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und treffen Entscheidungen, die Ereignisse auslösen und den Fortgang der Geschichte wesentlich beeinflussen.“2

      Beim Eintritt erhält jede_r einen kleinen Zettel mit einer Nummer darauf, dann werden wir in kleinen Gruppen in einen Raum geführt – ein Wartezimmer. Karten und Infomaterial zu fiktiven Ländern an den Wänden, eine kostümierte Performerin an einem Schreibtisch, ernster Blick. Um sie herum – überall Requisiten. Der Raum ist ausgestaltet, wir befinden uns bei Eintritt bereits auf der ‚Bühne‘, in der Welt von machina eX, am Set von Right of Passage. Wir werden gebeten, auf den Stühlen Platz zu nehmen und uns zu gedulden. Noch wissen wir nichts von dem Schicksal, das uns als Spielteilnehmer_innen zugewiesen wird. Nacheinander werden wir beziehungsweise unsere Nummern aufgerufen. Der erste Schritt auf dem Weg, unsere Spieler_innen-Identität anzunehmen. Also: Nummer aufgerufen, vor der jungen Dame am Schreibtisch Platz genommen, sie macht ein Foto mit einer Webcam, dann wieder auf den Wartestühlen warten. Schließlich bekommt jede_r einen Pass und damit eine Geschichte, wir werden verschiedenen fiktiven Ländern zugeordnet, die sich in einem Konflikt befinden und teilweise seltsame Traditionen pflegen. Wir bekommen einen Grund, warum wir hier die Grenze überqueren wollen. Vielleicht sind wir in einer Untergrundorganisation tätig, vielleicht Mitglieder einer Gegenbewegung, sind der Regierung jedenfalls negativ aufgefallen, stehen auf der bösen Liste. Fakt ist: Wir wollen und müssen den Grenzübergang passieren, um dem Elend zu entfliehen.

      Ich bin aufgeregt und mich beschleicht gleichzeitig ein beklemmendes Gefühl. Grenzübergang, Kontrolle, Unsicherheit und mögliche Gefahr in ‚meinem eigenen‘ Land – das kenne ich nicht. Nur aus Berichten, von Bildern, ich merke, wie privilegiert ich bin. Bereits jetzt regt schon allein die Ausgangssituation diese politisch motivierten Gedanken an, dabei hat das Spiel noch gar nicht richtig begonnen. Man findet sich selbst in einer unbekannten Lage wieder, mit einer Geschichte und Nationalität, zu der man noch keinen Zugang hat, mit der man sich vielleicht nicht identifizieren möchte. An dieser Stelle habe ich keine Wahl: Es geht los.

      Die zweite Tür öffnet sich zum Kontrollstützpunkt. Kiosk, Fabrik, Krankenstation, unbewohnte Büroräume, Kneipe mit dubiosem Hinterzimmer, in dem Glücksspiele gespielt werden. Und ganz hinten – sehr zentral und etwas bedrohlich – die Grenzkontrollstelle. Ein kleiner Schalter mit einem Kontrolleur, der nichts und niemanden passieren lässt. Er händigt uns Dokumente aus, die ausgefüllt werden müssen, und eine Liste mit diversen anderen Bescheinigungen, die es zu erbringen gilt. Ab jetzt geht das Spiel richtig los. Wir müssen unter anderem (Spiel-)Geld von der Arbeit in der Fabrik und eine ärztliche Bescheinigung für die Ausreise beschaffen, doch der Ablauf wird von einem schnellen Tag-Nacht-Rhythmus bestimmt und immer wieder unterbrochen. Ungefähr zehn Minuten Aktion und Bewegungsfreiheit am Tag, dann wird es Nacht und alles schließt, der Grenzübergang ist dicht, das Licht geht aus. Wir können die eben angefangenen Handlungen nicht abschließen, müssen bis zum nächsten Tag warten. Kurze Zeit später wird es wieder hell, etwas ist passiert. Die Teilnehmer_innen, die eben noch gewissermaßen als Einzelkämpfer_innen unterwegs waren, finden sich spätestens jetzt als Team zusammen. Die Performer_innen stellen szenisch eine Aufgabe. An dieser Stelle merken wir alle, dass sie Spielfiguren sind und in ihren Äußerungen und Handlungen beschränkt, unfrei, programmiert. Ein Beispiel: Wir brauchen einen Arzt, jemand (eine von einem Performer verkörperte Spielfigur) ist verletzt, in einem Schockzustand. Aber der Arzt kann nicht helfen, er hat gestern zu lange in der Kneipe gesessen. Wir müssen die Medizin besorgen. Aber wo ist das Rezept? – Die Kneipenbesitzerin redet vor sich hin, wir fragen nach, sie redet an uns vorbei und schaut uns doch dabei an. Ihre Aussagen wiederholen sich in verschiedenen Satzkonstruktionen, sie gibt Hinweise wie in einem Loop, so lange, bis wir das Rätsel lösen. Wir spielen und raten und suchen und finden das Rezept. Da ist die Medizin, geschafft. Und weiter geht es, jede_r wieder für sich, mit dem eigenen Ziel vor Augen, dem Ziel, die Grenze so bald wie möglich passieren zu können. Wir alle wollen gewinnen, ich will die Erste sein. Das muss doch funktionieren. Aber nein! Jedes Mal, immer wieder, wird ein neuer Grund gefunden, warum ich nicht hier wegkomme. Der Grenzwärter ist unerbittlich. Manchmal zwinkert er, vielleicht habe ich eine Chance? Aber nein, das alles ist Teil des Spiels. Ich bin frei und doch eingesperrt. Ich kann mich entscheiden, kann sagen, was ich will. Aber ich kann niemanden überreden. Die Avatare sind so komplex und doch gescripted. Wie in einem Computerspiel programmiert, sie verlassen ihre Vorgaben nicht, und manchmal hat man doch das Gefühl, dass man sich mit ihnen anfreunden kann. Aber das ist wohl alles Schein, Teil der Immersion. So echt und unecht zugleich.

