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seit vielen Jahren dafür zu berücksichtigen, welche beziehungsgestaltenden Auswirkungen mit dem Symptomerleben einhergehen, und etwa Loyalitätsleistungen, die sich in den Symptomen zeigen, zu beachten und zu utilisieren. Mit solchem Vorgehen kann nicht nur gezeigt werden, dass die Kompetenzen, die für hilfreiche Lösungen benötigt werden, so gut wie immer schon im Erfahrungsrepertoire der Betroffenen gespeichert sind und dass die Symptomatik keineswegs durch einen grundsätzlichen Mangel an Kompetenz begründet ist. Es zeigt sich auch, dass es auf unbewusster Ebene oft Befürchtungen gibt, es könnten sich ungewünschte Auswirkungen ergeben, wenn man dauerhaft wirksam seine Kompetenzen für hilfreiche Lösungen aktivieren und nutzen würde. Diese Befürchtungen beziehen sich meistens nicht darauf, dass man selbst belastet werden könnte, sondern dass andere durch die Lösung Probleme erleiden könnten. Die Symptomatik lässt sich also auch als unbewusste Loyalitätsleistung verstehen und würdigen. Und das bisherige Nichtnutzen der Lösungskompetenzen kann als Ausdruck unbewusster Zielkonflikte verstanden werden.

      Dann wiederum wird verständlich, dass Widerstand gegen Besserung oder massive Ambivalenz auch geachtet und genutzt werden muss und dass dies keine »strategische Trickserei« darstellt, sondern Ausdruck eines ganzheitlich würdigenden Vorgehens im Dienste von tragfähigen, ausbalancierten Lösungen ist. Ortwin Meiss zeigt hier in vielen Beispielen sehr schön und überzeugend, wie sich das gestalten lässt. Hilfreich finde ich, dass er dabei Symptome wie zum Beispiel Suchtverhalten als Quasi-Beziehungspartner utilisiert. Die beziehungsgestaltenden Wirkungen können so noch anschaulicher erlebt und verstanden werden. Auch hier vertrete ich ähnliche Positionen und habe in vielen Arbeiten dargelegt, wie aus systemischer Sicht Symptome wie »Familienmitglieder« wirken und dementsprechend genutzt werden können. So lassen sich Symptome sogar zu hilfreichen Ratgebern transformieren. In unserer Arbeit in der sysTelios-Klinik berichten sehr viele Klienten, dass gerade diese Perspektive ihnen sehr nutzt und sie in ihrer Autonomie unterstützt.

      Ein weiterer Umstand, den Ortwin Meiss anschaulich und treffsicher beschreibt, ist die Gefahr einer entwürdigenden Oben-unten-Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten, die häufig mit einer Pathologie-Sichtweise einhergeht. Dem stellt er überzeugende Argumente für eine Gestaltung der Beziehung auf Augenhöhe entgegen, gerade bei Klienten mit Depressionen. Dafür übrigens halte ich es für unerlässlich, dass man den Klienten transparente Erklärungen über das eigene Vorgehen anbietet – ich nenne das »Produktinformationen« – und jedes Interventionsangebot verknüpft mit der Bitte um Rückmeldungen dazu, wie die Intervention ankommt und wirkt. So wird jede Reaktion, jede Rückmeldung des Klienten zur wertvollen Anleitung dafür, die therapeutischen Angebote danach auszurichten und die Interventionen an diese Rückmeldungen anzupassen. Damit wird auch deutlich, dass es nicht passend wäre, von »Pacing und Leading« zu sprechen, wenn damit gemeint sein soll, dass der Therapeut in der Kooperation führen würde. Wenn jemand führt, dann ist es der Klient mit seinen Rückmeldungen, denn Bedeutung und Wirkung einer Botschaft bestimmt ja nicht der Sender (z. B. der Therapeut mit seiner Intervention), sondern der Empfänger, also der autonom reagierende Klient. So wird Kooperation auf Augenhöhe erst kongruent wirksam.

      In ähnliche Richtung gehen auch die Ideen von Ortwin Meiss, zu Beginn der Kooperation, aber ebenso im weiteren Verlauf der Therapie, auch im niederdrückenden (»depressiven«) Erleben einfach mal so sein zu dürfen, dies nicht gleich ändern zu müssen. Klienten sind (in der Terminologie von »Anteilen« oder »Seiten der Person« gesprochen) zunächst am meisten in Kontakt mit dem Ich, das sich ohnmächtig und völlig inkompetent fühlt. Dieses Ich bekommt gleichzeitig enormen Druck von einer gnadenlos-perfektionistischen anderen »Seite« in der Person. Empathisches, wertschätzendes Pacing für das leidvolle Erleben und die Unterstützung dafür, erst mal gar nichts verändern zu müssen, macht daher eine besonders wirksame Veränderung des bisherigen Problemmusters möglich. Auch wenn solche Interventionsangebote oft als »paradoxe Intervention« missverstanden werden: Sie sind keineswegs paradox.

