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      Während der Junge seine Kamera hob, musterte Leo seine Begleiterin. Der Junge war hübsch; das Mädchen war interessant. In ihren Augen glitzerte eine ungezähmte Intelligenz. Sie hielt ein Buch vor die Brust gepresst, auf eine Art, die vermuten ließ, dass darin etwas stand, was ihr sehr wichtig war und vermutlich gegen die eine oder andere Ellingham-Regel verstieß. Sein geschultes Malerauge und sein verdorbener Geist sagten ihm, dass es von diesen beiden wohl das Mädchen war, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Wenn es hier an der Ellingham Academy Schüler wie diese gab, dann war das Experiment möglicherweise doch kein völliger Fehlschlag.

      »Und du, bist du auch Dichterin?«, erkundigte Leo sich höflich.

      »Eindeutig nein«, antwortete sie. »Aber es gibt schon Gedichte, die ich mag. Die von Dorothy Parker zum Beispiel.«

      »Das freut mich zu hören. Dorothy ist nämlich eine liebe Freundin von mir.«

      Der Junge fummelte an seiner Kamera herum. Wenn Cecil Beaton oder Man Ray nach dem richtigen Winkel suchten, war das eine Sache, aber dieser Knirps begann Leo langsam auf die Nerven zu gehen, Kunstgeschmack hin oder her. Das Mädchen schien seine Ungeduld zu spüren.

      »Jetzt mach schon, Eddie«, forderte sie ihn auf.

      Der Junge gehorchte sofort.

      »Ich will nicht unhöflich sein«, sagte Leo, der sich nie darum scherte, ob man ihn für unhöflich hielt, »aber ich würde gern das letzte Licht noch ausnutzen.«

      »Komm, Eddie, wir müssen zurück.« Das Mädchen lächelte Leo zu. »Vielen Dank, Mr Nair.«

      Dann gingen die beiden, der Junge in die eine Richtung, das Mädchen in die andere. Eine Weile blickte Leo dem Mädchen nach, das auf das kleine Gebäude namens Minerva zueilte. Er machte sich eine geistige Notiz, Dorothy von ihr zu erzählen, verlegte das Zettelchen jedoch umgehend auf irgendeinem vollgestellten Tischchen in seinem Kopf. Mit seinem Öltuch in der Hand massierte er sich die Nasenwurzel. Seine Vision der Villa mitsamt ihren Geheimnissen war ihm abhandengekommen. Der Moment war verstrichen.

      »Jetzt ist Cocktailstunde«, sagte er sich. »Genug für heute.«

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      2

      »Ich muss mir etwas von der Seele reden«, log Stevie.

      Sie saß vor einem massiven Schreibtisch, der den Großteil des Raumes einnahm. Es war einer der schönsten in der ganzen Villa. Ursprünglich hatte er Iris Ellingham als Ankleidezimmer gedient. Die silbergraue Tapete an den Wänden war noch original erhalten und passte zur aktuellen Farbe des Himmels. Anstelle eines Schminktischs jedoch standen hier nun Büromöbel.

      Stevie bemühte sich, den Mann hinter dem Schreibtisch – den mit dem graublonden Haarwust und der modischen Brille, dem Iron-Man-Shirt und dem schmal geschnittenen Blazer – nicht direkt anzusehen, und konzentrierte sich deshalb auf den gerahmten Druck an der Wand zwischen den beiden Fenstern. Sie kannte dieses Bild gut. Es war eine illustrierte Karte der Ellingham Academy, die allen Infobroschüren über die Schule beilag. Auch als Poster konnte man sie kaufen. Sie war einfach eins von diesen allgegenwärtigen Dingen, über die man nie genauer nachdachte, und eher künstlerisch als maßstabsgetreu. Die Gebäude zum Beispiel waren riesig und bis ins kleinste Detail ausgestaltet. Stevie hatte gehört, die Karte sei von einer ehemaligen Schülerin gezeichnet worden, die später Kinderbuchillustratorin geworden war. Dies war die für die Außenwelt bestimmte Illusion der Ellingham Academy – freundlich und wie aus dem Bilderbuch.

      »Freut mich, dass du dafür zu mir gekommen bist«, entgegnete Charles.

