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… plötzlich hilft irgendetwas seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Er denkt an Dottie Epstein und die Markierung in dem Buch. Er holt die Aufnahme hervor, die er von ihr gemacht hat – das wissen wir, weil die Drahtspule an seinem Todestag auf seinem Schreibtisch gelegen hat –, und hört sie sich noch einmal an. Ihm wird klar, dass Dottie George Marsh erkannt haben muss. Er fragt sich …«

      Stevie sah Albert Ellingham praktisch vor sich, wie er in seinem Arbeitszimmer auf und ab tigerte, über das Leopardenfell, von Ledersessel zu Ledersessel, wie er auf die grüne Marmoruhr auf dem Kaminsims starrte und darüber nachgrübelte, ob der Schluss, zu dem er soeben gekommen war, tatsächlich stimmen konnte.

      »Er schreibt ein Rätsel, vielleicht, um sich selbst auf die Probe zu stellen, um zu überprüfen, ob er ernsthaft daran glaubt. Wo sucht man den, der nie wirklich ist da? Auf der Treppe, nicht Stufe, das ist doch klar! Was passiert auf einer Treppe ohne Stufen?, fragt er sich. Man rutscht ab und kommt zu Fall. Und wer hat ständig mit Fällen zu tun? Ein Ermittler. Wer ist nie wirklich da? Der Mann, den man angeheuert hat, um ein Verbrechen aufzudecken, der einem nie von der Seite weicht. Derjenige, an den man nie denkt, den man kaum noch bemerkt …«

      »Stevie …«

      »Und dann, am selben Nachmittag, geht er mit George Marsh segeln und das Boot explodiert. Alle sind davon ausgegangen, dass da die Anarchisten dahintersteckten, weil die schließlich schon mal versucht hatten, Ellingham zu ermorden, und es ja auch hieß, sie hätten sich seine Tochter geholt. Aber das ist Quatsch. Für diese Explosion war einer der beiden verantwortlich. Entweder ist George Marsh klar geworden, dass er geliefert war, und er hat keinen anderen Ausweg gesehen, als Ellingham und sich in die Luft zu jagen, oder Albert Ellingham hat ihn mit der Wahrheit konfrontiert und es selbst getan. So oder so war die Geschichte an der Stelle zu Ende. Und der Wahrhaftige Lügner kann Alice auf keinen Fall entführt haben, weil ich nämlich weiß, dass dieser Brief von zwei Ellingham-Schülern verfasst wurde und wahrscheinlich bloß als Scherz gemeint war. Die Sache ist einfach komplett aus dem Ruder gelaufen. Der Brief war nur ein Spaß, die Entführung ist missglückt und auf einmal gab es lauter Tote …«

      »Stevie«, versuchte Nate, seine Freundin zurück in die Gegenwart zu holen, auf die kalte, matschige Rasenfläche.

      »Fenton«, redete Stevie unbeirrt weiter, »war davon überzeugt, dass es in Albert Ellinghams Testament einen Nachtrag gibt, in dem der Person, die Alice findet, sein Vermögen zugesichert wird. Ist ziemlich verrückt, was für richtige Aluhutträger, aber Fenton hat fest daran geglaubt. Hat sogar beteuert, sie hätte Beweise, auch wenn ich nie welche zu sehen gekriegt habe. Und sie war total paranoid – hat alles nur auf Papier aufbewahrt, Akten in alten Pizzakartons versteckt und so. Sie hatte sogar eine echte Verschwörungstheoretiker-Wand. Sie meinte, sie wäre da was ganz Großem auf der Spur. Als ich sie angerufen habe, um ihr zu erzählen, was ich herausgefunden habe, hat sie gesagt, sie könnte gerade nicht und irgendwas von wegen ›Die Kleine ist …‹. Und dann ist ihr Haus abgebrannt.«

      Nate rieb sich resigniert über den Kopf.

      »Besteht denn wirklich gar keine Chance, dass das alles nur ein Unfall war?«, fragte er. »Bitte, sag mir, dass es eine gibt.«

      »Was denkst denn du?«, erwiderte Stevie leise.

      »Was ich denke?« Nate setzte sich auf eine der Steinbänke am Rand des versunkenen Gartens.

      Stevie ließ sich neben ihn fallen und die Kälte drang durch ihre Kleider.

