krupps, Person brodelnden Gerüchtesumpf trockenzulegen und das ganze Debakel in ein anderes, ins rechte Licht zu rücken.

      Obwohl sich an dieser Stelle die Frage erhebt, ob denn tatsächlich angenommen werden kann, dass Friedrich Alfred in seiner desolaten Verfassung im Herbst 1902 derart unverfroren gegen seine Frau vorgehen würde. War seine Persönlichkeit nicht weit eher darauf ausgelegt, die Anwürfe gegen sich selbst zu richten und schleunigst die Flucht anzutreten? Selbst wenn der Fluchtpunkt sein eigenes Herz wäre.

      Unstrittig ist auf jeden Fall die Tatsache, dass die Krupps ein besonderes Verhältnis zu Professor Binswanger in Jena unterhielten, der seinerzeit als einer der Apologeten der zeitgenössischen Neuromedizin galt. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Margarethe Krupp einfach nur aus persönlicher Verbundenheit zu Binswanger gefahren ist, um sich Rat zu holen. Und nicht auf kaiserliche Weisung hin. Mag sein, mag alles sein.

      Aber noch einmal: Die mir seinerzeit von meinem Großvater übermittelte Variante mit der höchstkaiserlichen Einweisung ist – wenn auch vielleicht nicht bis in die letzte Verästelung hinein historisch belegbar – dramaturgisch um Längen interessanter und soll hier weiters unhinterfragt für bare Münze genommen werden.

      Dass jedenfalls Margarethe Krupp sich bis zum Tode ihres Mannes in Jena aufhielt, ist zweifelsfrei überliefert. So vermeldete die Rheinisch-Westfälische Zeitung am 24.11.1902 – Zitat: »Frau Krupp, welche seit längerer Zeit leidend ist und bei Prof. Binswanger in Jena in Behandlung war, traf Sonntagvormittag [...] auf dem hiesigen Hauptbahnhof ein.«

      Damit nun ist ein Punkt erreicht, wo nicht mehr zu übersehen ist, dass es hier in dieser ganzen verknoteten Geschichte aber auch nicht einen einzigen Beteiligten gab, der nicht mindestens einen guten Grund gehabt hätte, Friedrich Alfred Krupp ans Leder zu gehen! Angefangen von irgendwelchen zerstrittenen Clans auf Capri, über welchen düpierten Galan auch immer, bis hinein in die engste Familie und die höchsten Staats- und Industriekreise. Nicht einer, der nicht ernsthaft in Frage kommt! Fantasiegespinste meines Großvaters hin oder her.

       6

      Nein, natürlich hab ich von den Geschehnissen in Kaiser Wilhelms Audienzsaal zu dem Zeitpunkt damals nichts gewusst. Sind mir erst reichlich zwei Monate später zugetragen worden durch das besagte Loch im Zaun des kaiserlichen Palais, das genauer zu beschreiben der Vertrauensschutz meiner Informanten verbietet.

      Ich lief um jene Zeit, ahnungslos wie ich war, bei der Villa Hügel auf, nahm die zwei Stufen zum Eingangsportal in einem Satz und knöchelklöpfelte gegen die schwere Tür. Es dauerte eine Ewigkeit, dann räusperte sich das Schloss und die Tür ging einen Spalt auf. Ich drückte den Rücken durch und bedeutete dem noch finstrer als sonst dreinblickenden Diener, er möge mich der Frau des Hauses melden.

      »Tut mir leid. Frau Krupp sind verreist«, knurrte der Diener unwillig, und als wenn er bemerkt hätte, dass er mit seiner abweisenden Haltung vielleicht doch ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen war, schob er schnell noch nach: »Zur Kur nach Jena.«

      Ich war platt. Derart platt, dass ich jede Contenance fahren ließ und entgeistert mehr krähte als fragte: »Wie, was heißt hier ›Kur‹? Davon hätte sie mich doch unterrichtet. Noch mal: Es ist dringend! Melden Sie mich sofo...!«

      Krawumm – da war die Tür ins Schloss gefallen. Unglaublich! Schlug dieser räudige Lakai mir, Fahrenhorst, Privatdetektiv im Auftrag seiner Herrin selbst, die Tür vor der Nase zu! Nicht zu fassen. Wenn das Portemonnaie ganz aus dem Häuschen ist, tanzen die Münzen auf dem Tisch. Wie’s aussah, war gnä’ Frau allerdings tatsächlich aushäusig, sonst hätte sich kein noch so kammgeschwellter Kammerdiener wie ein dermaßen unwirscher Gimpel betragen, nicht mal so einem zugegeben kleinen Licht wie mir gegenüber. Immerhin musste ihm wohlbekannt sein, dass Margarethe Krupp einen zumindest sporadischen Kontakt zu mir unterhielt.

