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       Professor Georgii ist bereits ins Hotel Imperial gefahren, um sich auszuruhen.

       Vor Obersturmbannführer Mühsal habe ich Angst. Kaltenbrunner hat den Auftrag, Hanna Reitsch zu bespitzeln, er soll sie nicht aus den Augen lassen, während sie sich mit einem der Briten trifft, der für uns den Dolmetscher spielt. Alles in allem habe ich das Gefühl, jeder beobachtet jeden. Was als Segelflugexpedition begann, ist inzwischen Teil einer gewaltigen Propagandamaschinerie.

       Gleichzeitig will man wohl die Briten aushorchen und beobachten, wie groß ihre militärische Stärke in Südamerika ist.

       Kaltenbrunner wird alles tun, um der SS zu gefallen. Dazu wird er über Leichen gehen. Ich bin mal gespannt, was er als Nächstes tun wird, um an die Lorbeeren zu gelangen, die er braucht, um auf der Karriereleiter ein Stückchen höher zu klettern. Außerdem hat er ein Auge auf Hanna Reitsch geworfen. Bisher hat sie ihn ignoriert, aber ich weiß nicht, wie lange sie das noch schafft. Andererseits hätten wir Soldaten vermutlich unsere Ruhe, wenn Hanna mit Kaltenbrunner schäkern würde … Wie auch immer. Ich muss mich beeilen, Liebes, ich schreibe Dir bald wieder!

       Gruß und Kuss, Dein Heinrich

      Vorspeise

      Chaim Miller hatte sich einen Stuhl geschnappt und setzte sich rittlings vor den alten Mann im Rollstuhl, nachdem er ihn an einen Tisch des Speisesaals geschoben hatte. Duncan bestand nur noch aus Haut und Knochen. Aber in seinem bleichen, zusammengefallenen Gesicht blitzten hellwache Augen. Sie waren alleine, es war kurz vor zwölf, die Gäste des Hauses aßen gewöhnlich später zu Mittag.

      »So, so, im Rollstuhl. Wie haben Sie das denn geschafft, Mühlbauer?«, grinste Miller und nestelte aus seiner Trenchcoattasche eine Packung Marlboro hervor.

      »Rauchen verboten«, erwiderte Duncan stattdessen. Mit einem Seufzen steckte Miller die Zigarette wieder zurück.

      »Okay, also noch einmal von vorne. Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile, aber mir ist nicht aufgefallen, wie Sie im Rollstuhl gelandet sind.«

      Petersen tauchte auf. Er trug einen zerknitterten schwarzen Anzug, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Petersen beobachtete die beiden aus tränenden Augen, mit Ringen groß wie Wagenräder, und malmte mit dem zahnlosen Mund, wobei sich ein Speichelfaden selbstständig machte. Dann rülpste er lauthals. »Besuch aus Moskau?«, grinste er, auf Miller deutend.

      »Nicht dass ich wüsste«, antwortete Duncan. Seine Stimme war hart und klar.

      Petersen war in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Nach seiner Entlassung 1950 war er in den aktiven Polizeidienst zurückgekehrt. Er hatte ein paar Jahre lang das Dezernat für Einbruch und Diebstahl in Kiel geleitet, bis er bei einer Ermittlung auf einen ehemaligen Kriegskameraden gestoßen war. Wie er selbst Mitglied der Waffen-SS, aber nach dem Krieg auf der anderen Seite tätig, Kopf einer Diebes- und Hehler-Bande. Mertens mit Namen. Er erkannte Petersen und setzte ihn unter Druck. Petersen schaute daraufhin bei seinen Ermittlungen öfter mal weg, dumm nur, dass sein Chef den Deal bemerkte. Es kam zu internen Untersuchungen, bei denen am Ende die unehrenhafte Entlassung aus dem Polizeidienst stand. Petersen hatte Pech gehabt, andere wären befördert worden, es gab genug Seilschaften in der jungen Republik, die aus ehemaligen Nazigrößen bestanden. Danach fristete Petersen sein Leben als Wachmann einer Werft. Nachtschicht, viel Alkohol, eine gescheiterte Ehe und ein Sturz im Suff von der Reling eines aufgedockten Schiffes. Danach war es mit Petersen immer weiter bergab gegangen. Das Ende vom Lied war beginnende Demenz, ein Platz im Altersheim und nach einer Prostataoperation eine ständige Inkontinenz. Ein Sohn aus erster Ehe, inzwischen Chef im »Haus Meerblick«, konnte die Rechnungen nicht mehr bezahlen, die ihm das Altersheim schickte. Als Ausweg bot er Petersen ein Zimmer im Hotel und eine warme Mahlzeit am Tag an. Petersen lebte in der Vergangenheit, eine große Nummer im Krieg, Obersturmbannführer, für die Deportation tausender Russen in Kriegsgefangenenlager zuständig. Nach dem verlorenen Russlandfeldzug hatte man ihn und ein Dutzend anderer Soldaten erwischt und nach Sibirien verfrachtet. Adenauer war es gelungen, mit der russischen Regierung zu verhandeln und die noch lebenden deutschen Soldaten aus dem Lager zurückzuholen. Schon vor dem Krieg war Petersen ein Nazi aus Überzeugung gewesen, aber das Lager hatte ihn endgültig zum Russenhasser gemacht.

