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hob sie zufällig den Kopf und entdeckte sie. „Fährste mit?“ fragte die mit einem freundlichen Grinsen.

      „Oh, nein, nein, ich … ich muß noch was besorgen“, behauptete Hortense und ging rasch weiter.

      „Na, denn nicht“, sagte Rosa und steckte ihre Nase wieder in das Buch, „wer nich will, hat schon gehabt.“

      Erst nach etwa dreißig Metern wagte Hortense sich noch einmal umzudrehen. Gerade kam der Bus an, und Rosa stieg ein. Nun hätte Hortense ja unbesorgt zurückgehen und auf den nächsten warten können. Aber es wurde ihr klar, daß sie eigentlich immer noch keine Lust hatte, nach Hause zu fahren. Was sollte sie denn mutterseelenallein in der leeren Wohnung. Lieber wollte sie etwas unternehmen, auch wenn die Freundinnen sie im Stich gelassen hatten. Rasch ging sie weiter, die Augen auf die weihnachtlich dekorierten Schaufenster gerichtet.

      Nach wenigen Minuten erreichte sie die Fußgängerzone. Hier lag das Kaufhaus Holdermann. Im ersten Zwischenstock gab es eine Caféteria, in der man gut und billig essen konnte. Hortense kam zu dem Entschluß, sich dort eine Flasche Cola und zwei Berliner Pfannkuchen, auch Krapfen genannt, zu gönnen. Sie hatte einen guten Appetit und würde das Essen, das ihr die Mutter vorbereitet hatte, mit Leichtigkeit zusätzlich vertilgen können.

      Durch die weit geöffneten Türen betrat sie das Erdgeschoß des Kaufhauses. Drinnen war, wie immer, viel los. Aus den Lautsprechern erklang einschmeichelnde Musik. Ein Mann im weißen Kittel pries eine patentierte Kartoffelschälmaschine an. Hortense blieb eine Weile stehen und hörte ihm zu.

      Danach wühlte sie in einem Haufen Pullis zu herabgesetzten Preisen, von denen ihr keiner gefiel. Sie schlenderte durch die Kosmetikabteilung, aber als sie einen Taschenspiegel berührte, war gleich eine Verkäuferin zur Stelle.

      „Ach nein“, sagte Hortense rasch, „ich wollte ihn mir nur mal ansehen.“ Sie machte, daß sie davonkam und ärgerte sich ein wenig über das Mißtrauen der jungen Frau.

      Erst am Stand mit Modeschmuck blieb sie wieder stehen. Sie betrachtete die glitzernden Armbänder, Broschen, Anstecknadeln und Ringe. Ein breiter Armreif, weiß und rot emailliert, stach ihr sofort ins Auge.

      Mit einem vorsichtigen Blick vergewisserte sie sich, daß niemand auf sie achtete. Dann packte sie blitzschnell zu und ließ den Armreif in der Tasche ihres Anoraks verschwinden. Betont langsam ging sie weiter und gab sich Mühe, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte.

      Sie war ganz sicher, daß niemand sie bemerkt hatte, aber die Nerven, im Kaufhaus Holdermann noch etwas zu verzehren, hatte sie denn doch nicht. Ruhig, aber zielstrebig, ging sie dem Ausgang zu und atmete auf, als sie wieder in der frischen Luft stand. Den schweren Armreif hielt sie in der Tasche fest umklammert.

      Ihr Herz ging wieder in den gewohnten, gleichmäßigen Takt über. Das Schlimmste war überstanden, aber auch die irre abenteuerliche Erregung war vorbei.

      Was blieb, war nur das Armband, und sie wußte gar nicht recht, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte schon ein paar solcher Sachen in einer Schachtel auf dem Schrank in ihrem Zimmer versteckt. Manchmal schaute sie sie an, aber das war nicht halb so aufregend wie das Klauen selber, nicht einmal dann, wenn sie sich einredete, daß ihre Mutter sie eines Tages dabei erwischen würde.

      Tatsächlich war das ziemlich unwahrscheinlich, denn die Mutter schnüffelte nicht in ihren Sachen herum. Vielleicht konnte sie ihr den Armreif zu Weihnachten schenken? Das wollte sie sich später überlegen. Jetzt erst einmal wollte sie ihn nach Hause und in Sicherheit bringen.

      Rosa erweist sich als Retter in der Not

      In den nächsten Tagen schneite es weiter. Aber in der Innenstadt und auch im Vorort Haidhausen, wo Hortense wohnte, wurde der Schnee rasch von vielen Füßen zusammengetrampelt und von Autos und Bussen auf der Fahrbahn in einen häßlichen braun-grauen Matsch verwandelt, den die Räummaschinen zu kleinen Wällen aufschütteten.

