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Candide. Voltaire
Читать онлайн.Название Candide
Год выпуска 0
isbn 9783843801379
Автор произведения Voltaire
Жанр Документальная литература
Серия Klassiker der Weltliteratur
Издательство Bookwire
Eines Tages, als ich in der Messe saß, bin ich dem Großinquisitor aufgefallen. Er beäugelte mich die ganze Zeit, und nachher verlangte er mich zu sprechen, in einer Geheimsache, wie er sagte. Er fragte mich, welchen Standes ich sei; ich offenbarte meine Herkunft. Der Inquisitor fand, es sei doch unter meiner Würde, einem Israeliten anzugehören. Also ließ er Don Isaschar den Vorschlag unterbreiten, dass er mich an Seine Eminenz abtrete. Don Isaschar – immerhin Hofbankier und ein Mann von Einfluss – wollte zuerst nicht. Der Inquisitor drohte ihm mit einem Autodafé. Da bekam mein Jude doch Angst; und man schloß einen Kompromiss, wonach das Haus und ich beiden zur Verfügung stehen sollten: dem Juden montags, mittwochs und am Sabbat, dem Inquisitor an den übrigen Tagen der Woche. Ein halbes Jahr gilt der Vertrag nun schon. Es ging nicht immer ohne Zank ab; so stritt man häufig darüber, ob die Nacht von Samstag auf Sonntag unter das mosaische oder das christliche Gesetz falle. Was mich betrifft, so habe ich bisher keinen der beiden erhört; vermutlich deshalb lieben sie mich noch alle beide.
Kurze Zeit später haben Seine Eminenz der Großinquisitor dann doch geruht, ein Autodafé zu veranstalten. Erstens wollte er etwas gegen die Erdbeben tun, die uns heimsuchten, zweitens den Juden zu größerer Nachgiebigkeit bewegen. Auch ich wurde mit einer Einladung beehrt. Ich erhielt einen sehr guten Platz; den Damen wurden zwischen Messe und Hinrichtung sogar Erfrischungen gereicht. Und doch packte mich das Grausen, als man vor meinen Augen die beiden Juden verbrannte und den braven Biskayer, der seine Gevatterin geheiratet hatte. Aber das war nichts gegen die Bestürzung, den Schrecken, die Verwirrung, die sich meiner bemächtigten, als ich in einem der Sanbenitos und unter einer der Carochas einen Menschen gewahrte, der unserem Lehrer Pangloss aufs Haar glich. Ich rieb mir die Augen, schaute so scharf hin, wie ich konnte: kein Zweifel, um ihn und keinen anderen handelte es sich, und ich musste erleben, wie man ihn hängte! Ich sank in Ohnmacht, und kaum erlange ich das Bewusstsein wieder, sehe ich Euch vor mir – splitterfasernackt! Wie viel Grauen, Entsetzen, Schmerz und Verzweiflung ich bis dahin auch empfunden haben mag – dies stellte alles in den Schatten. Übrigens, ganz im Vertrauen: Eure Haut ist noch heller und noch feiner getönt als die meines bulgarischen Hauptmanns. Und die so traktiert – dieser Anblick vervielfachte den Jammer, der meine Seele bestürmte, ja zu zerreißen drohte. Ich schrie, ohne Worte zu formen; ich wollte rufen: ›Haltet ein, ihr Barbaren!‹ Aber die Stimme versagte mir, und was hätten meine Rufe schon bewirkt. Und während Ihr dann geprügelt wurdet, fragte ich mich: ›Was ist das bloß für eine Fügung? Da verschlägt es den liebenswerten Candide und den Pangloss ausgerechnet hierher nach Lissabon – und das nur, damit sie leiden! Der eine erhält hundert Peitschenhiebe, der andere wird gar gehängt, und beides auf Befehl Seiner Eminenz des Großinquisitors, dessen Geliebte ich bin. Wahrhaftig, Pangloss hat mich doch grausam getäuscht, als er mich lehrte, die Welt sei bestens eingerichtet!‹
Aufgewühlt, erschüttert, bald außer mir, bald sterbensmatt, fand ich keine Ruhe. In meinem Hirn jagten sich die Bilder: mein Vater, meine Mutter, mein Bruder niedergemetzelt; der bulgarische Soldat, der so schändlich über mich herfiel und mich mit seinem Messer stach; mein Dienst als Magd und Köchin; mein bulgarischer Hauptmann; mein hässlicher Don Isaschar; mein abscheulicher Inquisitor; der Doktor Pangloss am Galgen; das lange, eintönige Miserere, in dessen Takt Ihr gegeißelt wurdet; und immer aufs Neue jener Kuss, den ich Euch hinter dem Wandschirm gab an jenem Tage, da ich Euch zum letzen Male sah. Ich pries Gott, denn wie hart auch all die Prüfungen waren – nun hatte er Euch mir wiedergeschenkt. Ich befahl der alten Dienerin, die mir von Don Isaschar zugewiesen worden war, sich um Euch zu kümmern und Euch, sobald es geht, hierher zu bringen. Sie hat ihren Auftrag bestens erfüllt. Mir ist die unbeschreibliche Freude vergönnt, Euch wiederzusehen, Eure Stimme zu hören, mit Euch zu sprechen. Aber Ihr müsst doch einen Bärenhunger haben. Ich jedenfalls mag nicht länger warten. Also essen wir erst einmal.«
Die beiden setzten sich zu Tisch und speisten. Nach dem Souper legten sie sich auf das schöne Sofa, dessen schon Erwähnung getan wurde. Dort lagen sie noch, als Don Isaschar, einer der beiden Hausherren, das Zimmer betrat. Es war nämlich Sabbat, und er kam, um seine Rechte wahrzunehmen und seiner zärtlichen Liebe Ausdruck zu geben.