      Nach circa vier Stunden ist es vorbei, wir haben alle verloren. Nein, eigentlich hat nur niemand gewonnen. Niemand hat die Grenzkontrolle passiert, das war trotz Vorlage aller Dokumente und den süßesten Überredungsversuchen für uns nicht möglich. Und genau das ist hier so interessant. Hier finden wir uns doch im eingangs beschriebenen theatralen Raum wieder. Ein unüberquerbarer Grenzübergang. Menschen – hier eben die Spieler_innen –, die vor einer unbekannten Gefahr fliehen wollen, die das Ziel haben, einfach rauszukommen und zu sehen, was auf der anderen Seite ist. Manchmal kommt einem diese andere Seite wie das unerreichbare Paradies vor. Es muss da so schön sein. Das Gefühl kommt auf, nicht an den übermächtigen Instanzen vorbeizukommen und das ‚Paradies‘ nicht zu erreichen, egal, wie sehr man sich bemüht. Egal, wie viele Dokumente man sich erkämpft hat, alles ist da – nur nicht die Erlaubnis. Das Spiel lässt uns nachdenklich und im ersten Moment unbefriedigt zurück. Es ist vorbei, es hat nicht funktioniert, ich habe es nicht geschafft. Und trotzdem habe ich gewonnen, so viele Eindrücke und Erfahrungen. Gefühle, über die ich nachdenken kann. Noch Jahre später.

       WO BLEIBT HIER DAS LIVE-ROLLENSPIEL?

      Mit dem Beispiel von Right of Passage habe ich versucht, die aktuelle Vielfalt der Formen immersiver Performances anzudeuten, zu denen sich vielleicht auch Live-Rollenspiele zählen lassen. Auch wenn man die kleinen Unterschiede bedenkt, überwiegen doch die Gemeinsamkeiten. Vielleicht könnte man das Computerspieltheater zwischen einer klassischen Theaterform mit passivem Publikum, wie eingangs beschrieben, und Larp einordnen, gewissermaßen als Zwischenstufe.

      Die Teilnehmer_innen bei machina eX haben eine tragende Rolle. Ohne sie schreitet die Handlung nicht voran, sie sind gewissermaßen die handelnden Spieler_innen, während die Performer_innen als Teil des Programms die verschiedenen Spielzüge anleitend unterstützen. Eben wie in einem Computerspiel im Point‘n‘Click-Adventure-Style. Beim Larp gibt es schließlich gar kein Publikum im klassischen Sinn mehr und auf den ersten Blick auch keine Unterscheidung zwischen Teilnehmer_innen und Performer_innen. Vielleicht übernehmen hier am ehesten die NSCs die Rolle der ‚Avatare‘ oder Performer_innen mit mehr Wissen und eben auch Aufgaben vonseiten der Spielleitung beziehungsweise Regie.

      Jede dieser Theater-, Performance- oder Spielformen, wie immer man sie in ihrer wunderbaren Vielfalt auch benennen oder zusammenfassen möchte, ist ein Abenteuer. Für eine gewisse Zeit, seien es Stunden oder Tage oder – für Fortgeschrittene – sogar Monate und Jahre, können wir den Alltag mit Fiktion und Immersion durchbrechen. Wir können die Augen öffnen und uns in einer anderen Welt wiederfinden und jemand anderes oder eben – nur und genau hier – wir selbst sein. Und auch wenn wir versagen oder einen Fehler machen oder dummerweise dem Krummsäbel des feindlichen Piraten nicht schnell genug ausgewichen sind – am Ende ist alles nur ein Spiel. Ein Spiel mit echten Emotionen und Handlungen, nicht nur gedacht, sondern auch erlebt. Und die neue Rolle ist nur einige Gedanken, Wünsche und Träume weit entfernt.

       INTERNETSEITEN

      machina eX, http://machinaex.de

      SIGNA, http://signa.dk/

      Thomas Bo Nilsson, https://m.facebook.com/nilssonthomasbo

      ÓRLA FIONA WITTKE studiert Theaterwissenschaft und AVL an der Freien

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