      Und Frau Krupp also sollte’s beliebt haben, tatsächlich zur Kur zu fahren, während die Luft brannte!? Glaubt ja keiner. Gut gut, kannst recht haben, nicht auszuschließen, dass sie von der ersten Reaktion ihres feinen Herrn Gemahl tatsächlich nichts mitbekommen hat. Wie der sich mit Schreiben vom 27. Oktober bei von Richthofen, dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, ausheult und ihn um »Beistand in einer persönlichen Angelegenheit« angeht, weil ihm von einem »Socialisten-Blatt« unsägliche Schmach angetan worden sei, indem man unter der Schlagzeile »Capri-Sodoma« höchst blamable Anwürfe platziert, ihm die »gemeinsten und infamsten Laster« angedichtet habe. Und auch von der zwei Wochen später eingehenden Antwort aus Berlin, dass man ihm zu beharrlichem Schweigen rate, um nicht mit Kanonen nach Spatzen zu schießen und noch mehr Staub aufzuwirbeln. Mag sein, dass Margarethe auch davon nichts erfahren hat. Andererseits war sie ja aber durch mich und vorher schon durch die anonymen Briefe von der Sache selbst in Kenntnis gesetzt worden, und dass ihr Göttergatte urplötzlich den Firmenjustitiar mit der Wahrnehmung seiner Interessen betraut und sich verzieht, irgendeine Geschäftsreise vorgaukelt, keiner weiß wohin, keiner weiß wieso, das muss sie mitgekriegt haben! In so einer Situation also, da sollte sie freiwillig – mir nichts, dir nichts – die Fabrik, die Villa, die Töchter sich selbst überlassen? Und das, wo doch zu allem Überfluss das Ganze jetzt dick und fett im Berliner »Vorwärts« stand. Die Sozis hatten sich, wie gesagt, der Sache angenommen, mit sichtlichem Vergnügen. Und erzähl mir keiner, die gewiefte Margarethe hätte davon nicht Wind bekommen!

      »... der Geheime Kommerzienrat Krupp, Mitglied des preußischen Herrenhauses und kapitalistisches Kulturbild krassester Färbung, der reichste Mann Deutschlands hatte sich Capri gewählt, weil das italienische Strafgesetzbuch keinen besonderen § 175 kennt. In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa ...«

      Falsch. Blödsinn. Das weiß ich nun wirklich besser. Nicht: Villa. In der Grotte, da ist die Chose gestiegen!

      »... In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa huldigte er mit den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr. Das Mitleid aber, das das Opfer eines verhängnisvollen Naturirrtums verdient, muß versagen, wenn die Krankheit zu ihrer Befriedigung Millionensummen in den Dienst stellt. Nachdem die Perversität zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, erwägt man vielleicht jetzt die Beseitigung des § 175, der das Laster nicht ausrottet, aber das Unglück zur furchtbaren Qual verschärft.«

      Besagter § 175 war dreißig Jahre zuvor ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden und legte fest, dass »Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts« mit Gefängnisstrafen geahndet wurde. In ihrer ablehnenden Haltung zu diesem Paragraphen jedoch waren die Sozialdemokraten keineswegs widerspruchsfrei, bezeichneten sie Homosexualität doch als »widernatürliches Laster«, das typischerweise in den verzärtelten gehobenen Kreisen gepflegt werde. Wofür ihnen der Krupp-Skandal offenbar ein willkommener Beleg war.

      Und nach diesem »Vorwärts«-Artikel, während die Wogen meterhoch schlagen und längst über sämtliche Werksmauern schwappen, da soll eine Frau vom Schlag einer Margarethe Krupp in Kur gefahren sein?! Noch dazu nach Jena. Was denn bitte sehr wäre in Jena zu kuren?

      Noch am Tag ihres Erscheinens, am 15. November 1902, wurde die entsprechende »Vorwärts«-Ausgabe beschlagnahmt, und am Nachmittag des gleichen Tages stimmte der Reichskanzler persönlich einer Verleumdungsklage gegen Redaktion und Verlag zu. Was selbstredend keine großartige Wirkung mehr zeitigte; die Lawine war nicht mehr aufzuhalten.

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