      Rio de Janeiro, 1934

      Das Hotel Imperial, ein dreistöckiges, stuckverziertes Jugendstilgebäude, stand am nordwestlichen Rand des Parks Campo de Santona und war das teuerste Etablissement am Platz. In Zimmer 302 der Nobelherberge starrte Josef Kaltenbrunner in den goldumrahmten Spiegel, der über dem Waschbecken aus Marmor in dem riesigen Badezimmer hing. Was er sah, machte ihn noch kränker als er bereits war. Grobe Poren und tiefe Narben, die eine jugendliche Akne hinterlassen hatte, bedeckten sein erhitztes rosiges Gesicht. Sein massiger Körper dampfte von der heißen Dusche, die er genommen hatte. Er spürte, wie eine Welle der Übelkeit in ihm hochstieg. Für einen kurzen Moment stützte er sich auf das Waschbecken und schloss die Augen. Er hatte seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, trotzdem hatte sein Gehirn nicht genügend Serotonin produziert, um seine tiefe Depression zu überwinden. Er fühlte nichts mehr, weder Wut über die Ablehnung, die er von Hanna erfahren hatte, noch freute er sich auf die Flüge, die ihnen bevorstanden. Er hatte seit 24 Stunden nichts mehr gegessen, trotzdem verspürte er keinen Hunger. Kaltenbrunner drehte sich um, ging ein paar Schritte und hielt sich am Türrahmen des Bades fest, als er merkte, wie seine Knie weich wurden. Er holte tief Luft und taumelte die letzten Meter zu seinem Bett, auf das er sich schwer atmend fallen ließ. Kaltenbrunner begann zu zittern, er rollte sich zusammen wie ein Embryo und zog die Bettdecke über seinen nackten Körper. Er durfte jetzt nicht liegen bleiben und einschlafen. Ihm blieb nur noch eine halbe Stunde, bis ihn der Chauffeur mit dem Horch abholte und zu dem Treffen mit Duncan bringen würde. Kaltenbrunner schloss die Augen, sein Kreislauf begann sich zu stabilisieren. Langsam schob er die Bettdecke beiseite und setzte sich auf. Er öffnete die oberste Schublade des reich mit Intarsien versehenen Nachttisches, fand die braune Arzneimittelflasche mit dem Lithiumcarbonat und entkorkte sie. Er kippte eine Messerspitze des weißen Pulvers auf seine Handfläche und leckte die bitter schmeckende, körnige Substanz ab. Das Zeug würde ihn noch umbringen, dachte Kaltenbrunner, aber es war das einzige Mittel, das er kannte, das gegen seine Depressionen half. Wenig später setzte die Wirkung des Pulvers ein. Er erhob sich mühsam, ging zu dem großen Mahagonischrank, holte die taubenblaue Ausgehuniform eines Leutnants der Reichsluftwaffe hervor und begann sich anzuziehen. Bevor er die Uniformjacke überstreifte, steckte er seine achtschüssige Krieghoff P 08 in das Schulterhalfter. Die Selbstladepistole, Kaliber 7.65 Parabellum mit dem kurzen Lauf, passte perfekt in seine Hand und er hatte auf dem Schießstand seine Treffsicherheit bewiesen. Kaltenbrunner setzte die Schirmmütze mit dem Reichsadler auf und prüfte sein Aussehen ein letztes Mal in dem Badezimmerspiegel. Bis auf die zernarbte rosige Haut und die blutunterlaufenen Augen sehe ich doch ganz passabel aus, dachte Kaltenbrunner grimmig, bevor er die Suite verließ.

      * * *

       Dokumenteneinschub 2/ Mitschrift/ Bericht des Zimmermädchens Dolores Rosa, Alter 21/ Hotel Imperial/ Polizeistation 433/ Teniente Baptista/ Gestapokarte:

       Teniente Baptista, ich habe diese Fliegerin, diese junge Deutsche beobachtet, wie sie sich angezogen hat.

       Santo Deus, sie trug einen schwarzen Hosenanzug, mit einem weißen Hemd und einer gestreiften Krawatte. Ich habe diesen Film gesehen, in dem kleinen Kino in der Calle Quatre Septembre, mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle. »Die blonde Venus« hieß der. Dieses Mädchen soll sich schämen, so läuft man nicht rum. Wir sind Frauen, keine Männer. Sie wirkte kalt und arrogant auf mich, ich glaube nicht, dass sich ein Mann für sie begeistern wird. Sie verließ ihre Suite so gegen 19:30 Uhr, ich habe danach noch ihr Zimmer aufgeräumt. Sie hat ihre Fliegermontur einfach auf dem Boden liegen lassen. Außerdem habe ich eine Pistole gefunden, so eine kleine silberne, wie sie Frauen tragen. Ich habe sie nicht berührt, nur das Waschbecken geputzt, noch einmal nach dem Bett geguckt und habe dann schnell das Zimmer verlassen. Das ist alles, Teniente, was ich weiß …

      In der Bar Tropical wurde jeden Abend

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