      Sehr gut finde ich auch, dass Ortwin Meiss gute Argumente dafür anführt, Burnout und Depression klar zu unterscheiden. Viele Psychiater gehen davon aus, dass Burnout nur eine Modebezeichnung für Depressionen sei. Dagegen sprechen viele Aspekte, die hier differenziert berücksichtig werden. Ich bin sicher, dass seine Argumente für viele Betroffene sehr hilfreich sind, denn nach meiner Erfahrung erleben sie sich durch die Diagnose »Depression« häufig als abgewertet und als schwach und unfähig gezeichnet, was ihnen zusätzliche Probleme einbringt.

      Dafür, dass der Autor auch für »Borderline-Störungen« und für die Entwicklung von Scham-Prozessen einen Kompetenz-Fokus berücksichtigt, muss man ihm besonders dankbar sein. So wird deutlich gemacht, dass zum Beispiel hinter Scham die Furcht vor dem Verlust von Zugehörigkeit zur relevanten Bezugsgruppe steht. Diese Erkenntnis wiederum hilft, Lösungs- und Ressourcen-Hypothesen zu entwickeln, etwa im Hinblick auf die Frage, was helfen könnte, wieder mehr Zugehörigkeitserleben und Sicherheit in Beziehungen aufzubauen. Auch das verschiebt den Fokus von einer einseitigen Problemfixierung hin zu Ressourcenprozessen.

      Sehr nützlich finde ich den Umgang mit Suizidideen. Ortwin Meiss utilisiert sie durch Fragen wie »Was möchten Sie mit dem Suizid erreichen?« und arbeitet damit die Bedürfnisse von Klienten konstruktiv heraus. Auf die Frage, wohin sie in ihrer Vorstellung gelangen, wenn ein Suizid gelingen würde, entwickeln die meisten Klienten Fantasien über ersehntes Erleben, sodass man zu dem Schluss kommen kann, sie wollten sich offenbar das ersehnte Leben geben, nicht nehmen. Solche Fragen führen also, wenn man sie systematisch aufbaut, keineswegs dazu, dass die Suizidgefahr größer wird, ganz im Gegenteil. Mit ihnen lassen sich Suizidtendenz übersetzen als wertvolle Information über Bedürfnisse in diesem Leben und wirksame Schritte für die Kooperation entwickeln. So wird dieses Vorgehen zur besonders effektiven Suizidprophylaxe. Ortwin Meiss vermitteltt auch diese Art des Vorgehens sehr anschaulich und gut lernbar.

      Ähnlich hilfreich finde ich die vorgestellten Ideen für Interventionen bei erlebten Traumata. Manche Experten formulieren ja (aus meiner Sicht zu Recht) Sätze wie »Hinter jeder Depression stecken traumatische Erfahrungen«. Diesen Umstand berücksichtigt der Autor sehr kompetent. Das anschaulich beschriebene Vorgehen lässt sich nicht nur gut für die Arbeit mit Depressionen nutzen, sondern auch in jeder direkt als »Traumatherapie« definierten Arbeit.

      Ich habe die Lektüre dieses Buches durchgehend sehr genossen, die Kreativität und der enorm reiche Schatz professioneller Kompetenz des Autors haben mir viele wertvolle Anregungen gegeben. Dafür bin ich sehr dankbar. Und ich kann jedem, der mit den behandelten Themen, aber auch mit anderen Aufgaben im Bereich der Psychotherapie und Beratung zu tun hat, nur empfehlen, sich zur Vertiefung dieser Ansätze Weiterbildungen mit Ortwin Meiss zu gönnen. Durch viele Rückmeldungen von Teilnehmern seiner Seminare weiß ich zuverlässig, wie hervorragend auch da seine Angebote sind. Und ich hoffe und glaube, dass dieses Buch nachhaltig wirksamen Einfluss auf viele Kollegen haben wird – und damit auch darauf, dass Defizit-Sichtweisen von »Depressionen« immer weniger und dafür achtungsvoll kompetenzfokussierende Herangehensweisen immer mehr werden. Deshalb wünsche ich diesem Buch sehr große Resonanz und viel Erfolg, aber ich bin auch sicher, dass es beides haben wird.

       Heidelberg, im Januar 2016 Dr. med. Dipl.-Volksw. Gunther Schmidt Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg Ärztlicher Direktor der sysTelios-Klinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung Siedelsbrunn

       Vorwort

      In der Behandlung von depressiven und Burnout-Patienten gibt es im Wesentlichen zwei Ansätze, die miteinander konkurrieren und auch kombiniert werden. Die Verordnung von Medikamenten, insbesondere von Antidepressiva, und die psychotherapeutische Behandlung, wobei vor allem die Kognitive Verhaltenstherapie zur Anwendung kommt. Während die Psychotherapeuten die Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlungen betonen, sind viele medizinisch ausgebildete Fachleute der Meinung, mit der Behandlung durch Antidepressiva sei das Notwendige getan. Dies sei praktisch, leicht durchführbar und entspräche in vielen Fällen den Wünschen der Patienten. Zudem sei die Wirkung der Medikamente wissenschaftlich belegt.

       Antidepressiva und Placebowirkung

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