      Das glaubte Stevie ihm sofort. Charles legte nämlich großen Wert darauf, lustig und relaxt herüberzukommen, was man bereits aus den Stickern und Zetteln an seiner Tür schließen konnte, auf denen Sprüche wie »DER KLÜGERE HINTERFRAGT«, »WISSENSCHAFT HEISST WISSENSCHAFT, WEIL SIE WISSEN SCHAFFT« oder »ICH BIN NICHT VERRÜCKT, MEINE REALITÄT IST NUR ANDERS ALS DEINE« standen. Das größte Schild von allen war genau in die Mitte gepinnt. »REDEN HILFT!« prangte handschriftlich darauf. Iris Ellinghams Fensterbretter wurden heute von Funko Pop!-Figuren bevölkert, die sich den Platz mit gerahmten Fotos von, wie Stevie annahm, Charles’ Rudermannschaften aus Cambridge und Harvard teilten. Denn von der Fassade des gut gelaunten Kummerkastenonkels durfte man sich keinesfalls täuschen lassen. Charles war hochgebildet, so wie alle Ellingham-Lehrer, die sich, strotzend vor Eliteuniabschlüssen, akademischen Auszeichnungen und Berufserfahrung, aufmachten, um hier oben zu unterrichten.

      Das Problem war nur: Stevie hatte gar nicht vor, über ihre Gefühle zu reden. Manchen Leuten fiel es leicht, ihr Innerstes für jeden, der des Weges kam, nach außen zu kehren. Stevie dagegen würde lieber eine Handvoll Bienen zum Frühstück verspeisen, als jemandem mitzuteilen, wie sie sich fühlte. Meistens wollte sie das ja nicht mal selbst wissen. Und darum musste sie es jetzt irgendwie hinkriegen, offen und verletzlich zu wirken, ohne dabei wahre Emotionen preiszugeben, denn das war echt ekelhaft. Stevie weinte nicht und erst recht nicht vor Lehrern.

      »Ich versuche immer noch, das Ganze zu … verarbeiten«, sagte sie.

      Charles nickte. Verarbeiten war ein gutes Wort für jemanden, der solchen Psychokram liebte, gleichzeitig jedoch nüchtern genug, um in Stevie keinen Würgereiz hervorzurufen.

      »Stevie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sagen soll. Das war ein trauriges Jahr für uns alle. Und du hattest besonders viele Berührungspunkte mit diesen ganzen Ereignissen. Du hast dich bisher wirklich tapfer geschlagen, obwohl das niemand von dir erwartet, vergiss das bitte nicht. Es gibt keinen Grund, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.«

      Beinahe wäre er mit diesen Worten zu ihr durchgedrungen. Stevie hatte es tatsächlich satt, immer die Tapfere zu geben. Es war so anstrengend. Unter ihrer Haut kribbelte die Angst wie ein Alien, das jeden Moment aus ihr herausplatzen könnte.

      Plötzlich zog ein lautes Ticken ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wandte sich zum Kaminsims um, auf dem eine große Uhr stand. Diese Uhr hatte früher ihren Platz in Albert Ellinghams Arbeitszimmer gehabt. Es war ein besonders schönes und sichtlich wertvolles Stück, kieferngrün mit goldener Äderung. Es hieß, Marie Antoinette persönlich habe diese Uhr einst einer befreundeten Adligen geschenkt. Ob das bloß ein Märchen war? Oder, wie so vieles hier, unglaublich, aber wahr?

      Nachdem Charles gut eingestimmt war, wurde es Zeit, dass Stevie an das gelangte, was sie wirklich wollte – Informationen.

      »Darf ich Sie was fragen?«, fing sie an.

      »Selbstverständlich.«

      Sie starrte auf die grüne Uhr, deren grazile, uralte Zeiger noch immer einwandfrei über das Zifferblatt wanderten. »Es geht um Albert Ellingham«, sagte sie.

      »Na, über den weißt du höchstwahrscheinlich mehr als ich.«

      »Ich hab da was über sein Testament gehört. Angeblich steht dadrin, wenn irgendjemand Alice findet, kriegt diese Person Ellinghams ganzes Geld. Oder jedenfalls einen ziemlich dicken Batzen davon. So eine Art Finderlohn. Und sollte sie nicht gefunden werden, bekommt die Schule das Geld. Ich dachte erst, das wäre bloß ein Gerücht … aber Dr. Fenton hat es wohl geglaubt. Sie als Schulleiter müssten doch über so was Bescheid wissen. Und hieß es nicht auch letztens, die Schule würde bald mehr Mittel zur Verfügung haben?«

      Charles lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

      »Weißt du, ich will ja nicht schlecht von irgendjemandem reden«, begann er, »schon gar nicht, wenn dieser Jemand erst vor Kurzem auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, aber wie sich herausgestellt hat, hatte Dr. Fenton so einige Probleme, über die wir uns nicht vollends im Klaren gewesen sind.«

      »Sie war Alkoholikerin. Doch das heißt ja nicht, dass sie falschlag.«

      »Nein«,

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