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uns zu. Es gab eigentlich kaum einen in Mariabrunn, der sich nicht freute, wenn wir mit den Pferden auftauchten.

      „Es haben doch immer die falschen Leute das Geld“, sagte Matty unterwegs. „Wenn ich reich wäre, würde ich jede Menge Schlachtpferde aufkaufen und bei uns unterbringen. Das ist doch viel sinnvoller, als immer noch mehr Pferde zu züchten. Eigentlich sollte man sich vor allem um die kümmern, denen es schlecht geht, statt ständig neue Tiere heranzuzüchten und sie irgendwann einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Denn viele Pferde werden nur von ehrgeizigen Leuten ausgebeutet, die eine Art nobles Sportgerät in ihnen sehen und sie gnadenlos abschieben, wenn sie nichts mehr taugen.“

      Ich schwieg und nahm mir vor, endlich wieder Lotto zu spielen. Ein Hauptgewinn, dachte ich sehnsüchtig, das wär’s! Doch ich hatte im Lauf der Jahre schon mehrere Versuche gestartet und wieder aufgegeben, wenn ich immer nur die falschen Zahlen angekreuzt hatte und nicht einmal meinen Einsatz zurückbekam.

      ,,Vielleicht läuft uns ja mal ein Millionär über den Weg, der nicht weiß, was er mit seinem Geld anfangen soll“, sagte ich ohne große Hoffnung, und Matty meinte, so etwas gäbe es nur im Film.

      Ich wandte mich nach Carmen um. Der Wind blies ihr die weizenblonden Haarsträhnen ums Gesicht. Sie und die rundliche alte Niobe mit der gelben Mähne paßten so gut zusammen, daß mir warm ums Herz wurde, wie immer, wenn ich die beiden zusammen sah.

      Doch über einem Pferd, das Glück gehabt und einen liebevollen Platz für seine alten Tage bekommen hatte, durfte man die vielen anderen nicht vergessen, die ein Leben lang benutzt und ausgebeutet werden und dann nicht einmal in Frieden alt werden und sterben dürfen, sondern einen qualvollen letzten Weg hinter sich bringen müssen.

      Ich holte tief Luft.

      Matty sah mich von der Seite an und fragte: „Was hast du, Nell? Ist dir schlecht geworden?“

      Ich erwiderte: „Ich hab an die armen Tiere denken müssen ... an die Schlachttransporte ...“

      „Ja“, sagte Matty bitter. „Da kann einem wirklich übel werden. Manchmal denke ich, daß wir Menschen eine Art Fehlentwicklung sind. Kein Lebewesen ist zu solchen Greueltaten fähig wie wir. Wenn ich zu viel über all das nachdenke, pack ich’s kaum noch! Vor ein paar Tagen war in der Zeitung ein Bild von einem Äffchen in einem Versuchslabor. Ich kann seine Augen einfach nicht vergessen ... so verzweifelt und verständnislos, so anklagend: Warum tut ihr mir das an? Darunter stand ein Ausspruch von einem Professor Spaermann an der Münchner Uni, den hab ich mir gemerkt: Die absichtliche Verwandlung eines Lebewesens in ein Bündel von Leiden und stummer Verzweiflung ist ein Verbrechen – was sollte sonst ein Verbrechen sein?“

      Matty stockte und schüttelte den Kopf. „Das mit den Tierversuchen bedrückt mich so, da könnte ich manchmal die Lust am Leben verlieren. Wenn ich daran denke, schäme ich mich echt, ein Mensch zu sein!“ Er tat einen Atemzug. ,,Weißt du, daß sie in solchen Labors den Versuchstieren manchmal die Stimmbänder durchschneiden, damit sie die Schreie der Tiere nicht hören müssen?“

      Ich starrte ihn an. Ein Gefühl von Grauen überkam mich, gepaart mit Schmerz und Wut und Scham und ungeheurer Hilflosigkeit; und plötzlich begann ich zu weinen. Die Tränen liefen mir nur so übers Gesicht; ich hätte am liebsten die Fäuste geballt und zum Himmel geschrien, warum Gott solche Dinge zuließ, wenn es ihn gab.

      „Entschuldige, Nell“, sagte Matty. Seine Stimme klang erschrocken, und er legte die Hand auf meinen Arm.

      Ich wollte antworten, daß er nichts dafür konnte, er ganz bestimmt nicht, doch ich brachte kein Wort heraus, weinte nur und weinte, daß es mich schüttelte. Da schlossen Carmen und Niobe neben dem Pferdefuhrwerk auf, und Carmen rief: „Allmächtige Tante, was ist denn passiert?“ Als ich keine Antwort gab: „Was hat sie, Matty?“

      „Ich hab ihr was erzählt“, sagte er, noch immer in diesem erschrockenen Ton. „Ich hätt’s nicht sagen sollen, es tut mir leid. Es reicht ja schon, daß ich es weiß.“

      Carmen ritt eine Weile schweigend neben uns her. Ich versuchte mich zusammenzunehmen, schniefte und rieb mir die Augen und versuchte den Klang von Mattys Stimme aus meinem Kopf zu vertreiben, die sagte: „Sie schneiden ihnen die Stimmbänder durch.“ Doch es ging nicht, es ließ mich nicht los, und etwas in mir war total verzweifelt und aus der Bahn geworfen.

