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der vom Ursprung des Wortes natura herrührt: Natura leitet sich vom Verb nasci (»entstehen«, »erzeugt werden«) ab und [12]bezeichnet damit auch das Werden, das heißt den Prozess der Entstehung einer Sache.

      Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive ergibt sich noch ein anderes Bild. Die griechischen Philosophen, die sich lange vor Lukrez mit Fragen nach dem Ursprung und der Erklärung aller Dinge beschäftigten, brachten eine Vielzahl von Werken ganz unterschiedlicher philosophischer Traditionen hervor, die aber alle den gleichen Titel tragen: Perí phýseos, was nichts anderes ist als die griechische Version von De rerum natura.

      Diese Vielschichtigkeit des Titels De rerum natura spiegelt sich auch in den deutschen Übersetzungen wider: Hermann Diels orientierte sich 1923 mit »Von der Natur« an den griechischen Vorläufern, Georg Büchner wählte 1956 mit »Welt aus Atomen« einen auf den Inhalt bezogenen Titel, und Klaus Binder übertrug 2014 De rerum natura wörtlich mit »Über die Natur der Dinge«.

      Wir können Lukrez’ Text wie auch die anderen antiken Texte heute nur noch lesen, weil sie immer wieder abgeschrieben und so weiter überliefert wurden. Der Text von De rerum natura hat es nur durch viele Zufälle in die heutige Zeit geschafft. Man hat nicht wie von manchen anderen Werken Hunderte Abschriften gefunden, sondern zunächst, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, nur eine einzige Handschrift, vermutlich in einem Kloster in Süddeutschland (wie der Lukreztext gefunden und gerettet wurde und welchen enormen Einfluss er auf die geistesgeschichtliche Entwicklung Italiens und ganz Europas nahm, legte Stephen Greenblatt 2011 in The Swerve: How the World Became Modern dar [2012 auf Deutsch erschienen unter dem Titel Die Wende – wie die Renaissance begann]). [13]Dass das Werk aber auch in der Zeit nach seiner Wiederentdeckung noch nicht der »Gefahrenzone« der Vernichtung entkam, liegt an seinem Inhalt.

      De rerum natura vermittelt die wesentlichen Säulen der epikureischen Philosophie. Epikur, der Begründer dieser philosophischen Schule, wirkte im 2. Jahrhundert v. Chr. und hat den (zweifelhaften) Ruf errungen, eine Philosophie der Lust begründet zu haben. Diese Zuschreibung greift aber zu kurz: Die drei Säulen der epikureischen Philosophie – Physik (Naturlehre), Kanonik (Erkenntnislehre) und Ethik (Verhaltenslehre) – dienten nicht dazu, dem Menschen ein ungezügeltes Schwelgen in Genüssen zu ermöglichen und die sinnliche Lust als Hauptziel eines erfüllten Lebens zu proklamieren. Ziel der epikureischen Philosophie ist es vielmehr, den einzelnen Menschen zu einem Leben frei von Unlust, das heißt von schädlichen Formen der inneren Erregung wie Furcht (vor allem vor den Göttern und dem Tod), maßloser Begierde oder Schmerz anzuleiten. Hat der Mensch einen solchen Zustand des Seelenfriedens (ataraxía, »Unerschütterlichkeit«), der zugleich auch der Zustand der höchsten Lust (hedoné bzw. voluptas) ist, erreicht, lebt er in Glückseligkeit (eudaimonía, eigentlich: »einen guten Daimon habend«).

      Ein weiteres Schlagwort, das im Zusammenhang mit dem Epikureismus meist fällt, lautet: láthe biósas – »Lebe im Verborgenen«. Im Epikureismus wird gefordert, der Einzelne solle sich nicht politisch engagieren und im Gemeinwesen einbringen – vielmehr solle er ein Leben in Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit vom »Tagesgeschäft« führen. Auch diese Forderung muss man modifizieren, denn in bestimmten Situationen, die eine Gefahr [14]für das Gemeinwesen darstellen, ist der epikureische Weise durchaus aufgefordert, sich einzubringen.

      Der epikureische Hedonismus und das zurückgezogene Leben des Einzelnen spielen in De rerum natura aber nicht die Hauptrolle. Lukrez befasst sich mit den Grundlagen der epikureischen Philosophie, der Physik.2 Die zentrale Annahme der epikureischen Naturlehre besteht darin, dass alles aus Atomen (átomos, »unteilbar«), also für das menschliche Auge unsichtbaren Teilchen besteht.3 Durch dieses Wissen lassen sich scheinbar unerklärliche und damit furchteinflößende Naturphänomene wie Erdbeben rational erklären, aber auch die Furcht vor dem Tod und vor allem vor dem, was nach dem Tod kommt, beseitigen. Anders als beispielsweise die Stoa geht der Epikureismus nämlich davon aus, dass auch die Seele sterblich ist. Lukrez beschreibt ihre atomare Struktur im Detail (s. S. 46–49) und hebt [15]hervor, dass sich die Atomverbindungen, die die Seele bilden, nach dem Tod wieder in einzelne Atome auflösen. Was von allem bleibt, sind die unzerstörbaren Atome. Dass die Seele in der Unterwelt Qualen erleidet, ist also unmöglich. Ebenso hat man zu Lebzeiten die Götter nicht zu fürchten: Auch sie bestehen aus Atomen und leben in ihren eigenen Welten, den sogenannten Intermundien (»Zwischenwelten«). Für die Menschen interessieren sie sich nicht; alle Gebete oder Opfer, die ihnen dargebracht werden, bleiben daher ohne Reaktion. Darin liegt ein für Lukrez ganz wesentlicher Punkt: Auch die Angst vor den Göttern und abergläubische Furcht (religio) ist unnötig, denn das Leben der Menschen hat nichts mit den Göttern zu tun. Diesen Gedanken wiederholt Lukrez in De rerum natura häufig und macht ihn durch Beispiele für irregeleitete Handlungen der Menschen anschaulich. Es ist also kaum verwunderlich, dass Vertreter der christlichen Kirche über die Verbreitung von De rerum natura lange Zeit nicht gerade begeistert waren.4

