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müssen aus den Kasernen oben am Berg gekommen sein. Die Wessex Fusiliers, habe ich gehört. Weißt du etwas über sie?«

      »Ich kenne mich mit der Armee überhaupt nicht aus.«

      »Mein Informant erzählte mir, sie seien nicht sehr ›distinguiert‹. Bei eurer Armee heißt das offensichtlich, dass es ein ganz normales Linienregiment ist, das sich seit der Schlacht bei Höchstädt bei jeder Gelegenheit tapfer geschlagen hat, aber nur Offiziere aus der Mittelschicht aufbieten kann.«

      Daniel dachte über diese Information aus berufenem Mund nach.

      »Dein … Informant?«, sagte er schließlich.

      »Ein Amerikaner, den ich in Kassel traf. Ach, da fällt mir ein: Dienstag geht nicht. Da muss ich nach Kassel, statt wie sonst am Donnerstag.«

      Jeden Donnerstag machte Earle, was er »meine kleine Spritz­tour nach Kassel« nannte. Wenn Daniel es richtig verstanden hatte, gab es dort ein offenbar kulturell ausgerichtetes amerikanisches Zentrum, und donnerstags fand dort immer eine Art Heimattreffen statt, das von der Handvoll Amerikaner in der Region und manchmal den amerikanischen Armeeoffizieren aus Bad Hersfeld und weiter südlich gelegenen Orten besucht wurde. In Göttingen befand sich eine vergleichbare britische Einrichtung namens »Die Brücke«, in der es eine englischsprachige Bibliothek gab, viele Informationsbroschüren über die britische Lebensart sowie einen sympathischen Direktor aus Schottland, der dann und wann die gemeinsame Lektüre eines Theaterstücks oder eine Diskussionsveranstaltung auf die Beine stellte. Doch Earles Zentrum in Kassel – dessen Namen er Daniel gegenüber nie erwähnte – schien irgendwie etwas Bedeutsameres zu sein. Aus der Hochachtung, mit der Earle darüber sprach, wie auch der absoluten Regelmäßigkeit, mit der er die dortigen Donnerstagstreffen besuchte, schloss Daniel, dass Earle verpflichtet war, sich dort zu melden, vielleicht bei einer Art Konsulatsvertreter oder jemandem, der im Auftrag der Universität Harvard ein Auge auf ihn haben sollte. Denn Amerikaner, so viel wusste Daniel, wurden immer an einer Leine gehalten, die bis nach Amerika zurückreichte. Eines jedenfalls war klar: Wenn Earle am nächsten Dienstag nach Kassel zitiert worden war, würde Earle dem Folge leisten, und das war eine Enttäuschung, denn sie hatten eigentlich abgemacht, zu einem Konzert nach Hannover zu fahren.

      »Warum haben sie den Tag geändert?«, maulte Daniel.

      »Wichtiger Besuch … Reg dich nicht auf. Es gibt noch andere Konzerte, wir haben den ganzen Sommer noch vor uns.«

      Doch Daniel war eingeschnappt. Schließlich lenkte Earle den Wagen von der Straße und hielt auf einem Waldweg, der durch ein Nadelgehölz führte.

      »Komm schon, Danny!«, sagte er. »Es ist ein zu schöner Abend für so was.«

      »Es tut mir leid. Du hast selbstverständlich recht.«

      Und fürwahr, dachte Daniel, es gab wohl im Leben nicht allzu viele Abende wie diesen, Abende, die man mit einem Freund in einem kleinen Wäldchen unter einem langsam dunkel werdenden, aber freundlichen Himmel verbrachte, noch von der Wärme der Sonne durchströmt. Der Boden ein sanfter Teppich aus Kiefernnadeln. Ein Wagen, in den man sich in dem Moment zurückziehen konnte, wenn der erste kalte Hauch der Nacht, auf ergötzliche Weise atavistische Ängste wachrufend, durch die Bäume kroch und mahnte, dass man besser bald das Weite suchte. Wie viele solche Abende würden ihnen bleiben? Der ganze Sommer lag noch vor ihnen, hatte Earle gesagt. Doch stammte Daniel, wenn auch nur teilweise, von einem Volk ab, das sehr alt und immer auf der Hut war – und daher nichts auf irgendwelche Versprechungen von kommenden Zeiten gab.

