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      Jan Skudlarek

      Die ganze Wahrheit und andere Lügen

      Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist

      Reclam

      Durchgesehene und ergänzte Ausgabe 2021

      2019, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961454-0

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011199-4

       www.reclam.de

      »Erklärungen gibt es und hat es seit ewigen Zeiten gegeben; stets weiß man für jedes menschliche Problem eine Lösung – sauber, einleuchtend, und falsch.«

      Henry Louis Mencken

      »Zwei mal drei macht vier,

      widewidewitt und drei macht neune,

      ich mach mir die Welt,

      widewidewie sie mir gefällt.«

      Pippi Langstrumpf

      »Glaube nicht alles, was du im Internet liest.«

      Ludwig Wittgenstein

      Die Wahrheit über das letzte Nudelsieb

      Berlin. Es ist das Jahr 2089. Ein Nuklearkrieg hat die Menschheit tragischerweise vernichtet. Alles ist in Schutt und Asche gelegt. Alles? Fast alles. Wie durch ein Wunder hat ein Nudelsieb (Edelstahl, Made in Germany) die Apokalypse halbwegs intakt überlebt. Einsam und verlassen liegt es in den Ruinen der ehemaligen Hauptstadt. Keine Menschenseele weit und breit. Es ist kalt. Staubig. Niemand macht mehr Nudeln.

      Die Preisfrage dieses philosophischen Gedankenexperiments: Ist das, was da in den Ruinen liegt, überhaupt noch ein Nudelsieb? Aus unserer Perspektive: klar. Ein Nudelsieb ist ein Nudelsieb. Immer. Das Problem an der Sache: Uns hat niemand gefragt. Wie auch? Wir sind nach dem Weltuntergang ja gar nicht mehr da.

      Das ist eine Tatsache.

      Eine Tatsache ist allerdings auch: Objektiv betrachtet ist ein Nudelsieb nur ein Stück Metall mit Löchern. Oder verbirgt sich die Wahrheit etwa unter der Oberfläche? Gibt es eine Wahrheit jenseits der Beschreibung? Wann ist etwas tatsächlich genau so, wie es scheint? Gar nicht so einfach zu beantworten. Anscheinend.

      Wir sehen: Die Frage nach Wahrheit und Unwahrheit betrifft selbst ein Stück löchriges Metall, Apokalypse hin oder her.

      Das Nudelsieb-Gedankenexperiment stellt uns vor ganz grundlegende philosophische Fragen:

       Was ist Wahrheit?

       Wie beschreiben wir die Wirklichkeit?

       Hängt Sinn immer von der Perspektive ab?

      Fest steht: Schon heute steht anscheinend nichts mehr fest. Wir brauchen gar keine Apokalypse, um in Schwierigkeiten bei der Deutung der Welt zu geraten. Die Wahrheit steht Anfang des 21. Jahrhunderts wieder einmal unter Beschuss.

      Oder scheint es nur so?

      Die Meinungen gehen auseinander. Nicht primär die Meinungen über Nudelsiebe, aber über so ziemlich alles andere. Klimawandel, Migration, Visionen von Gegenwart und Zukunft. Was den einen als Fakt gilt, gilt den anderen als Verschwörungstheorie. Millionen Menschen fühlen sich von »den Medien« belogen, Millionen andere vom US-Präsidenten (oder der Bundeskanzlerin). Überall nur Lug und Trug und Unwahrheit. Vertrauen ist im 21. Jahrhundert ein knapper, wertvoller und entsprechend begehrter Rohstoff geworden.

      Sie, lieber Leser, denken sich wahrscheinlich:

      »Wahrheit? Nudelsiebe? Was hat das alles mit mir zu tun? Sollen die doch machen, was sie wollen. Sollen die Leute doch für wahr befinden, was sie wollen. Sollen sie lügen, dass sich die Balken biegen. Alternative Fakten sind doch auch irgendwie Fakten. Gefühlte Wahrheiten auch irgendwie Wahrheiten. Nicht wahr?«

      Nein! Ich widerspreche!