      De rerum natura von innen – Inhalt, Sprache und literarische Technik

      De rerum natura besteht aus sechs Büchern, die jeweils eine abgeschlossene Einheit bilden und inhaltlich aufeinander aufbauen. In den insgesamt mehr als 7000 Versen [16]legt Lukrez dar, wie das Universum, die Erde, der Mensch (inklusive psychischer Phänomene) und alles, was ihn umgibt, aus Atomen aufgebaut ist. Die ersten beiden Bücher nehmen den Mikrokosmos in den Blick: Hier schafft Lukrez die Wissensbasis für alles Folgende, indem er die Grundprinzipien seines Atomismus darlegt. Eine wichtige Rolle spielen dabei natürlich die unzerstörbaren Atome, die sich durch das unendliche All bewegen und aus deren Zusammenschlüssen sich alle Dinge bilden. Im 3. und 4. Buch widmet sich Lukrez hauptsächlich dem Inneren des Menschen: Im 3. Buch stellt er das Wesen der Seele dar und erläutert unter anderem – immer ausgehend von der atomaren Beschaffenheit aller Dinge –, wie psychische Vorgänge den Körper beeinflussen können (zum Beispiel eine Ohnmacht). Auch das 4. Buch befasst sich mit der Interaktion zwischen Außen und Innen; Lukrez entfaltet darin seine Lehre von den Abbildern (simulacra): Alle Dinge entsenden feine Bildchen von ihrer Oberfläche, durch die sich Wahrnehmungsphänomene wie das Sehen oder Schmecken erklären lassen. Daneben setzt sich Lukrez ausführlich mit den dem Seelenfrieden abträglichen Wirkungen der Liebe auseinander. Mit dem 5. und 6. Buch rückt der Beobachtungsfokus dann auf den Makrokosmos, das heißt die Welt und ihre Entstehung, die Kulturgeschichte des Menschen sowie meteorologische Phänomene und Ähnliches.

      Lukrez gibt zu Beginn des 1. Buches nicht nur einen kurzen inhaltlichen Abriss seines Werks, er thematisiert auch sein Dichten selbst. So betont er, dass es kein leichtes Unterfangen sei, die bislang nur in griechischer Sprache verfasste epikureische Lehre ins Lateinische zu überführen – und zwar, weil das Lateinische nicht über die nötigen [17]sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten verfüge (egestas linguae, »Armut der Sprache«) und weil die Gedanken so neuartig seien (novitas rerum, die »Neuartigkeit der Dinge«; s. S. 26). Lukrez steht also vor einer doppelten Herausforderung: Er muss nicht nur geeignete Ausdrucksmöglichkeiten finden, um die jeweiligen Phänomene zu versprachlichen, sondern diese Inhalte auch vorstellbar und verstehbar machen.

      Wie Lukrez diese doppelte Aufgabe löst, lässt sich gut am Beispiel der Atome zeigen: Obwohl das Wort atomus im Lateinischen existiert, verwendet er es an keiner einzigen Stelle. Wenn Lukrez von den Atomen spricht, gebraucht er vielmehr eine Vielzahl an Ausdrücken, wie primordia rerum (»Ursprungsteilchen der Dinge«), materies (»Stoff«), genitalia corpora (»Zeugungskörper«) oder semina (»Samen«).5 Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass er die Atome, die nichts als »tote« Materie sind, als »Körper« und »Samen« bezeichnet, also als etwas, das schlicht nicht ohne Leben gedacht werden kann. Doch Lukrez verwendet keine »schiefen« Metaphern, denn »Körper« sind die Atome auch deshalb, weil sie ähnliche Verhaltensweisen wie menschliche Körper aufweisen: Sie bewegen sich, treffen sich, gehen Verbindungen ein, kämpfen miteinander oder lösen ihre Verbünde. »Samen« sind die Atome, weil nur aus ihren Verbindungen alle Dinge entstehen können.

      In allen seinen Bildern sucht Lukrez nach der größtmöglichen Anschaulichkeit und Eindrücklichkeit. Oftmals [18]greift er dazu auf Vergleichspunkte aus der unmittelbaren

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