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die geradezu pausbäckig behauptet, sie sei doch das „Licht der Welt“ und das „Salz der Erde“. Nun, wie könnte man hier widersprechen, zumal bei diesen Aussagen ja der Herr selbst zitiert wird. Aber wo ist diese Leuchtkraft, diese Salzkraft nur geblieben? Warum diese vielen düsteren Fakten am Gemeindehimmel? Darf ich überhaupt so fragen?

      Ich versinke in den Erinnerungen an anscheinend bessere Tage. Diese Erinnerungen machen es in mir nicht heller, sondern sie verstärken die Last und den Schmerz über die gegenwärtige Dunkelheit. Und dennoch gebe ich meinen Gedanken freien Lauf.

      Als Jugendlicher stand ich noch mit meiner Gitarre auf der Straße und sang die neuen Jesus-Lieder. Es herrschte Aufbruchsstimmung im Land. So habe ich es jedenfalls damals empfunden. Die Jesus-People-Bewegung1 hatte damals auch einige Jugendgruppen in Deutschland erfasst. Schon als Teenager war ich in der kleinen baptistischen Gemeinde im niedersächsischen Bückeburg mit der charismatischen Bewegung in Verbindung gekommen. In Gebetskreisen lobten wir den Herrn in Sprachen, die der Geist uns eingab. Wir sangen neue, geistgewirkte Melodien und Lieder. Wir empfingen prophetische Eindrücke. Die ganze Palette der Geistesgaben brach unter uns auf. Zudem war da dieser brennende Hunger und Durst nach Leben, nach einem Leben aus Gott. Schon bald suchten wir den Kontakt zu anderen Jugendlichen, die ähnliche Erfahrungen machten. Ich lernte junge Christen aus anderen Konfessionsfamilien kennen: Lutheraner, Reformierte, Katholiken, Methodisten, Pfingstler und orthodoxe Christen. Sie waren ebenfalls vom Geist Gottes neu ergriffen. Wir verabredeten uns zu missionarisch-evangelistischen Aktionen im In-und Ausland. Damals nannten wir es „Preach-in“ oder „Sing & Pray“ oder „Outreach“. Das klang irgendwie origineller als die Begriffe „Zeugnisversammlung“, „Lob-Gottesdienst“ oder „Evangelisation“. Viele junge Menschen fanden damals Anfang der 70er-Jahre zu einem lebendigen Glauben an Jesus Christus. Ach, diese Tage waren so stark von einem Geist der Kraft und der Vision für eine neue, von Gott geprägte Welt beseelt! Da waren keine dunklen Wolken, die uns bedrückten! Ich erinnere mich, dass ich manchmal vor lauter Freude nicht einschlafen konnte.

      Schon bald formierten sich die charismatischen Aufbrüche im Land immer mehr. Seit 1972 war ich regelmäßiger Teilnehmer der Tagungen auf Schloss Craheim,2 einem ökumenischen Lebenszentrum in Unterfranken. Dort empfingen wir gute Impulse von internationalen charismatischen Leitern wie Rodman Williams, David du Plessis, Graham Pulkingham, Michael Harper oder Peter Hocken. Wir wurden vom „Fisherfolk“ aus England in die neue Art der Anbetungsgesänge eingeführt, die sich dann in Deutschland als Chorusse durchsetzten. In meiner Konfessionsfamilie, im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, wurde bereits 1975 der Arbeitskreis „Charisma & Gemeinde“ gegründet. Von Anfang an war ich im Mitarbeiterkreis dabei und auch später viele Jahre in der Leitung. Wir erlebten wunderbare Tagungen und Konferenzen, zum Teil auch gemeinsam mit den charismatischen Bewegungen aus den anderen Konfessionen3. Würde es zu einer wirklichen Erneuerung der Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften im Land kommen?

      Die Pfingstbewegung hatte sich in Deutschland nur sehr zögerlich entwickelt, nicht zu vergleichen mit dem rasanten Wachstum in anderen Ländern. Die Hoffnung der charismatischen Bewegungen konzentrierte sich zunächst auf die Erneuerung der einzelnen Person. Wir veranstalteten Tagungen zum Thema „Wie empfange ich den Heiligen Geist?“ oder zu Fragen der christlichen Nachfolge und besonders auch zu den verschiedenen Charismen. Die Rede von der bevorstehenden Erweckung und einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes beflügelte uns immer wieder neu. Bei ungezählten kleinen Tagungen und größeren Konferenzen erlebten wir das Wirken des Geistes in einem außergewöhnlichen Maß4. Menschen wurden spontan von körperlichen und seelischen Nöten geheilt. Wir erfuhren Befreiung und innere Heilung. Das ermutigte uns, Großes von Gott zu erwarten. Es sollte doch wieder so zugehen wie in den Tagen des NT! Jesus Christus hat doch auch heute noch die gleiche Autorität, oder?