NEUNTES KAPITEL
Was sich weiter begibt mit Kunigunde, Candide, dem Großinquisitor und einem Juden
Seit der Babylonischen Gefangenschaft hatte es im Volke Israel keinen so jähzornigen Hebräer mehr gegeben wie diesen Isaschar. »Was, du galiläische Hündin!«, schimpfte er. »Reicht dir denn nicht der Herr Inquisitor? Muss ich auch noch mit dem Halunken da teilen?« Sprach’s und zog einen langen Dolch, den er immer bei sich trug, und in der Vermutung, die Gegenseite sei unbewaffnet, stürzte er sich auf Candide. Aber unser braver Westfale hatte von der Alten neben dem vollständigen Anzug auch einen schönen Degen erhalten. Und nun geschah etwas, das wir ihm, dem sanftmütigen Candide, nie zugetraut hätten: flugs zog er seine Klinge – und hast du nicht gesehen lag der Israelit mausetot zu Füßen der schönen Kunigunde.
»Heilige Jungfrau!«, rief diese, »Jetzt ist alles aus. Ein Toter hier bei mir! Wenn die Polizei kommt, sind wir verloren.« – »Wirklich schlimm, dass sie Pangloss gehängt haben«, meinte Candide; »er wüsste in dieser verfahrenen Lage bestimmt genau, was zu tun wäre. Aber da er leider nicht zur Verfügung steht, sollten wir vielleicht die Alte um Rat fragen.« Die war nun freilich mit allen Wassern gewaschen und wollte auch gleich einen Plan entwickeln, doch kaum hatte sie begonnen, öffnete sich ein weiteres Türchen. Es war inzwischen eine Stunde nach Mitternacht; der Sonntag brach an. Dieser Tag gehörte dem Herrn Großinquisitor. Er trat ein und erblickte erstens Candide, den frisch gestäupten Delinquenten, mit einem Degen in der Hand, zweitens eine Leiche auf dem Boden, drittens Kunigunde, schreckensbleich, und viertens die Alte, die Ratschläge erteilte.
Versetzen wir uns einen Moment in Candides Kopf, um genau nachzuvollziehen, welche Gedanken ihm nun durchs Gehirn schossen: »Wenn dieser Gottesmann Hilfe herbeiholt, muss ich unweigerlich brennen; womöglich Kunigunde auch; er hat mich gnadenlos geißeln lassen; er ist mein Rivale; und ich bin ohnehin gerade beim Töten so recht im Schwung; also los, nicht geschwankt!« Die Überlegung erfolgte klar und blitzschnell. Bevor noch der Inquisitor sich zu Ende gewundert hatte, stach Candide ihn durch und durch, und Eminenz fiel neben den Juden zu Boden. »Das wird ja immer besser!«, ängstigte sich Kunigunde. »Damit wäre jede Gnade verwirkt; wir werden exkommuniziert; unsere letzte Stunde hat geschlagen. Wie konntet Ihr nur? Ich kenne Euch als die Sanftmut selbst, und Ihr tötet innerhalb von zwei Minuten einen Juden und einen Prälaten?« – »Mein schönes Fräulein«, erwiderte Candide, »wenn man verliebt ist und eifersüchtig und von der Inquisition gepeitscht, kennt man sich eben selbst nicht mehr.«
Endlich konnte die Alte ihre Rede weiterführen, und sie sagte: »Im Stalle stehen drei andalusische Pferde; Sättel und Zaumzeug liegen daneben. Der tapfere Candide soll sie gleich fertig machen. Kommt, gnädige Frau, steckt Eure Dublonen und Eure Diamanten ein, und dann flink zu Pferde, und ab nach Cádiz! Ich kann zwar nur auf einer Hinterbacke sitzen, aber das soll Euch nicht stören. Wir haben gerade prächtiges Wetter, und in der kühlen Nacht zu reisen ist ein wahres Vergnügen.«
Sofort sattelte Candide die drei Pferde. In einem Zug legten Kunigunde, die Alte und er dreißig Meilen zurück. Während sie sich immer weiter entfernten, erschienen die Ordnungshüter der Santa Hermandad im Tathaus. Der Herr Inquisitor wurde in einer prächtigen Kirche bestattet und Isaschar auf den Schindanger geworfen.
Als dies geschah, hatten Candide, Kunigunde und die Alte schon die kleine Stadt Aracena mitten in der Sierra Morena erreicht. Nun saßen sie dort am Tisch einer Gastwirtschaft, und es entspann sich das folgende Gespräch.
ZEHNTES KAPITEL
In welch schlimmer Not Candide, Kunigunde und die Alte Cádiz erreichen und wie sie sich dort einschiffen