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Adoptivkind Michaela. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Adoptivkind Michaela
Год выпуска 0
isbn 9788711719572
Автор произведения Marie Louise Fischer
Серия Michaela
Издательство Bookwire
Jeder Junge, der zum erstenmal ins »Rock ’n’ Roll« kam, mußte ein Stück seiner Krawatte opfern. Damit galt er als eingeführt. Aber durchaus nicht jedem wurde diese Ehre zuteil, denn die Stammgäste achteten streng darauf, daß man unter sich blieb.
Michaela Schneider stampfte, die Augen mit den dunklen Wimpern leicht geschlossen, das blütenhafte Gesicht zu Gregor Hellmer erhoben. Sie genoß den betäubenden Rhythmus und die körperliche Nähe des jungen Mannes, die außerordentlich wohltuend und beruhigend auf sie wirkte.
Der Griff seiner warmen, trockenen Hände um ihre Taille war zart und doch fest, sie wußte, wenn sie die Augen aufschlug, würde sie gerade in sein bräunliches, braunäugiges Gesicht mit den lustigen Sommersprossen auf der Nase blicken. Sie sprachen kein Wort miteinander.
Dann war die Platte abgelaufen. »Komm!« sagte Gregor und nahm Michaela bei der Hand, noch bevor die Jungen, die sich sofort auf den Musikautomaten gestürzt hatten, sich über ihre Wahl der neuen Platte einig waren. Er zog Michaela an einen Tisch, der eng an der Rückwand eines Raumes stand, sie setzten sich. Gierig saugte Michaela an ihrem Strohhalm. Gregor zündete sich eine Zigarette an.
»Laß mich mal ziehen!« bat sie ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts für kleine Mädchen.«
»Nun sei doch nicht so.«
Er reichte ihr die Zigarette. Sie nahm einen tiefen Zug und verschluckte sich prompt. Sie mußte husten. Er klopfte ihr lachend auf den Rücken und nahm ihr die Zigarette wieder aus der Hand. »Das hätte ich dir gleich sagen können. Rauchen muß gelernt sein.«
»Quatsch. Ich habe schon oft geraucht.«
»Mir bist du jedenfalls lieber, wenn du es nicht tust.«
Sie sah ihn von unten herauf mit schrägen Augen an. »Sag mal, Greg, was hättest du eigentlich gemacht, wenn ich heute abend nicht gekommen wäre?«
Er grinste. »Wahrscheinlich hätte ich mich in mein Bettchen gelegt und hätte geweint.«
»Nein, ich meine — im Ernst! Mit wem hättest du getanzt?«
»Sieh dich mal um. Es sind massenhaft Mädchen da.«
Sie sagte, ohne den Blick von ihm zu lassen: »Eine gräßliche Fülle von Gesichtern!«
»Was willst du? Samstag abend.«
»Warum —« begann sie, aber dann unterbrach sie sich selbst.
»Ich merke schon, ich falle dir fürchterlich auf die Nerven …«
»Überhaupt nicht. Spuck heraus, was du auf dem Herzen hast!« Sie schlug die Augen nieder und zeichnete mit ihren spitzgefeilten, zartrosa lackierten Fingernägeln Striche und Kreise auf die Tischplatte. »Ich meine nur, du weißt genau, daß ich mich am Samstagabend am schlechtesten frei machen kann … und überhaupt, Samstag ist ein scheußlicher Tag zum Ausgehen. Warum also …«
»Weil ich wochentags arbeiten muß, Micky … Am Sonntagmorgen kann ich mich ausschlafen. Das ist die ganze Erklärung.«
»Du bist ein schrecklicher Spießer, nicht wahr?«
Er zuckte die Achseln. »Kann sein.«
»Wenn dir ein bißchen an mir liegen würde …«
Er legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. In seinen braunen Augen stand freundlicher Spott. »Was erwartest du eigentlich von mir? Daß ich dir einen Heiratsantrag mache, weil ich dich für das bezauberndste Wesen der Welt halte?«
»Warum eigentlich nicht?«
»Weil dir noch die Eierschalen hinter den Ohrwascheln kleben und ich selbst … Also bitte, Micky, mach dich nicht lächerlich. Ich bin jetzt das erste Jahr bei der Dresdner Bank — mein erstes Lehrjahr. In sieben Jahren verdiene ich frühestens genug, um … Du siehst gerade so aus, als wenn du sieben Jahre auf einen Mann warten würdest.«
»Warum nicht? Dann bin ich dreiundzwanzig, das wäre doch noch nicht zu alt.«
Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Nasenspitze.