      Stattdessen vertrete ich eine steile These. Mehrere sogar. Sie lauten: Wahrheit gibt es. Echtheit auch. Es gibt bessere und schlechtere Beschreibungen der Wirklichkeit. Und Verschwörungstheorien sind unwahr, sind gemeingefährlicher Quatsch – Quatsch, den wir ein Stück weit zu glauben veranlagt sind, aber das macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil!

      Ich sage: Die Wirklichkeit bleibt nach wie vor erkennbar. Ich sage: Die Welt bleibt beschreibbar. Ich sage: Angemessen zu zweifeln kann man lernen.

      Wer das Gegenteil behauptet, lügt.

      Diagnose Wahrheitsschwund

      Wenn jede Zeit ihre Diagnose hat, lautet die unsere wohl: Wahrheitsschwund. Die Gewissheiten vergangener Jahrhunderte lösen sich mit beeindruckender Geschwindigkeit auf – in einem antifaktischen Strudel aus Zweifeln, Un- und Halbwahrheiten. Das Vertrauen in Wissenschaft, Presse, Fakten und Experten ist heute überraschend fragil und vor allem überraschend schnell fragil geworden. Mit beängstigendem Tempo verlassen uns disziplinenübergreifend die Sicherheiten. Zumindest gefühlt.

      Beispiele?

      Gerne.

      Beim Bau des Wiener Krankenhauses Nord kam es 2018 zu einem Eklat. Für fast 100 000 Euro war ein »Bewusstseinsforscher« engagiert worden, um das Gelände »energetisch zu reinigen«. Der Esoteriker – ein ehemaliger Autohändler – habe einen Schutzring um die Gebäude gelegt, »der verhindert, dass negative Energien des Umfelds Einfluss auf das Haus und die Menschen darin nehmen«.1

      So ein Quatsch? Sicherlich. Aber kein Einzelfallquatsch.

      In Deutschland wiederum wachsen laut Verfassungsschutzbericht der Einfluss und die Zahl der sogenannten Reichsbürger. Das sind Menschen, die die Bundesrepublik Deutschland anzweifeln (!), die Zahlung von Steuern verweigern, auf ihren Privatgrundstücken eigene Staatsgebiete ausrufen (!!) und sich nicht selten mit mehr oder weniger rechtsextremer Gesinnung bis an die Zähne bewaffnen (!!!). Ihre Zahl geht in die Zehntausende.

      In die Millionen gehen die Wähler der sogenannten »Alternative für Deutschland« (AfD). Die vermeintlich gesteuerte Presselandschaft (»Lügenpresse«), ein angeblicher Bevölkerungsaustausch durch Migration (»Umvolkung«), die militante Leugnung des Klimawandels – die rechtsnationale Partei und ihre Wähler bieten seit Jahren einer beeindruckenden Bandbreite von Verschwörungstheorien ein demokratisches Zuhause.2

      Unsinn, für den man vor wenigen Jahren noch ausgelacht oder aus einer Partei geworfen wurde (oder man hat es wenigstens versucht, siehe Panikmacher Sarrazin), wird heute erschreckend selbstbewusst vertreten. Der Publikumsliebling und Hobbyverfassungsrechtler Xaiver Naidoo reimt »Volksvertreter« auf »Volksverräter«.

      © Hauck und Bauer

      Der Schutzpatron der aggressiven Unwahrheit heißt natürlich: Donald Trump. Kaum ein anderer Politiker in der Geschichte hat jemals so viel dafür getan, Unsagbares und Unsägliches sagbar zu machen. Ob auf Twitter oder im Interview: Wahr ist für Trump stets nur das, was Trump persönlich für wahr erklärt. Alles andere ist, aus seiner Sicht, Lüge und Verschwörung. Wer ihm widerspricht, wird zum Verräter deklariert. Die Medien? »Der wahre Feind des Volkes«, so Trump. Wirklich kein einziger Monat des Jahres 2018 verging ohne Fake-News-Tweets des Präsidenten (in 500 Tagen an der Regierung soll er mehr als 3000 Mal die Unwahrheit gesagt haben).3 Ein antifaktischer Wind weht durchs Weiße Haus.

      Nicht nur die Liebe zum Antifaktischen ist ansteckend.

      In Deutschland sind zwischen 2007

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