      Die Tränen kamen immer wieder von neuem, und das Schluchzen schüttelte mich nur so. Ich drehte mich um, legte die Arme auf die Eisenstangen hinter den Sitzen und stützte die Stirn darauf. Da hielt Vroni an, und ich hörte Carmen wie aus weiter Ferne fragen: „Ist was mit Jörn?“

      „Nein.“ Matty legte den Arm um mich. Da saß plötzlich auch Carmen mit auf dem Kutschbock und drückte ihre Schläfe an die meine, und Matty streichelte mich wie eine Mutter ihr Kind und sagte wieder und wieder: „Entschuldige, Nell. Bitte entschuldige!“

      Ich rief undeutlich unter Tränen: „Du kannst nichts dafür, du bestimmt nicht! Du bist doch der letzte, der so was Bestialisches tun würde! Aber die anderen ... Warum machen Menschen so was? Warum, warum? Und warum läßt man sie das machen? Warum greift keiner ein?“

      Ich weiß nicht, wie lange ich schluchzte. Über mir hörte ich Carmens und Mattys murmelnde Stimmen. Schließlich hielt mich Carmen in den Armen und streichelte meine Haare und meine Stirn, und auch sie weinte.

      Als ich endlich meine verquollenen Augen öffnete, sah ich, daß Matty sehr blaß war und ein Gesicht machte, als hätte man ihn geschlagen. Da nahm ich mich endlich zusammen und schnaubte die drei Taschentücher voll, die ich hatte, eins von Carmen und zwei aus meiner eigenen Hosentasche; und als wieder Luft durch meine vom Weinen zugeschwollene Nase kam, murmelte ich: „Entschuldige, Matty!“

      „Jetzt hört endlich auf, euch umschichtig zu entschuldigen!“ befahl Carmen. „Es ist ganz in Ordnung, daß man seinen Freunden etwas erzählt, was einen bedrückt. Und es ist genauso in Ordnung, daß man über Grausamkeiten weint. Mir geht’s eher so, daß ich vor Wut schreien und toben könnte, wenn ich so was höre. Ich könnte hingehen und Leute kaltblütig umbringen, die solche Verbrechen begehen, und das ist halt meine Reaktion. Die Frage, die sich stellt, ist bloß: Was kann man wirklich dagegen tun?“

      „In ein Labor einbrechen und die Tiere befreien“, sagte Matty. „Das hab ich mir schon überlegt, ehrlich!“

      „So einfach ist das aber nicht“, erwiderte Carmen. „Komm erst mal in so eine pharmazeutische Festung hinein; die sind garantiert einbruchssicher. Und dann die Tiere – was willst du mit denen machen? Die sind verletzt und krank und zutiefst gestört, verängstigt oder aggressiv. Sie trauen Menschen nicht mehr. Außerdem ist das ungesetzlich. Man wird als Einbrecher bestraft, wenn sie einen erwischen.“

      „Ist mir doch egal!“ sagte Matty.

      „Ja“, bestätigte ich mit meiner verheulten Stimme. „Scheißegal! Sollen sie einen doch deswegen einsperren, wenn sie sich nicht schämen. Dann sitzt man eben auf der Anklagebank, und diejenigen, die foltern und morden, haben das Gesetz auf ihrer Seite. Eine feine Gesellschaft ist das, in der wir leben, das muß ich schon sagen!“

      „Zum Davonlaufen!“ sagte Carmen. „Es läßt sich auch bloß aushalten, weil man weiß, daß es noch andere Menschen gibt, die so denken wie wir, und die mit den geringen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, gegen das Unrecht ankämpfen. Sonst könnte man verzweifeln.“

      Auf der letzten Strecke kamen uns ein paar der Samstagsreiter entgegen, die nach Mariabrunn zum Bus wollten. Ich merkte, daß sie mich verwundert ansahen. Bestimmt sah ich schrecklich verschwollen und verheult aus, aber es war mir gleichgültig. Auf dem Hofplatz wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Brunnen und half Matty dann, Vroni auszuspannen, den Wagen in die Remise zurückzubringen und die Lebensmittelkartons ins Haus zu tragen.

      Als nächstes ging ich zu Hazel auf die Koppel, wie immer, wenn ich Kummer hatte. Sie stand mit gesenktem Kopf unter einer Gruppe von Eichen, die noch unbelaubt waren, und die Sonne lag warm auf ihrem haselnußbraunen Fell. Ich rief sie nicht, denn ich wollte sie nicht bei ihrem Nickerchen stören; doch sie mußte mich kommen gehört oder gewittert

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