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in Davos lautete die Meldung: »Das Vertrauen der Menschen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen erodiert. Politikern, Managern, Nichtregierungsorganisationen und auch den Medien wird immer weniger vertraut.« Gehört das vielleicht auch zum Thema Disruption? Oder schon zum Thema Revolution? Und was hat das mit der Digitalisierung zu tun? Und wie könnte das alles zusammenhängen?

       Drei Thesen

      »Disruptive Thinking« heißt zunächst: Umbrüche, Brüche, nichtlineare Entwicklungen denken zu können. Und nicht zu glauben, dies gehe gleich vorüber. Nein, das geht nicht gleich vorüber. Ich habe dazu drei Thesen, oder vielleicht sollte ich besser sagen: Hypothesen. Denn was wirklich passieren wird, werden wir erst in ein, zwei Generationen wissen.

       Erste These

      Wir leben in einer Übergangszeit von einer alten in eine neue Welt. Eine große Transformation. Die digitale Transformation. Sie gleicht in ihrer Wucht und in ihrem Ausmaß der industriellen Revolution. Und diese Transformation ist nicht nur eine technologische. Sie ist auch eine soziale und kulturelle und verändert massiv unser ganzes Denken und Verhalten.

       Zweite These

      »Übergangszeit« heißt: Manches Alte funktioniert nicht mehr richtig und manches Neue noch nicht richtig. Wir spüren das oft instinktiv und intuitiv, zum Beispiel am zunehmenden Druck, dem wir ausgesetzt sind. Und wir sind uns nicht mehr ganz sicher, was morgen passieren wird. Denn auch das gehört zu dieser Übergangszeit. Sie ist gekennzeichnet durch sich überlagernde Widersprüche und Konflikte. Nicht nur Altes, sondern auch ganz Altes, oft archaisch Anmutendes lehnt sich auf gegen das Neue.

       Dritte These

      Die gegenwärtige Transformation gleicht nicht nur der industriellen Revolution. Sie ist selbst auch eine Revolution. Ich nenne sie die kreative Revolution. Ihr historischer Sinn besteht in der Entfaltung der kreativen menschlichen Fähigkeiten, ermöglicht durch die digitalen Technologien und Netze.

      Wer heute von digitaler Transformation spricht, wird fast überall auf Konsens stoßen. Alle nicken. Und manche tun so, als wüssten sie genau, was morgen passieren wird, wenn man nur die richtigen Technologien und Geschäftsmodelle einsetzt. »Kreative Revolution« sagt: Wir haben keine Ahnung, was in fünf oder zehn Jahren passieren wird. Die digitalen Technologien – die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen – sind nur die Bedingung der Möglichkeit. Um sie zu entfalten, brauchen wir menschliche Kreativität, Schöpferkraft, und zwar in einem bisher nicht geahnten Ausmaß. Überall, in der Umwelt, für die Nachhaltigkeit, in Schule, Ausbildung, Unternehmen, Politik. Und Disruptive Thinking ist die Kunst und Disziplin für diese Revolution.

       Leitgedanken: Was ist Disruptive Thinking?

      Disruptive Thinking ist das Denken, das mit den komplexen Anforderungen dieser Zeit mitwächst. Es ist Querdenken ohne Geländer.

      Disruptive Thinking ist realistisches Zukunftsdenken, das Störungen nicht ausklammert, sondern einbezieht.

      Disruptive Thinking ist ein zweisprachiges Denken, es ist in zwei Welten zu Hause. Es rechnet mit der Ungewissheit und macht Widersprüche produktiv.

      Disruptive Thinking ist das etwas andere »Betriebssystem« für Organisationen in der digitalen Transformation und der beginnenden kreativen Revolution.

      Disruptive Thinking fördert das Innovationspotenzial und stärkt die soziale Verantwortung.

      Vor ein paar Jahren habe ich zum ersten Mal die folgende Geschichte gehört: Eine Lehrerin unterrichtete in einer Grundschule sechsjährige Kinder im Zeichnen. Eine der Schülerinnen, die in einer der hinteren Bänke saß und sonst nicht besonders aktiv mitarbeitete, war diesmal völlig vertieft in das, was sie tat. Die Lehrerin war fasziniert und zugleich neugierig. Sie fragte das Mädchen, was es malen würde. Ohne aufzuschauen, sagte die Kleine: »Ich male ein Bild von Gott.« Die Lehrerin erwiderte überrascht: »Aber niemand weiß, wie Gott aussieht.« Darauf entgegnete das Mädchen: »Warten Sie einen Moment, gleich wissen Sie es.«

      Ich mag diese Geschichte aus verschiedenen Gründen. Nicht nur, weil sie der begnadete Geschichtenerzähler und kreative Anreger Ken Robinson gerne erzählt. Sie ist ein wunderbares Beispiel für die Fantasie von Kindern. In dieser Lebenszeit waren wir alle kreativ. Viele von uns hatten das kreative Vertrauen, scheinbar Unmögliches zu wagen und die Grenzen der herkömmlichen Vorstellungen der Erwachsenen überspringen zu können.