      »Ich hab keine Ahnung, was ich denken soll. Eigentlich glaube ich nicht an Verschwörungstheorien, weil Menschen für gewöhnlich einfach viel zu unorganisiert sind, um irgend so ein riesiges, verzwickten Komplott fehlerfrei über die Bühne zu bringen. Aber ich glaube auch, dass man, wenn zur selben Zeit am selben Ort eine Menge seltsames Zeug passiert, davon ausgehen kann, dass dazwischen eine Verbindung besteht. Erst stirbt Hayes bei dem Videodreh über den Ellingham-Fall. Dann Ellie, nachdem du dahintergekommen bist, dass sie das Drehbuch zu Hayes’ Serie geschrieben hat. Und jetzt erwischt es auch noch die Frau, der du bei den Recherchen zum Ellingham-Fall geholfen hast, und zwar genau dann, als du ihr erzählen wolltest, dass du den Kriminalfall des Jahrhunderts aufgeklärt hast. Das waren alles schreckliche Unfälle, oder meinetwegen auch nicht, aber was anderes fällt mir dazu nicht mehr ein und ich muss mir meine Energie für den nächsten Nervenzusammenbruch aufsparen. Hilft das?«

      »Nein«, sagte Stevie mit einem Blick auf den grau-rosa Himmel.

      »Wie wär’s denn, wenn – nein, lass mich bitte ausreden –, wenn du der Polizei alles erzählst, was du weißt, und dann die Finger von der Sache lässt?«

      »Aber ich weiß ja nichts«, entgegnete sie. »Das ist doch das Problem. Dafür müsste ich erst mal mehr in Erfahrung bringen. Was ist, wenn das alles wirklich zusammenhängt? Und das muss es schließlich, oder? Iris und Dottie und Alice, Hayes und Ellie und Fenton.«

      »Muss es?«

      »Lass mich mal eben nachdenken.« Stevie fuhr sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar, bis es ihr in alle Richtungen vom Kopf abstand. Seit ihrer Ankunft an der Ellingham Academy Anfang September war sie nicht mehr beim Friseur gewesen. Einmal, um zwei Uhr morgens vor dem Badezimmerspiegel, hatte sie selbst zur Schere gegriffen, aber leider dabei ein wenig ihre künstlerische Vision aus den Augen verloren. Daher trug sie nun einen rausgewachsenen Mopp, der über der einen Braue länger war als über der anderen und sich ständig aufrichtete wie der Kamm eines erschrockenen Kakadus. Ihre Fingernägel waren bis zum Nagelbett abgekaut, und obwohl die Schule einen Wäscheservice anbot, trug sie fast jeden Tag denselben ungewaschenen Kapuzenpullover. Ihr Körper schien ihr immer mehr zu entgleiten.

      »Und wie lautet jetzt der Plan? Willst du weiter hier herumschleichen, nichts essen und mit keinem reden?«

      »Nein«, erwiderte sie. »Ich muss was unternehmen. Aber ich brauche mehr Informationen.«

      »Okay.« Nate gab sich geschlagen. »Und wo kriegst du Informationen her, die weder gefährlich noch falsch sind?«

      Stevie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Gute Frage.

      »Hier bei uns in der Gegenwart«, merkte Nate an, »führt Janelle übrigens heute einen Testlauf mit ihrer Maschine vor. Sie macht sich ein bisschen Sorgen, dass du nicht kommst.«

      Natürlich. Während Stevie sich auf den verschlungenen Seitenpfaden ihres Gehirns herumgetrieben hatte, war das wirkliche Leben weitergegangen. Janelle Franklin, ihre beste Freundin und Zimmernachbarin, hatte fast ihre gesamte Zeit an dieser Schule damit verbracht, eine Rube-Goldberg-Maschine für einen Wettbewerb zu bauen. Klar, dass sie da ihre engsten Freunde beim Testlauf dabeihaben wollte. So drang gerade noch durch den Dunst in Stevies Kopf: Heute Abend, acht Uhr. Maschine angucken.

      »Klar komme ich«, sagte sie. »Natürlich. Aber jetzt muss ich erst mal weiter nachdenken.«

      »Vielleicht musst du eher mal nach Hause und eine Runde schlafen oder duschen oder so was? Ich bin mir echt nicht sicher, ob mit dir alles okay ist.«

      »Du hast recht!« Ihr Kopf ruckte hoch. »Mit mir ist nicht alles okay.«

      »Hä?«

      »Ich brauche Hilfe«, erklärte sie lächelnd. »Und zwar von jemandem, der überzeugt ist, dass Reden hilft.«

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      Februar 1936

      »Es ist noch nicht angekommen, Liebes«, sagte Leonard Holmes Nair und wischte seinen Pinsel an einem Lappen ab. »Wir müssen uns noch etwas gedulden.«

      Iris saß vor ihm in einem Korbsessel, der normalerweise für besseres Wetter gedacht war. Sie zitterte in ihrem weißen Mohairmantel, aber nicht vor Kälte, wie Leo vermutete. Für Mitte Februar war es relativ mild, gerade warm genug, dass er beschlossen hatte, draußen an seinem Gemälde von der Familie und dem Haus zu arbeiten. Schüler eilten von Gebäude zu Gebäude,

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