      Hortense bekam Sehnsucht nach richtigem Winter. Allein in der leeren Wohnung war es ihr zu langweilig, und zum Lernen hatte sie keine Lust. So zog sie ihren roten Anorak an, setzte die Pelzmütze auf, steckte Schlüssel und Geldbörse ein, verließ das Haus und lief zur Bushaltestelle. Doch heute fuhr sie nicht in die Stadt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Das hatte sie noch nie getan, aber sie wußte, an der Endstation begann das Land.

      Während der Fahrt gab es nicht viel zu sehen; die Straßen wurden von gleichförmigen modernen Neubauten und von Baustellen gesäumt. Dann endlich zeigte sich eine richtige Schneelandschaft: Schrebergärten mit kleinen Holzhütten darin, die aussahen, als würden sie unter der Last des Schnees gleich zusammenbrechen. Auch die Latten und Pfosten der Zäune hatten lustige weiße Kappen.

      Als der Bus an der Endhaltestelle hielt, begann es zu schneien. Reine, weiße, sehr große Flocken sanken langsam vom Himmel und legten sich zart und still auf die Schneedecke.

      Vergnügt stieg Hortense aus, überquerte die Straße und bog in einen ziemlich breiten Weg ein. Es roch nach Schnee und Winterfrische. Die Hände in den Taschen ihres Anoraks, stapfte sie voran. Den Kopf hatte sie weit zurück in den Nacken gelegt und versuchte, mit offenem Mund Schneeflocken zu schnappen.

      Der Schneefall dauerte nicht lange; er hörte so plötzlich auf wie er eingesetzt hatte. Ein Berg tauchte vor Hortense auf – nein, es war kein richtiger Berg, aber immerhin doch ein ganz ansehnlicher Hügel, auf dem Kinder auf Skiern und mit Schlitten herumkletterten und von oben hinunterrutschten.

      Jetzt ärgerte sich Hortense, daß sie nicht daran gedacht hatte, die eigenen Skier mitzunehmen. Sie blieb am Fuß des Hügels stehen, guckte den anderen zu und überlegte, ob sie nicht eines der Mädchen bitten könnte, sie mitrodeln zu lassen.

      Aber dann erkannte sie Rosa, die unmögliche Rosa, und sofort wandte sie sich ab und marschierte weiter.

      Inständig hoffte sie, daß die Mitschülerin sie nicht erkannt haben möge. Rosa war zu allem fähig. Sie konnte auf sie zustürzen und sich bei ihr einhängen als wären sie die allerbesten Freundinnen. Sie konnte sie aber genausogut vor den anderen aufziehen und lächerlich machen. Hortense traute ihr sogar zu, daß sie ein paar Spielkameraden aufhetzte, sie zu fangen, mit Schnee zu waschen oder sie womöglich mit dem Kopf in den Schnee zu stecken.

      Hortense zog die Schultern hoch und wäre am liebsten losgerannt. Es kostete sie Anstrengung, unbekümmert zu tun. Wenn Rosa sie gesehen hatte, so durfte sie auf keinen Fall etwas von ihrer Angst merken. Das hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht.

      Erst nach ein paar Minuten, als nichts geschah, niemand ihr nachkam oder ihr zurief, fand Hortense ihr seelisches Gleichgewicht wieder. Sie kam an einen kleinen Teich – eigentlich war es wohl nur ein Baggerloch –, der zugefroren war.

      Am Rand stand ein wackliges Schild, auf dem in schwarzen, Lettern zu lesen stand: „Lebensgefahr! Das Betreten der Eisfläche ist bei Strafe verboten!“

      Aber das schien niemand so ernst zu nehmen. Jedenfalls liefen einige Kinder unbekümmert Schlittschuhe. Ein paar Jungen hatten sich am Rand eine lange Schlitterbahn geschaffen, auf der sie mit Schwung entlangrutschten.

      Hortense blieb eine Weile am Ufer stehen. Aber die verschneite Eisfläche übte eine sonderbare Anziehungskraft auf sie aus. Schritt für Schritt trat sie vor. Die Eisdecke wirkte ganz fest. Man brauchte schon viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß darunter dunkles Wasser stand. Immer weiter zog es Hortense hinaus. Manchmal krachte das Eis unter ihren Füßen, und dann blieb sie jedesmal stehen.

      Ein bißchen Angst hatte sie schon auf dem Eis. Aber es war aufregend und machte Spaß. Daß eine wirkliche Gefahr bestand, daran dachte sie keinen Augenblick. Das Baggerloch hatte ja nur einen Durchmesser von sicher nicht mehr als zweihundert Meter. Es war heller Tag, und ringsum waren Menschen.

      Wenn sie das andere Ufer erreicht hatte, wollte sie am Rand entlang zurückkehren, einen großen Bogen um den Abhang schlagen und mit dem nächsten Bus nach Hause fahren. Dann würde ihre Abenteuerlust für heute gestillt sein.

      Jetzt hatte sie schon die Mitte erreicht,

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