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      Lise Gast

      Christiane und die kleinen Brüder

      Saga

      Christiane und die kleinen Brüder

      © 1983 Lise Gast

      Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

      All rights reserved

      ISBN: 9788711508404

      1. Ebook-Auflage, 2016

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

      Die alte Heimat

      „Und dann, Großmutter?” fragte Christiane mit weit aufgerissenen Augen.

      „Dann? Dann bin ich erst zu den Mädchen hinübergelaufen; es brannte ja im Gesindehaus, und sie waren am meisten in Gefahr. Sie schliefen so fest ... ich hab’ an die Tür donnern müssen, und als sie gar nicht hören wollten, lief ich durch die Federkammer. Dort hatten sie am Abend Federn geschlissen, weißt du, und darin war es schon so heiß, daß die Fenster gesprungen waren und die Federn in der Luft tanzten wie Schnee, nur daß sie schwebten und nicht hinabsanken.”

      „Und dann bist du zurückgelaufen?”

      „Ja. Ich mußte doch die Kinder wecken, aber sie waren schon wach. Sie kamen mir in den Nachthemden entgegengelaufen ...”

      „In den Nachtpolterchen, Großmutter”, verbesserte Christiane atemlos. Bei ihr mußten immer alle Geschichten „richtig” sein, das heißt, in dem Wortlaut, in dem sie sie das erstemal gehört hatte. Und sie verfügte über ein unheimliches, ein geradezu gefährliches Gedächtnis.

      „Ja, in Nachtpolterchen, so sagten wir damals. Barfuß kamen sie an, aufgeregt, aber mehr lustig aufgeregt; was verstehen Kinder schon von Gefahr! Aber es waren nur drei, Onkel Christian mit Tante Anita an der Hand – sie war damals vier Jahre alt – und dein Vater. Aber Onkel Frieder fehlte.”

      „Und sie wußten nicht, wo er war? Hast du sie gefragt?”

      „Natürlich. Ich hab’ sofort gefragt, aber sie hatten ihn nicht gesehen, und keiner hatte ihn gesehen. Ich lief ins Kinderzimmer, da war er nicht. Großvater war nach der Spritze geritten; das Spritzenhaus stand am Dorfende, vielleicht zehn Minuten weit zu Fuß. Deshalb jagte er gleich mit den Pferden hin, sie brauchten sie ja doch zum Anspannen. Ihn konnte ich also nicht fragen, aber es war ja möglich, daß Onkel Frieder ihm nachgelaufen war.”

      „Aber er war nicht, gelt nein, Großmutter?”

      „Nein, er war nicht beim Vater. Er war fort ... ich hatte die drei andern in den Garten geschickt, in die Laube an der Ecke, dort sollten sie warten; Onkel Christian mußte auf sie achtgeben. Er war schon verständig und zuverlässig. Trotzdem hatte ich Angst, Tante Anita könnte ihm entwischen, sie war so ein Quirl, und aus dem Häuschen waren sie allesamt in dieser Brandnacht. Aber erst mußte ich Onkel Frieder finden. Ich war in einer entsetzlichen Angst. Womöglich war er doch in dem anderen Teil des Hauses, der nun auch brannte – ich rief es Großvater zu, aber er verstand es nicht und kam erst, als er sah, wie heftig ich winkte, und fragte, was es gäbe. Er erschrak sehr, und dann suchten wir alle. Es waren schreckliche Minuten, mir kamen sie vor wie Stunden. Immerfort sah ich sein kleines Gesicht, hellumlockt, manchmal angstverzerrt, wenn ich mir vorstellte, daß er das Feuer näher kommen sah, dann wieder lustig und unbekümmert. Ich sah ihn auf dem Schaukelpferd und auf dem richtigen Pferd, er ritt doch manchmal schon mit Großvater aus, vorn vor dem Sattel. Und dann wieder sah ich ihn ganz klein, wie er gewesen, als er gerade eben geboren war, so entzückend süß mit der schwarzen Locke über der Stirn; er war ja erst dunkel, wurde erst später blond. Und in der Badewanne, wenn er spritzte und kreischte, sah ich ihn, und in seinem Bettchen schlafend – – immerfort, immerfort, wie in einem Film. Bis dann Marie angelaufen kam, ganz außer Atem vom Rennen, sie konnte kaum sprechen. ‚Frau, Frau – –!’ jappte sie, ‚er ist da. Beim Schäfer hat er gesteckt, jaja, bestimmt – – –’”

      „Hast du es ihr gleich geglaubt?”

