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worden war; damals hatte ich mir vor Angst die Hosen naß gemacht.

      Herr Alois buddelte unter der Gartenbank. Wahrscheinlich hatte er dort einen seiner besonders wertvollen Knochen vergraben. Ich holte die Hängematte vom Dachboden und knüpfte sie zwischen den Apfelbäumen auf. Die Sonne sickerte warm durch die Zweige und leuchtete auf den Krokussen und Narzissen, die ums Kavaliershäusl blühten. Ein paar schöne Tage noch, und unser Tal würde ein einziges Blütenmeer sein.

      Es war die erste Hängemattenstunde in diesem Jahr, doch meine Begeisterung hielt sich in Grenzen; unter mir lagen meine Schulbücher und Mappen auf einem Stuhl: Biologie, Deutsch, Englisch; dazu noch Geschichte fürs Kolloquium.

      Der Wind schaukelte mich sachte in meiner Hängematte und wehte mir den Duft von Blumen und Pferden und Gras um die Nase, doch ich widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen und den Frühlingstag zu genießen.

      „Wenn du wüßtest, wie gut du’s hast!“ sagte ich zu Kater Carlo, der vor meinen Augen den Stamm des Apfelbaumes hochkletterte, dann auf vorsichtigen Pfoten am Aufhängeseil der Hängematte zu mir herüberbalancierte und sich längelang neben meinen Beinen niederließ. Daß er total schief lag, sozusagen mit Schlagseite nach oben, schien ihn nicht zu stören. „Du kannst tun und lassen, was du willst, brauchst weder zu arbeiten noch zu büffeln oder dir einen Job zu suchen!“

      Meine Ansprache schien Kater Carlo nicht besonders zu interessieren, denn er öffnete nicht einmal ein Auge. Erst als ich das Biologiebuch zuklappte und ins Gras fallen ließ, zuckte er belästigt mit den Ohren. Herr Alois knurrte warnend. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte es auf seinen alten verrotteten Knochen abgesehen, an dem er jetzt hingebungsvoll nagte.

      Eine Weile ließ ich mir die Sonne ins Gesicht scheinen und genoß das weiche, sanfte Aprillüftchen, das mir die Haare aus der Stirn blies, hörte die Stare auf den Wiesen schnackeln und die Schwalben zwitschern und Sepp mit dem Traktor den Waldweg entlangtuckern.

      Nach einer entspannten halben Stunde war ich bereit, mich in ein Drama von Shakespeare zu vertiefen, und hielt fast eine Stunde durch, bis Kirsty mit Kathrinchen durch die Gartentür kam. Kathrinchen sah schlimm aus, ungefähr so, als wäre sie mit dem Hals und der unteren Gesichtshälfte in einen Bienenschwarm geraten.

      Ich wälzte mich aus der Hängematte und nahm sie in die Arme. Sie weinte und war total verschmiert um Augen und Nase. Kirsty, die offenbar selbst ganz fertig war, sagte erschrocken: „Nell, das ist ansteckend! Hast du schon Mumps gehabt?“

      „Hab ich“, sagte ich. „Sehr sogar. Armes Kathrinchen, was haben sie bloß mit dir gemacht?“

      Kathrinchen legte nur den Kopf an meine Schulter und sagte gar nichts. Daran merkte ich, daß es wirklich schlimm mit ihr stehen mußte, denn für gewöhnlich war sie in meiner Gegenwart nicht so schweigsam.

      Ich trug sie ins Haus und brachte sie in ihr Bett, und nicht einmal dagegen wehrte sie sich. Dann saß ich bei ihr, bis sie einschlief, und hielt ihre kleine heiße Hand.

      3

      Am Nachmittag ritten wir zusammen aus, Jörn und ich. Vielleicht, so dachte ich, war dies der letzte unbeschwerte Tag bis zum Sommer, denn morgen mußte Jörn wieder im Krankenhaus arbeiten. Und was mich betraf, so drückten mich Unbehagen und schlechtes Gewissen wegen Schule und Abi immer mehr.

      „Warum redest du nicht offen mit deinem Vater?“ fragte Jörn, als wir auf dem Pfad zwischen zwei Waldstücken Seite an Seite ritten; er auf der Schimmelstute Katama, ich auf Hazel. Das Geißblatt hing schon in üppigen grünen Ranken von den Bäumen und streifte unsere Köpfe.

