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Moss versuchsweise. Vielleicht war das Ganze ein Traum?

      »Das sollte ich wohl, ja«, sagte der Mann. »Oh, wie sehen Sie bloß aus!«

      »Sie sehen auch nicht so besonders aus«, erwiderte Moss ärgerlich. Sie wartete darauf, daß der Traum aufhörte.

      »Sie sehen nicht doppelt, oder?«

      »Nein«, sagte Moss. »Glücklicherweise nicht.«

      Ihr Sarkasmus ging offenbar an ihm vorbei.

      »Ist Ihnen schlecht?«

      »Was zum Teufel soll das hier eigentlich?« fragte Moss und versuchte sich auf den Ellbogen zu stützen. In ihrem Kopf pochte es, und die Haut über dem einen Auge spannte.

      »Ein verdammtes Veilchen«, sagte die Stimme. »Soll ich Ihnen einen Spiegel holen?«

      Es war ein verdammtes Veilchen. Tief rotviolett und hing wie eine halbe Reineclaude unter der Braue. Darüber und darunter schimmerten verschiedene zarte Blautöne. Das würde in den nächsten Tagen noch schlimmer werden – ein blaues Auge hatte sie nicht zum ersten Mal.

      Langsam richtete sie sich ganz auf.

      Schüttelte vorsichtig den Kopf.

      Beugte ihn vor und zurück. Alles schien an seinem Platz zu sein.

      Dann saß sie mit angezogenen Knien da und starrte den Mann mit dem Raucherhusten an.

      »Wollen Sie einen Kaffee, oder darf es ein Bier sein?« fragte er zuvorkommend.

      Moss schluckte.

      »Sie haben nicht zufällig Mineralwasser oder so?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Ich bin so durstig«, sagte sie. »Vielleicht kann ich doch ein Bier kriegen? Aber nur ein kleines!«

      Sie hob die Hand und betastete vorsichtig das geschwollene Auge. Der Mann mit dem Raucherhusten ging hinaus.

      Sie träumte offenbar nicht. Es mußte der Sturz von der Sandböschung gewesen sein, von dem sie ohnmächtig geworden war.

      Allerdings viel später, das war merkwürdig.

      Und der Mann, der tot auf dem Parkplatz gelegen hatte, was war aus ihm geworden? Sie stöhnte und lehnte den Kopf an die Wand. Hinter dem verklebten Auge krabbelte und wimmelte es nur so von beweglichen Punkten, Formen schwollen an und verschwanden, Sternregen, und dann stiegen neue Muster auf, für einen Moment sahen sie aus wie Darstellungen von Bakterien in alten Nachschlagewerken. ›Unser Heim und unsere Kinder‹, Band eins über Krankheitserreger im Alltag, Typhusbakterien, Cholera.

      Plötzlich war ihr übel, und sie versuchte mit aller Kraft, das zugeschwollene Augenlid zu öffnen, um das Gewimmel zum Stillstand zu bringen. Weit entfernt hörte sie Stimmen, Schritte über Fußböden, Tassen und Schüsseln klapperten.

      »Aber so tu doch was, Mensch«, sagte auf einmal jemand, ziemlich nahe an der Tür. Diesmal war es eine Frauenstimme. »Sie kann doch nicht einfach da rumliegen!«

      Genau, dachte Moss. Das kann ich nicht!

      Sie sah Richtung Tür, aber niemand kam herein, und die Schritte entfernten sich wieder. Es war doch wirklich das Allerletzte, hier herumzuliegen, nicht zu wissen, warum, und sich so mies zu fühlen, daß man kaum aufrecht sitzen und erst recht nicht tatkräftig handeln konnte. Ha! Das gab es wohl nur in Romanen, Helden, die sich erhoben und sofort weitereilten, nachdem sie eben noch vollkommen erledigt gewesen waren!

      Stimmen hoben und senkten sich wieder, aber jetzt waren sie so weit entfernt, daß sie nicht hören konnte, was sie sagten. Moss schlug die Bettdecke zur Seite und stellte probehalber das eine Bein auf den Boden. Rissiges eiskaltes Linoleum unter ihrer Fußsohle. Sie blickte an sich hinab, sie trug eine Unterhose und das T-Shirt, das sie unter dem Pullover gehabt hatte, als sie nach Stavanger gefahren war.

      Dann zog sie das Bein wieder zu sich.

