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unsere freie Rede, unsere Freiheit zu wählen und uns zu versammeln und untereinander uneinig zu sein. […] Dies ist nicht allein Amerikas Kampf. Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht allein Amerikas Freiheit. Dies ist ein Kampf der Welt. Dies ist der Kampf der Zivilisation. Dies ist der Kampf aller, die an Fortschritt und Pluralismus, Toleranz und Freiheit glauben. […] Die zivilisierte Welt eilt an Amerikas Seite. […] Uns ist großes Unrecht widerfahren. Wir haben einen großen Verlust erlitten. In unserer Trauer und unserer Wut haben wir unsere Mission und unseren Antrieb gefunden. Freiheit und Angst stehen miteinander im Krieg. Der Fortschritt der menschlichen Freiheit, die großen Erfolge unseres Zeitalters und die Hoffnung aller Zeiten hängen nun von uns ab. Unsere Nation – diese Generation – wird diese dunkle Bedrohung von unserem Volk und unserer Zukunft vertreiben. […] Wir werden nicht scheitern. […]«

      Als Bush am 20. September vor beiden Häusern des Kongresses zur Nation spricht, ist die Sache glasklar: Zum ersten Mal seit dem US-Bürgerkrieg seien Kriegsopfer auf heimischem Boden zu beklagen. Diese Erfahrung sei neu für die lebenden Generationen, jedoch nicht für die amerikanische Nation als solche. Amerika kenne sich damit aus. Wie die breite Öffentlichkeit betont auch Bush die Neuartigkeit des Terrorakts. Doch dann erklärt er diesen eben nicht zu einer inakzeptabel gewalttätigen Antwort auf soziale Spannungen in den Herkunftsländern der Terroristen oder als Manifestation antiwestlicher Haltungen verwirrter junger Männer, sondern als Krieg gegen »Pluralismus, Toleranz und Freiheit«. Es passt ins historische Raster, wenn er die Terroristen »Erben der mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts« nennt, »die in die Fußstapfen von Faschismus, Nationalsozialismus und Totalitarismus treten«. Die lose Terrorgruppe al-Qaida als Neuauflage von Drittem Reich und Stalinismus? Eine fatale Fehleinschätzung!

      Das Pearl Harbor unserer Generation?

      Die von Bush bemühte Analogie zu Pearl Harbor lässt aufhorchen: Der japanische Überraschungsangriff auf den Marinestützpunkt auf Hawaii am 7. Dezember 1941 wurde von regulären Soldaten gegen ein militärisches Ziel geführt. Es war die Eröffnungssalve zu einem konventionellen Krieg. Bush knüpft an die Erfahrungen der Greatest Generation des Zweiten Weltkriegs an, an die um das Jahr 2000 allenthalben erinnert wird. Er will sich als ein den Vorvätern würdiger Krieger erweisen, wenn er das Bild vom »Pearl Harbor unserer Generation« zeichnet. Medial wird der »Krieg gegen den Terror« denn auch als eine Feldschlacht inszeniert, etwa wenn Feuerwehrleute ihre Suche nach Überlebenden mit der Aufrichtung der Stars and Stripes auf den Trümmern des WTC krönen und so ein berühmtes Foto nachstellen, das 1945 während der Eroberung der Insel Iwo Jima im Pazifikkrieg gegen Japan geschossen wurde. Es ist paradox: Obwohl viele den Zäsurcharakter von 9/11 beschwören (»Nichts wird mehr so sein, wie es war«), wird der Konflikt gleichzeitig entlang überlieferter Bilder zwischenstaatlicher Kriege gedeutet und reinszeniert.

      Feuerwehrleute richten die Stars and Stripes am WTC auf. Die Briefmarke zitiert das ikonische Foto »Raising the Flag on Iwo Jima« von 1945

      Meine These ist, dass aus einem extraordinär brutalen, darin zweifellos präzedenzlosen Terroranschlag (11. September) ein welthistorisch folgenreiches Ereignis (9/11) erst gemacht wurde. Aufgrund rückwärtsgewandter, an Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sowie historischen Feindbildern orientierter Reaktionen wurde 9/11 zu einem Einschnitt für unsere Gegenwart, ging als mehr als ein besonders schlimmer Terrorakt in die Geschichte ein. Die Regierung Bush entfachte unnötige Kriege, die nach 20 Jahren noch immer schwären, während über der Einsturzstelle am WTC längst Gras und Bäume wachsen. Die Kriege, die von 9/11 ihren Ausgang nahmen, haben wesentlich größere Verwüstungen hinterlassen als die schrecklichen Anschläge selbst. Die Kosten an Menschenleben, die psychischen Verletzungen, der kaum bezifferbare materielle Schaden sind immens. In Afghanistan, wo der Krieg andauert, starben laut US-Militär 2354 US-Soldaten bis Ende 2020. Im Irak, wo die USA 2011 offiziell abzogen, starben bis dahin 4497 US-Soldaten. Die Anzahl der weniger präzise erfassten zivilen Opfer und »Gegner« ist signifikant höher, wenigstens eine halbe Million im Irak. In Afghanistan dürfte der Blutzoll 2019 die 100 000er-Marke überschritten haben.

