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Reiterstübel.“

      An einem Ende der Reithalle, der Tür gegenüber, befand sich eine verglaste Empore. Dort standen Tische und Stühle und eine kleine Theke, wo man Kaffee, Cola oder auch ein Viertel Wein bestellen konnte, wenn man saß und in die Halle hinuntersah, wo geritten wurde. Da man dort etwas verzehren und natürlich bezahlen mußte, war Anja noch nie dort gewesen. Petra aber kannte die junge Frau, die den Kaffee kochte und die anderen Getränke ausschenkte, sie hatte ihr oft geholfen, wenn beim Turnier oder beim Weihnachtsreiten sehr viel zu tun war.

      „Das ist unsere liebe, gute Toni“, stellte sie vor, „und das ist Anja, seit gestern im Reitverein. Dürfen wir Ihnen was helfen, Müllbeutel wegtragen oder –“

      „Im Augenblick nicht, danke.“ Fräulein Toni lächelte. Sie kannte Petra und mochte sie sehr gern. „Ein paar Briefe könntet ihr nachher mitnehmen und einstecken, ja? Ich kann hier nämlich nicht weg. Aber nicht in die Tasche, sondern in den Briefkasten stecken, bitte schön.“

      „Wir schwören! Komm, Anja, jetzt gehen wir noch zur Mutter Taube. Das ist die Mutter vom Reitlehrer, und sie wohnt hier.“ Sie drängte sich an der Theke vorbei und kletterte eine schmale und steile Treppe hinauf, Anja hinter sich herziehend. „Du mußt doch alles kennen, und gerade Mutter Taube braucht manchmal jemanden …“ Petra klopfte an eine Tür. Von drinnen hörte man ein freundliches „Herein!“

      Petra öffnete. Ein winziges Zimmer, zwei Fenster über Eck, helle, bunt bezogene Möbel. Unter der Dachschräge eine Schlafcouch, am Fenster ein Großmutterstuhl, ein richtiger Ohrenbackensessel von früher, breit, gemütlich, mit Armlehnen. Auf dem Fensterbrett blaue, rote und weiße Hyazinthen, die süß dufteten. Im Lehnstuhl saß eine Frau, nicht mehr jung, aber auch noch keine Großmutter. Sie hatte kurzes, gelocktes Haar, in dessen Dunkel weiße Fädchen schimmerten, und die schönsten braunen Augen, die Anja je gesehen hatte.

      „Guten Tag, Frau Taube“, rief Petra und zog Anja, die hinter ihr stand, vor den Großmuttersessel. „Das ist Anja, meine allerbeste Freundin. Und das ist die Täubin, die Mutter von unserem verehrten und gefürchteten Reitlehrer. Er war übrigens heute recht sanft und milde, sanft wie sein Name, wahrscheinlich, um Anja nicht zu vergrämen. Sie hatte ihre erste Voltigierstunde, da können Sie sich ja vorstellen, wie ihr zumute war.“

      „Das kann ich.“ Frau Taube nickte, legte ihr Strickzeug aufs Fensterbrett und streckte Anja die Hand entgegen. „Wie nett, daß ihr mich besucht! Du willst also reiten lernen?“

      „Ja. Furchtbar gern. Am allerliebsten von allem“, sagte Anja. Sie war kein bißchen verlegen.

      „Du hattest heute die erste Stunde? Da bist du bestimmt furchtbar durstig. Petra –“

      „Ich weiß, ich weiß! Himbeere oder Zitrone?“ fragte Petra eifrig, die inzwischen in einem Eck des Zimmers ein Schränkchen aufgemacht hatte. „Hier, beides da, was soll ich bringen?“

      „Was möchtest du, Anja?“ fragte Frau Taube.

      „Zitrone bitte, wenn ich darf. Die löscht besser“, sagte Anja. Ihr klebte die Zunge am Gaumen.

      „So, hier.“ Petra stellte ein großes Glas vor Anja auf den Tisch, der neben dem Lehnstuhl stand. „Und Sie bekommen Kaffee, Frau Taube, nicht wahr? Sie möchten doch immer Kaffee.“

      „Ja, bitte. Schon allein wegen des Duftes. Weißt du, Petra, daß jeder Monat bei mir einen bestimmten Duft hat? Der Februar zum Beispiel, den wir jetzt haben, duftet nach Hyazinthen und Bohnenkaffee, und die Sonne muß draußen auf den Schnee, der auf dem Fensterbrett liegt, scheinen, so wie jetzt …“

      „Und sonst? Wie riecht der März?“ fragte Anja – sie hatte im März Geburtstag –, nachdem sie nach einem langen Zug das Glas geleert und abgestellt hatte.