      Seitdem konnten doch nicht etwa mehrere Tage vergangen sein? Ihr wurde heiß. Lag sie schon lange hier? Nein, entschied sie nach einigen Sekunden, und ihr Herz beruhigte sich ein wenig. Wenn ihr blaues Auge das Resultat des Strandausflugs war, konnte gerade mal die Nacht vergangen sein.

      Ein blaues Auge hatte sie, wie gesagt, nicht zum ersten Mal.

      Sie schloß die Augen und lehnte den Kopf wieder an die Wand. Ließ allmählich den Gedanken zu, der die ganze Zeit in ihrem Hinterkopf herumschwirrte.

      Jemand konnte sie zusammengeschlagen haben.

      Weil sie gesehen hatte, daß der Mann tot war.

      In diesem Moment hörte sie wieder Stimmen. »Na gut! Aber dann müssen wir mit ihr reden!«

      Die Tür wurde aufgerissen.

      Es war der Junge von gestern. Der mit der Taschenlampe. Jetzt stand er an der Tür und schaute sie an, als hätte sie ihm die Brieftasche gestohlen, mindestens.

      Mißtrauisch.

      Die langen Haare waren hell und fettig und hingen in Strähnen auf die Schultern. Er war dünn und schmalschultrig, und die Jeansjacke war tailliert und eng und sah aus, als stammte sie aus dem Secondhandladen der Heilsarmee und aus der Hippiezeit.

      »Sie sind Detektivin«, sagte er, mehr konstatierend als fragend. »Wir ham in Ihre Tasche geguckt.«

      Moss blinzelte mit dem einen Auge. Tastete über die Bettdecke. Die Tasche, hatten sie ihre Tasche genommen? Sie wollte gerade etwas sagen, da sagte statt dessen der Junge etwas.

      »Gehören Sie zu denen oder beschatten Sie die bloß?«

      »Beschatten?« sagte Moss. »Beschatten?«

      »Sind Sie hinter ihnen her?« fragte er, jetzt ein wenig ungeduldiger. »Gehören Sie zu denen, oder sind Sie hinter ihnen her?«

      »Hinter ihnen her?« Moss fühlte sich wie die mythologische Gestalt, die immer das letzte Wort hatte, wie hieß sie noch? Echo, genau. Die Göttin Echo. Oder Nymphe oder was auch immer.

      »Wir ham Ihr Flugticket angeguckt«, sagte der Junge. »Sie sind gestern gekommen und beinahe sofort zum Orrestrand gefahren.«

      »Ich?« sagte Moss. »Ich ...«

      Sie schwieg. Es gab keinen Grund, fremden Jungs mit schlechtem Jackengeschmack ihre ganze traurige Geschichte zu erzählen. Er hatte ihr außerdem die ersehnte Auskunft gegeben – es war so, wie sie gedacht hatte, eine Nacht war vergangen, nicht mehr.

      Sie griff sich ans Auge. Die Hand fühlte sich kühl und angenehm an.

      »Ich bin nicht beruflich hier«, sagte sie kurz angebunden. »Ich hab keine Ahnung, was am ... Orrestrand passiert ist, oder wie hieß das noch? Ich hatte eine kurze ... Verabredung in der Stadt, und dann hab ich mir gedacht, ich werf noch mal einen Blick aufs Meer, bevor ich nach Oslo zurückfahre. Ein dummer Gedanke, okay, es wird früh dunkel, okay. Aber mußtet ihr mich deshalb unbedingt zusammenschlagen?«

      »Wir dachten, Sie sind eine von denen«, wiederholte der Junge.

      »Eine von welchen?« sagte Moss.

      Der Junge seufzte.

      Sah aus, als wüßte er nicht, wo er anfangen sollte. Dann räusperte er sich.

      »Der, den Sie gestern gesehen ham, der ... der da rumlag ... der Tote, das war mein Vater.«

      Er hielt sich am Türrahmen fest. Sein Blick flackerte.

      Moss fummelte an der Bettdecke herum. »Aha«, sagte sie. Es blitzte und funkelte hinter dem verklebten Auge. »Das ist ja ... das ist ja schrecklich.«

      »Die Typen, die ihn fertiggemacht ham, wir wissen, wer dahintersteckt, aber nicht, warum sie es getan ham. Und da ham wir uns gedacht, wir fragen Sie, ob Sie was wissen oder ob Sie es für uns rauskriegen können.«

      »Was?« sagte Moss.

      »Sie sind doch Detektivin«, fügte er erklärend hinzu.

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