      „Ich kann nicht“, sagte ich. „Ich kann ihm nicht klarmachen, daß es mir nicht wichtig ist, zu studieren. Er würde nur sagen, daß man in meinem Alter noch nicht wissen kann, was wichtig für einen ist. Solche Gespräche laufen bei uns immer gleich ab. Wir reden aneinander vorbei.“

      Am Bach machten wir halt und ließen die Pferde trinken. „Das kenn ich“, erwiderte Jörn. „So geht es mir mit meinem Vater, so lange ich denken kann. Es ist, als würden wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Aber ich dachte immer, zwischen dir und deinem Vater wär das anders.“

      Ich beugte mich vor und streichelte erst Hazels Ohren, dann Katamas Hals. „Im Grunde schon. Er ist lieb und gibt sich Mühe, mich zu verstehen, und ich kann mit vielem zu ihm kommen. Aber wenn’s um Schule und Ausbildung geht, haben wir völlig verschiedene Ansichten. Irgendwie geraten wir uns dann jedesmal in die Haare, obwohl das keiner von uns will.“

      „Und Kirsty? Kann sie deinem Vater nicht klarmachen, worum es dir geht?“

      „Kirsty möchte ich da nicht hineinziehen. Das ist meine Sache; ich muß selbst damit klarkommen und darf es nicht auf sie abwälzen.“

      Vom Gebirge her kamen riesige Wolken gezogen, die sich über dem Land auftürmten wie die Überreste einer antiken Stadt, Säulen und Wällen und Gewölben aus weißem Marmor gleich. Sie jagten Licht und Schatten über die Wälder und Matten und Wiesen. Im Dickicht sangen Rotkehlchen. Diana lief ein paar Schritte voraus; sie wilderte nicht und folgte Jörn aufs Wort, sonst hätten wir sie auf unseren Ausritten durch die Wälder nicht mitnehmen können.

      Wir schlugen den Weg zum Weiher ein, wo wir im Sommer so gern badeten. Bergprimeln und Trollblumen blühten auf den Feuchtwiesen, und an versteckten Stellen auch einheimische Orchideen, Knabenkraut und Frauenschuh. Schon zirpte eine einsame Grille zwischen den Grashalmen.

      Der Weiher lag unter den dramatisch aufgetürmten Wolken, verträumt wie auf einem Bild aus der Romantik, umrahmt von Wäldern und Bergen. Die Frösche verstummten bei der lautlosen Erschütterung, die Hazels und Katamas Hufe auf dem weichen Boden verursachten. Ein Vogel, von dem Jörn behauptete, es wäre ein Teichrohrsänger, sang im Schilf.

      Wir stiegen ab und ließen die Stuten grasen. Sie liebten das saure Gras der Feuchtwiesen und brauchten es ab und zu auch für ihren Darm, wie Mikesch behauptete. Dann saßen wir auf Jörns Pullover, während Diana zu unseren Füßen lag und mit gespitzten Ohren auf die Wasserfläche sah, wo Wasserläufer und allerlei Insekten zwischen der Entengrütze sprangen und paddelten, Beute suchten und Eier ablegten, fraßen und gefressen wurden wie seit Urzeiten schon.

      Mein Kopf lag an Jörns Schulter. Ich versuchte den Augenblick zu genießen und nicht an morgen oder übermorgen zu denken. Doch auch Jörns Stimmung war nicht sorglos. Eine Welle der Unruhe schien von ihm auszugehen.

      „Was ist los mit dir?“ fragte ich nach einer Weile leise, und er schwieg lange und erwiderte dann ebenso leise: „Ich glaube, meinem Vater geht es ziemlich schlecht, Nell. Irgendwie hab ich das Gefühl, daß ... daß er nicht mehr lange leben wird.“

      Die Sonne war nun ganz hinter den Wolkengebirgen verschwunden, und das Land lag in tiefem Schatten. Der Kuckuck rief – es war wohl der erste in diesem Jahr. Kuk-kuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch ...?

      Ich konnte nicht sofort antworten. So vieles ging mir durch den Sinn. Es gibt Menschen, bei denen der Gedanke an den Tod kaum Gefühle auslöst, weil sie ihm in ihrem Leben noch nicht begegnet sind. Ich aber kannte und fürchtete ihn – seit meine Mutter gestorben war, seit Jörn den schweren Autounfall gehabt hatte, seit Nell eingeschläfert werden mußte und Helge von einer Fahrt nach Passau nicht zurückgekehrt war.

      „Hat er mit dir darüber gesprochen?“ fragte ich schließlich mit gepreßter Stimme.

      Jörn schüttelte den Kopf. Seine Hand in der meinen war kalt. „Darüber reden? Mit mir? Das würde er nie tun. Er zwingt sich, herumzuhinken und seiner Arbeit nachzugehen, aber ich merke ihm an, daß er’s kaum noch schafft.“

      Er stockte und streichelte Dianas gefleckte Stirn. „Und Matty hat mir erzählt, daß während der Osterferien mehrmals der Arzt kommen mußte, so schlimm waren die Herzbeschwerden. Mikesch meint, Vater müßte längst ins Krankenhaus, aber er weigert sich hartnäckig.“

      „Aber warum denn? Warum läßt er sich nicht helfen?“

      „Er denkt wohl, daß es sowieso keine Hilfe für ihn gibt. Ich erinnere

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