      9/11, diese aus der US-Schreibweise des Datums zum Symbol geronnene Chiffre, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Doch dies liegt nicht allein an der verstörenden Erfahrung eines ungeheuerlichen Terrorakts in einer friedlichen Stadt an einem strahlend blauen Septembermorgen. Terror will Menschen aus der Fassung bringen, sie in Angst und Panik versetzen. Auch die Trauer der betroffenen Angehörigen und Freunde ist verständlich. Doch von dort aus hätte der weitere Weg nicht geradlinig in einen Krieg münden müssen. Bush und seine Berater hätten es schlichtweg besser wissen müssen. Die Terroristen, allen voran ihr radikal-islamistischer Rädelsführer und Financier, der saudische Baulöwensohn Osama Bin Laden, wollen kriegerische Reaktionen provozieren. Denn dass die von ihm geführte al-Qaida hinter den Anschlägen steckt, ist den US-Verantwortlichen schnell klar. Bin Ladens strategisches Ziel war kein Geheimnis: Er will die USA in asymmetrische Kriege locken. In diesen, so das Kalkül, könnten die Amerikaner nur verlieren. Bush nimmt den Fehdehandschuh bereitwillig auf, glaubt felsenfest an Amerikas Überlegenheit und reagiert genauso, wie es die Terroristen beabsichtigt hatten.

      Der Krieg gegen den Terror ist aber kein bedauerlicher Betriebsunfall der US-Geschichte: Denn die unverhältnismäßige Antwort der Regierung Bush war bereits in Amerikas politischer Kultur der Jahrtausendwende angelegt. Technisch gesehen knüpft Bush an bestehende Muster der militarisierten Terrorismusbekämpfung seit den 1980er Jahren an, aber weitet diese exorbitant aus. Möglich wird der Krieg aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Dispositionen und einer geopolitischen Lage: Zum einen spornen der von weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft getragene Turbopatriotismus sowie die nationalistische Hybris der Eliten zu Kriegshandlungen an. Verstärkt wird der Impuls zum Zurückschlagen überdies durch einen alten Hang zur Paranoia, der in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelt ist und populärkulturell gestützt wird. Das geopolitische window of opportunity ist ein ebenso signifikanter Faktor. Der »Sieg im Kalten Krieg« 1990 erleichtert den USA das militärische Zurückschlagen. Die »einzig verbliebene Supermacht« muss auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Sie ist nicht auf konventionelle Methoden der Strafverfolgung beschränkt.

      Teil des Problems ist die Brandmarkung der Terroristen als un-»zivilisierte« Außenseiter. Dass ein solch raumgreifender Krieg gegen den Terror gedacht werden kann, hat auch mit kulturellen Vorurteilen gegenüber dem Islam zu tun. Man stelle sich vor, die Anschläge wären von deutschen oder französischen Terroristen verübt worden. Es wäre wohl kaum zu einer Bombardierung von Teilen Europas gekommen. Der Westen geht mit dem islamistischen Terror anders um als mit bisherigem links- und rechtsradikalem Terror. Terror wird als zentral für »den Islam« gedeutet. Daher werde die Gewalt der Islamisten in »einem unmenschlichen Niemandsland weit außerhalb […] der modernen säkularen Welt« verortet, wie der Schriftsteller Pankaj Mishra meint. Auf dieser Ausgrenzung des Islamismus aus »unserer Welt« basiert eine präventive Terrorismusbekämpfung, die ganze Länder und Millionen Unbeteiligte in Mithaftung zieht. Auch Deutsche sind nicht frei von derartigen Anwandlungen, wird doch nach einem geflügelten Wort von Verteidigungsminister Peter Struck 2002 unsere Sicherheit auch »am Hindukusch verteidigt«.

      Die Welt steht still

      Der 11. September führt überall in der Welt zu einem vorübergehenden Bruch der Alltagsroutinen. Viele Menschen können davon persönlich berichten. Die Nachricht von den Anschlägen verbreitet sich wie ein Lauffeuer um den Globus. Eine Stunde nach den Anschlägen haben 70 Prozent der Deutschen davon erfahren. Tags darauf ist die gesamte deutsche Bevölkerung informiert, Alte, Kranke, Jugendliche und Kinder eingeschlossen. In den USA verbreitet sich die Nachricht noch schneller. Dort wissen 60 Minuten nach dem Aufprall des ersten Flugzeugs 90 Prozent der Amerikaner Bescheid. So weit Fernsehen und Internet reichen, sehen Menschen weltweit dieselben schrecklichen Bilder. Das »globale Dorf« des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan wird für ein paar Stunden Realität. Identische Aufnahmen flimmern über Bildschirme in Kansas wie auf der Schwäbischen Alb, im australischen Outback, den Favelas von Rio, den Townships von Soweto

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