      Schon sehr bald kam es zu Spannungen in den bestehenden Kirchen und Gemeinden, denn nicht alle Mitchristen konnten sich über diese „Charismatiker“ freuen. Sie fragten, ob deren Lehre und Leben denn überhaupt biblisch sei und ob die Gaben des Heiligen Geistes denn heute noch so wirksam sein könnten, da wir im Kanon der von Gottes Geist gegebenen biblischen Schriften ja das Maß aller Dinge hätten. Böse Worte und verhärtete, unbelehrbare Herzen prallten da aufeinander – von beiden Seiten. Hunderte, ja Tausende verließen ihr altes Gemeindeschiff und gründeten neue Christliche Zentren oder unabhängige charismatische Gemeinden, die wie ein schnelles Motorboot auch schon bald viel Fahrt aufnahmen. In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben sich in Deutschland nach meiner Einschätzung etwa 850 dieser neuen charismatischen Gruppen und Gemeinden gebildet. Heute sind viele von ihnen im D-Netz zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Die meisten dieser neuen charismatisch geprägten Gemeinden haben allerdings die Grundformen der traditionellen Kirchen und Gemeinden übernommen: Auch sie treffen sich in großen Räumlichkeiten und pflegen eine starke Veranstaltungsorientierung. Sie haben Leitungsstrukturen, die mit ihrer Straffheit teilweise noch das Papsttum in den Schatten stellen. Sie geben dem Lobpreis, dem Singen von Anbetungsliedern, in den Veranstaltungen einen großen Raum. Der Musikstil ist vielfach einseitig auf neues Liedgut ausgerichtet. Die Charismen, besonders die Gaben der Offenbarung, werden gefördert; andere Geistesgaben sind zwar erwünscht, prägen aber das Gemeindeleben in der Regel nur geringfügig5.

      Schon bald kam es auch hier zu Erstarrungen und zu notvollen Erfahrungen. Es zogen dunkle Wolken auf. Mitglieder aus den charismatisch geprägten Gemeindegruppen klagten zunehmend über geistlichen Missbrauch. Nicht wenige trennten sich wieder von ihrer neuen geistlichen Heimat. Einige fanden zurück in die „alten“ Kirchen und entschieden sich für eine softe Version des Geisteswirkens. Die Offenheit für die Charismen und das Wirken des Heiligen Geistes wurde zwar noch postuliert, aber in kleine Zirkel, Gebetsgruppen oder Sonderveranstaltungen verbannt. Einige nahmen die Sicht des amerikanischen Theologen C. Peter Wagner auf, der von einer „Dritten Welle“ der charismatischen Bewegung sprach6. In dieser dritten Welle spielt die Redeweise von der „Taufe im Heiligen Geist“ oder auch die Bedeutung der Gabe der Glossolalie (Sprachenrede) keine herausragende Rolle mehr, ja, sie wird zum Teil sogar aus Rücksichtnahme bewusst gemieden. Ob daraus aber nun wirklich eine „Welle“ geworden ist, kann ich nicht beurteilen. Zudem finde ich den „Wellen-Gedanken“ auch etwas befremdlich. Muss ich denn davon ausgehen, dass der Geist Gottes immer versucht, in neuen Wellen, mit neuen Akzenten Bewegung in eine erstarrte Christenheit zu bringen?

      Die Fragen nach dem, was der Geist Gottes gegenwärtig tut oder bewegen will, trieb mich und andere charismatisch geprägte Leiter in ungezählten Zusammenkünften um. Angeregt durch die Berichte aus der argentinischen Erweckung, nahmen wir die Impulse zu einer „geistlichen Kampfführung“7 auf. Carlos Annacondia oder Ed Miller waren gern gesehene Gäste bei deutschen charismatisch geprägten Zusammenkünften. Dennoch war das Urteil über diese Art des Betens und inneren Kämpfens nicht ungeteilt. Wolfram Kopfermann, der langjährige Leiter der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der Evangelischen Kirche, distanzierte sich von einer derartigen Machtanmaßung „ohne Auftrag“8. Ich selbst habe mich wenige Jahre später dazu ebenfalls differenziert in meinem Buch „Und wenn die Welt voll Teufel wär …“9 geäußert. Anfang der 90er-Jahre schien der Heilige Geist einen neuen Segen für die kämpfende charismatische Bewegung bereit zu halten. Die Toronto Airport Christian Fellowship, eine pfingstlich geprägte Freikirche in der Nähe des Flughafens der kanadischen Stadt Toronto, erlebte seit 1994 eine besondere Ausgießung des Heiligen Geistes, die von starken Manifestationen begleitet war. Die ekstatischen Erfahrungen wie etwa das nach einer Segnung erfolgte Umfallen, auch als „Ruhen im Geist“ bezeichnet, euphorisches Lachen, Weinen oder Schreien, Zittern und Schütteln oder außergewöhnliche Laute unterschiedlichster Art wurden als eine besondere Salbung des Geistes gedeutet und als „Toronto-Segen“10 bekannt. Menschen hatten sich offenbar nicht mehr unter Kontrolle. Es machte mich neugierig, was der Geist Gottes wohl hier für einen neuen Akzent setzen wollte. Im Herbst 1994 flog ich nach Toronto, um mir dieses Wirken anzuschauen. Ich war ja vieles schon gewohnt, doch was ich dann dort erlebte, faszinierte mich zum einen und es stieß mich zum anderen auch irgendwie ab. Ich hatte den Eindruck, dass sich hier zum Teil auch ganz bewusst angeleitete Prozesse der gemeinsam gewollten Ekstase vollzogen, die jedoch nicht alle eindeutig vom Geist Gottes initiiert

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