      „Ich weiß es nicht, Kind. Ja, doch wohl, aber ich mußte ihn trotzdem sofort sehen, sogleich – ich rannte – und dann hatte ich ihn in den Armen, den kleinen Ausreißer, gesund und lebendig, und da, erst dann, hab’ ich geweint. Geweint und ihn geschüttelt, daß ihm Hören und Sehen verging. Er war nämlich ein Ausreißer, und das war ja auch meine Hoffnung gewesen, als wir ihn suchten. Daß er eben doch irgendwo steckte, wo wir ihn nicht vermuteten, weil er immer fortlief.”

      „Aber geschüttelt hätt’ ich ihn nicht, Großmutter”, sagte Christiane langsam und ernsthaft, „ich hätte ihn geküßt und an mich gedrückt und nicht wieder losgelassen. Neulich hab’ ich meine Puppe, die Julie, weißt du, so lange gesucht, ich fand sie später im Garten. Die hab’ ich gar nicht gescholten sondern nur liebgehabt und immerfort mit mir rumgeschleppt, weil ich erst mal gemerkt hab’, wie lieb ich sie hatte.”

      „Ja, Christiane”, sagte die Großmutter und sah das Kind an, „das glaub’ ich dir. Und wie du es mit der Puppe gemacht hast, das kann ich gut verstehen. Aber bei einem Kind ist das etwas anderes. Die Puppe hast du liegenlassen im Garten, also wärst du schuld gewesen, wenn sie verlorengegangen wäre. Onkel Frieder aber ist selbst ausgerissen aus dem Bett, ich hatte es ihm oft verboten. Man muß Kindern klarmachen, wenn sie etwas Gefährliches oder Häßliches tun; verstehst du das? Sie können es selbst noch nicht beurteilen, warum sie das nicht dürfen. Dafür sind die Eltern da, vor allem die Mutter. Siehst du, deshalb mußte ich ihn schelten, ordentlich – aber ich hab’ ihn wohl noch nie im Leben so liebgehabt wie in diesem Augenblick. Das kannst du sicher nachfühlen, das war genauso wie bei dir mit der Julie.”

      „Hat er dich denn nachher noch liebgehabt?” fragte Christiane.

      „Natürlich”, lachte die Großmutter. „Wenn Kinder im richtigen Moment gescholten werden, fühlen sie das genau. Er muckste auch nicht. Er muckste überhaupt nie, wenn ich ihn schalt, wo es nötig war. Er war ein Charakter, schon damals, so klein er war – noch nicht ganz drei Jahre, denk nur.”

      Die Großmutter lächelte. Sie lächelte zu dem Bild hinüber, das über dem Nähtisch hing und ihre vier Kinder zeigte, drei Söhne und eine Tochter, alle erwachsen, groß und schön. Aber wenn man der Großmutter Gesicht sah, so merkte man, daß es ihr jetzt ähnlich ging wie in jenen Augenblicken höchster Angst, von denen sie vorhin erzählt hatte: sie sah nicht die Fotografie allein, sie sah viel, viel mehr. Sie sah durch die erwachsenen Gesichter die Baby- und Kindergesichter hindurchscheinen, bald das eine, bald das andere. Einmal ein Schuljungengesicht, dann das verträumte Lächeln einer Fünfzehnjährigen. Alle, alle Gesichter ihrer Kinder trägt eine Mutter in ihrem Herzen.

      Christiane blickte Großmutter an.

      Sie saß auf dem breiten, weißen Fensterbrett bei Großmutters Ohrenstuhl, draußen fiel ein lauer Frühlingsregen. Es war so still im Haus, daß man den Regen tönen hörte – wie eine Harfe klang er, fand Christiane, oder wie eine Glasharmonika. Ding dong, ding dong – Christiane hatte weder Harfen noch eine Glasharmonika je in ihrem Leben gehört, und doch wußte sie, wie die klangen. Aus Großmutters Geschichten wußte man alles. Man wußte, wie das Fleisch schmeckte, das die Hunnen unter ihren Sätteln mürbe ritten, man hörte, wie die große Glocke von Sankt Katrina in der alten Hansestadt klang, man kannte das Rauschen des Meeres und das Brüllen der Stürme –, alles, alles kannte man. Christiane sah noch immer zu Großmutter hin.

      „Großmutter”, sagte sie aus tiefstem Herzen heraus, „Großmutter, warst du damals auch schon so schön wie jetzt?”

      Da mußte die Großmutter lachen, sie lachte so laut und so herzlich, daß Christiane ganz erstaunt war.

      „Du Dummerle, ach, du Dummerle. Schön! So eine alte Frau wie ich und schön!”

      „Aber Großmutter, ich finde dich

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