»Wenn du zweiundzwanzig bist, reden wir wieder darüber, ja?«
»Du bist gemein.«
»Klar bin ich das.« Er horchte auf, der Automat hatte eine neue Platte aufgelegt, einen heißen Rock ’n’ Roll. »Komm!« sagte er, reichte ihr die Hand und zog sie hoch.
Sie tanzten wild und ausgelassen, ganz dem Rhythmus hingegeben. Michaela hielt ihren strahlenden Blick auf Gregor geheftet, der sie immer wieder rundum und um sich selbst wirbelte. Ihr blondes, schulterlanges Haar umschwebte ihren kleinen Kopf wie eine seidig schimmernde Wolke, das leuchtend rote Taftkleid mit dem weiten, schwingenden Rock und den vielen Petticoats betonte die Zartheit ihres jungen Körpers.
Michaela und Gregor ließen sich los und klatschten in die Hände. »Hei!« brüllten die Burschen aus vollem Halse — da unterbrach Gregor den Tanz, so plötzlich, daß Michaela, aus dem Rhythmus gerissen, stolperte. Er fing sie in seinen Armen auf. »Schnell!« flüsterte er. »Komm!«
Sie verstand nicht, sträubte sich gegen seinen Griff, wollte ihn zurückreißen. Aber er war stärker als sie und hatte sie schon mitgezerrt, bevor sie wußte, was vor sich ging. »Razzia!« sagte er scharf. Er hatte als erster die drei Herren in Zivil bemerkt, die langsam die Kellertreppe herunterkamen …
Von einer Sekunde auf die andere wechselte ihr Gesichtsausdruck, die ausgelassene Freude machte tiefem Schrecken Platz. »Was nun, Greg? Was sollen wir tun?«
Wortlos riß Gregor sie durch die Hintertür hinaus, sie glaubte ihn verstanden zu haben und wollte in einer der Damentoiletten verschwinden. Aber er zerrte sie am Handgelenk durch einen halbdunklen Gang mit sich fort, stieß eine eiserne Tür auf — sie standen im Heizungskeller.
»Meinst du, hier können wir bleiben?« flüsterte sie atemlos, als er sie losließ.
»Du mußt ’raus!« sagte er und machte sich schon daran, das Kellerfenster aufzustoßen.
»Aber …«
»Tu, was ich dir sage!«
Er faltete seine Hände zu einem Korb, sie trat hinein, er hob sie hoch und half ihr, durch das schmale Fenster hinauszukrabbeln. »Halte dich nach rechts!« rief er ihr zu. »Da ist ein Torweg — immer nach rechts! Und dann in die Garderobe vom >Studio fünfzehn« Warte auf mich!« Ihm fiel ein, daß sie draußen entsetzlich frieren mußte, er riß sich die Jacke herunter und stopfte sie ihr durch das Fenster nach. »So — und nun lauf!«
Das Klappern ihrer halbhohen Absätze war noch auf dem Pflaster zu hören, als die Tür des Heizungskellers aufgestoßen wurde und einer der Herren in Zivil eintrat. Gregor angelte in seiner Hosentasche nach seinem Zigarettenpäckchen, steckte sich eine Zigarette an und gab sich Mühe, so gleichmütig wie nur möglich auszusehen. »Was machen Sie denn hier, junger Mann?« fragte der Kriminalbeamte nicht einmal unfreundlich.
Gregor nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete: »Habe meine Dame nach Hause gebracht.«
Der Kriminalbeamte runzelte die Stirn. »Nach Hause?«
»Na klar. Durchs Fenster.«
Der Kriminalbeamte ging zum Fenster, öffnete die Klappe, ließ sie wieder fallen. »Und wie hieß die Dame?«
»Keine Ahnung. Habe sie erst heute abend aufgerissen.«
»Hm.« Der Kriminalbeamte ging zur Heizung, öffnete die Klappe und warf einen Blick hinein.
»Ich habe sie nicht verbrannt, wenn Sie das glauben!«
»Na, vielleicht nicht die Dame, aber …«