      „Was für eine Frage! Nach Veilchen! Der März ist doch der Monat der allerersten Blumen, und das sind, nach den Schneeglöckchen, die Veilchen.“

      „Und zum Juni gehören die Rosen!“ rief Petra aus ihrer Kochecke heraus, „im Juni hab’ ich Geburtstag. Ich bin ein Junikäfer!“

      „Haben wirklich alle Monate einen Duft?“ fragte Anja jetzt ein wenig zweifelnd. „Der Dezember riecht bestimmt nach Kerzen und bitterem Tannenduft und Pfefferkuchen und Gutseln. Aber zum Beispiel der November?“

      „Der hat auch einen ganz bestimmten Duft“, sagte Frau Taube und lachte. „Der November – weißt du, daß ich den ganz besonders liebe? Weil ihn sonst niemand leiden kann, den armen. Dabei kann er wunderschön sein, geheimnisvoll mit Nebel und gegen Ende mit dem ersten Schnee, auf den man sich ja immer so freut. Aber vorher, von Anfang an, da riecht er nach –“

      „Nach?“ fragten beide Mädchen wie aus einem Mund, als Frau Taube innehielt.

      „Nach neugestrichenem Ofenrohr“, sagte sie und lachte über die verblüfften Gesichter der beiden. „Man streicht doch im Herbst die Ofenrohre neu mit Silberfarbe, und wenn man dann das erste Mal heizt, riecht, richtiger: stinkt es danach. Ganz unvergeßlich!“

      „Wirklich?“ fragte Petra ein wenig schüchtern, die in einem Haus mit Zentralheizung aufgewachsen war. Vielleicht machte Frau Taube nur Spaß.

      „Wirklich! Und nach Zusammenrücken und Gemütlichkeit und Einanderliebhaben“, sagte diese ganz leise und ernsthaft. „Ich hatte eine Tante, die sagte an einem der ersten Tage mit garstigem Wetter immer: ,Kinder, die schlechte Jahreszeit kommt, wir wollen einander noch lieber haben.’ Das hab’ ich nie vergessen.“

      „Das ist auch schön“, sagte Petra nach einem Augenblick des Schweigens. „Das gefällt mir. Und ich will es auch nicht vergessen.“

      „Und der Oktober riecht nach Herbstlaub, nach Jagden über gemähte Wiesen und Stoppelfelder.“

      „Hach, ja, wunderbar! Vielleicht reite ich im Herbst eine Jagd mit“, sagte Petra.

      Frau Taube sah sie an.

      „Ich wünsch’ es dir. Ich bin viele Jagden geritten.“

      „Ja? Haben Sie auch –“

      „Den Fuchsschwanz erwischt? Siebenmal“, Frau Taube nickte und deutete zum Kopfende ihrer Schlafcouch hin. „Dort hängen sie und auch die Brüche. Man bekommt doch bei jeder Jagd einen Bruch, den hebt man sich auf. Seht euch nur alles an, auf den Schleifen steht, wann es war und welche Jagden es waren. Dort eine Wald jagd, und da eine mit Meute …“

      „Mit Meute?“ fragte Anja.

      „Ja, man nennt das so, wenn Hunde voranlaufen. Braungefleckte Hunde, immer zwei und zwei zusammengekoppelt. Das alles wirst du noch erleben. Das alles wartet auf dich. Freust du dich?“

      „O ja! Aber – –“

      „Was denn: aber?“ fragte Frau Taube.

      „Weil Sie jetzt –“ Anja sprach nicht weiter. Frau Taube schien auch so zu verstehen, und sie nickte.

      „Du meinst – nun ja. Alles zu seiner Zeit. Ich erzähl’ dir später davon, wenn es einmal paßt. Heute erzählt lieber ihr mir etwas! Wollt ihr?“

      „Anja ist raufgekommen auf die Rosina, gleich beim erstenmal!“ sagte Petra eifrig, hob den Wasserkessel und goß den Kaffee auf. „Sie ist in den Weihnachtsferien das erste Mal geritten. Draußen, im Gelände. Bei Bekannten. Und in der ersten Voltigierstunde kam sie sofort rauf.“

      „Das ist gut. Mit Voltigieren fängt es an. Mit Voltigieren und Runterpurzeln und Wiederaufstehen und von neuem probieren …“

      „Kann sie gar nicht mehr laufen?“ fragte Anja, als sie sich verabschiedet hatten und miteinander die steile Treppe hinunterstiegen. Petra sah sich um.

      „Frau Taube? Doch, etwas. Aber nur sehr mühsam … Es war übrigens kein Sturz vom Pferd, sondern ein Autounfall, glaub’ ich. Aber sie ist vorher viel geritten und läßt sich überhaupt nichts anmerken. Das ist doch großartig. Tapfer sein, ohne es zu zeigen, das ist, meine ich, die allergrößte Tapferkeit. Und sie würde so gern wenigstens

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