      Und wie sich herausstellte, sollte es keine weiteren Abende in Nadelwäldern, keine weiteren Reisen nach Süden mehr ge­ben. Als Earle von seiner Dienstagsspritztour nach Kassel zu­rückkehrte, war er verändert. Er wirkte wie jemand, der sich in der Gewissheit gewiegt hatte, eine große Erbschaft zu machen, dem nun aber plötzlich mitgeteilt worden war, dass man herausgefunden habe, er sei illegitim geboren und müsse sich nun mit einer kleinen Abfindung begnügen, die ihm aber auch nur durch das Wohlwollen der wahren Erben zufalle. Er war sauer, enttäuscht, kaltgestellt. Anfangs dachte Daniel, man hätte ihm von Seiten der wie auch immer gearteten Autorität, die sich in Kassel befand, nun doch noch Vorwürfe gemacht wegen seiner Faulheit, und ihn ermahnt, sich weniger dem Vergnügen hinzugeben und sich stattdessen seiner Arbeit zu widmen; denn dies hätte erklärt, warum er keine weiteren Fahrten oder Ausflüge mehr vorschlug und Daniel nun bloß noch jeden dritten oder vierten Tag traf. Doch es wurde bald klar, dass irgendetwas viel Ernsteres vorgefallen sein musste als eine bloße Rüge. Leuten, denen gesagt wird, dass sie härter arbeiten sollen, ist es schließlich weiterhin erlaubt, dass sie ihre Freunde treffen und nach Belieben ab und zu mit anderen abends etwas essen gehen; Earle jedoch ging fortan abends überhaupt nicht mehr mit ihm essen und beschränkte ihre Zusammenkünfte auf eine magere halbe Stunde um die Mittagszeit oder einen kurzen Nachmittagsspaziergang. Dies wäre Daniel durchaus bereit gewesen zu akzeptieren, wenn er davon ausging, dass man seinem Freund einen bösen Schock versetzt hatte und er sich davon erst einmal erholen musste – wäre da nicht Earles spürbare Feindseligkeit gewesen. Jene verletzte ihn nicht nur zutiefst, sondern sie war zudem schlichtweg unerklärlich: Wiewohl er ohne weiteres verstehen konnte, dass irgendeine unerwünschte Widrigkeit für Restaricks üble Laune und sein abweisendes Verhalten verantwortlich war, konnte er doch keinerlei Grund für dessen nackte, gezielt gegen ihn gerichtete Boshaftigkeit ausmachen. Es sei denn natürlich, er, Daniel, war in irgendeiner Weise schuld an dem, was passiert war – doch wie sollte das möglich sein?

      Nachdem dieser neue Zustand sich drei Wochen lang hingezogen hatte, entschied Daniel, dass er Earle fragen würde, was los war. Er war unschlüssig, ob er das wirklich tun sollte, weil hier etwas vorzuliegen schien, an das man klugerweise besser nicht rührte. Aber Earle selbst hatte ihm ja schließlich zu Beginn ihrer Begegnung die Vorzüge direkter Fragen ans Herz gelegt; und die Tatsache, dass Earle ihn trotz allem noch traf, wie unausstehlich er sich auch betrug, wenn sie zusammen waren, musste bedeuten, dass es da noch etwas zwischen ihnen gab, das gerettet und erhalten werden konnte.

      Und so nahm Daniel ihn, als sie schweigend auf dem Stadtwall durch die Mittagshitze spazierten, er selbst erhitzt und verschwitzt in seinem dicken Sportsakko, Earle lässig und unnahbar in einem Gabardine-Anzug, beim Ellenbogen und sagte:

      »Was ist los, Earle? Hab ich irgendwas falsch gemacht?«

      Earle blieb stehen, entwand seinen Arm langsam und demonstrativ Daniels Griff und lief weiter, immer drei oder vier Schritte vor Daniel, und redete nun geradewegs drauflos.

      »Du merkst es einfach nicht, oder? Du merkst einfach gar nicht, was du machst. Jeden Tag steckst du deinen Kopf in einen Stapel Manuskripte, die bis heute noch niemand verstanden hat, und du arbeitest sechs, sieben, manchmal zehn Stunden, in der Hoffnung, die Lösung zu finden. Aber was ist, wenn du sie findest? Hast du jemals daran gedacht?«

      Das war es also. Earle, der immer so darauf geachtet hatte, dass Daniel arbeiten konnte, betrachtete seine Tätigkeit in Wahrheit mit Missgunst.

      »Natürlich habe ich darüber nachgedacht«, sagte Daniel zu der ausdruckslosen Gabardine-Fläche, die sich vor ihm bewegte. »Wenn ich die Lösung finde, werde ich zurück nach Cambridge gehen und sie dazu nutzen, wenn es geht, meine Forschungsarbeit mit ihrer Hilfe zu Ende zu bringen. Was denn sonst? Es wird mir schwerfallen, Göttingen zu verlassen, dich zu verlassen, ich werde unsere gemeinsamen Fahrten vermissen, die wir immer machen … gemacht haben …«

      »Du begreifst es einfach nicht, wirklich nicht. Du arbeitest und arbeitest an diesen Aufzeichnungen, versuchst, toten Zeichen Leben einzuhauchen, Zeichen, die schon fünfzehn Jahre in Frieden ruhen, und in den Pausen bist du froh und glücklich, einen Chauffeur zu haben, der dich brav durch die Gegend fährt. Aber hast du irgendeine Vorstellung davon, was diese Zeichen bewirken werden, wenn du sie aus ihrer Gruft holst? Hast du natürlich nicht. Du weißt ja nicht mal, wo dich dein braver Chauffeur hinfährt. Wenn er sagt ›Heute fahren wir nach Bad Harzburg‹, lehnst du dich einfach nur mit einem selbstgefälligen Lächeln im Gesicht zurück und freust dich auf eine nette, gemütliche Tour. Dabei könnte es gut sein, dass er vorhat, dich auf direktem Weg in die Hölle zu befördern.«

      »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Daniel

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