      Sie ist auch ein schönes Beispiel für die festgefügten Wissensüberzeugungen der Erwachsenen. Und für die Verblüffung, die es hervorruft, wenn dieses Gefüge infrage gestellt wird. Ich bekam zum Beispiel in der ersten Klasse der Grundschule die Aufgabe, einen Aufsatz über das Schlaraffenland zu schreiben. Wie sich die Erwachsenen das Schlaraffenland ausmalten, wusste ich natürlich. Das leuchtete mir aber nicht ein. Wieso mussten die Leute immerzu irgendetwas essen (meistens Tiere) und faul herumliegen?

      Also malte ich in meinem Aufsatz ein ganz anderes Bild: ein Land, in dem die Luft so nahrhaft war, dass man sich von ihr ernähren konnte und man immerzu herumspringen und Neues entdecken konnte.

      Doch das alles berechtigt noch nicht, jene Geschichte in einem Buch über Disruptive Thinking vorzustellen. Noch dazu in der Einleitung. Wäre da nicht noch eine andere Ebene und eine andere Assoziation, die diese Geschichte bei mir auslöst: Das Mädchen, das sich zutraut, ein Bild von Gott zu malen, steht für diese Zeit, für die gerade beginnende kreative Revolution, für eine neue Welt, die sich anschickt, Dinge zu entwickeln, die bislang unvorstellbar waren. Und es steht für die Erschütterung, die dies in der alten Welt auslöst. Vielleicht – aber dies als Letztes – steht es auch für etwas, was man früher Hybris nannte.

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      Mancher fühlt sich von dieser neuen Welt magnetisch angezogen, manchem macht sie Angst. In diesem Spannungsfeld entsteht ein Klima für Disruptionen – für begeisternde Innovationen und besorgte Abwehrreaktionen, für tatsächliche Disruptionen, aber auch für das Gerede darüber, für Geschichten, Meinungen Spekulationen. Doch wie kann man das eine vom anderen unterscheiden? Wäre es nicht interessant, ein bisschen mehr hineinzuhorchen?

      Der Begriff »Disruptive Thinking« besteht aus zwei Wörtern. Das zweite steht da nicht aus Verlegenheit. Disruptive Thinking feiert nicht disruptives Tun jeglicher Art. Disruptive Thinking ist Reflexion der Disruption. Und zugleich kreative, verantwortliche Praxis – die praktische Unterstützung für Führung und Organisation, mit dem disruptiven Wandel besser umzugehen.

      Dies scheint mir gerade in einer Zeit so wichtig, in der wir alle mit Instantangeboten überschüttet werden. Ständig müssen wir irgendetwas sofort downloaden, bestellen, kaufen oder unter permanentem Zeitdruck und in kürzester Frist implementieren, installieren, realisieren. Aber Disruptive Thinking sagt: Es ist immer Zeit zum Denken im Handeln. Oder noch besser: vor dem Handeln, wenn man sich in extremes Gelände begibt. Und Disruptionen sind extremes Gelände. Es sind nicht kleinere Unebenheiten auf einer Autobahn. Es ist Backcountry.

      Extremkletterer, Snowboarder und Freeride-Profis wissen, wie sich das anfühlt. Sie begeben sich bewusst in dieses Gelände. Denn hinter jedem Berg wartet ein Gipfel voller neuer Möglichkeiten. Aber sie wissen auch, wie es die Freerider Melanie Schönthier und Stephan Bernhard formulieren: »Backcountry ist ein Ort voller Gefahren, wo eine falsche Entscheidung deinen Tag ruinieren kann.« Deshalb ist eine gute physische und vor allem mentale Vorbereitung so wichtig: »Better be ready when the shit goes down«, sagen sie dazu.

      Eine gute technische Ausrüstung ist selbstverständlich wichtig. Das Werkzeug muss stimmen. Doch das bekommt man heute überall; jeder Anfänger kann es sich besorgen. Das Entscheidende aber passiert im Kopf. Es ist die Kombination aus Einstellung und Vorstellung. Man muss das Gelände lesen

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