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müsst? Bringt mir ein Stück reines Eisen, und ich zeige euch, dass ich aus Fleisch und Blut bin.

      Seht ihr? Kein Rauch, keine Flammen.

      Ja, ich habe mich verändert, aber im Innern bin ich noch immer der, den ihr kennt. Bitte vertraut meiner Stimme, selbst wenn sie nicht mehr so klingt wie früher. Verzeiht, dass ich euch mein Gesicht nicht zeigen kann. Die Dunkelheit hat es verschluckt.

      Bitte kommt näher, schart euch um mich, aber bleibt unter den Felsdecken, damit die Jäger der Dämmerung euch nicht sehen. Haltet euch vom Licht fern, das aus den Wolken fällt. Es sind keine Zeppeline oder gar Engel, denen es entspringt. Bei eurem Seelenheil, tretet niemals ins Licht! Versprecht mir, euch nie blenden zu lassen und dem verführerischen Strahlen nicht anheimzufallen. Es mag ein grausames Los sein, in eine der zahllosen Klüfte und Spalten zu stürzen und von den Toten gefressen zu werden. Viel schrecklicher ist es jedoch, den Boden unter den Füßen zu verlieren und hinauf in die Wolken gerissen zu werden – denn dort oben erwarten euch einzig und allein sie und ihre Klauen, um mit euch zu tun, was immer sie wollen. Sie sind den Regenten keine Rechenschaft schuldig.

      Habt ihr die Häscher je mit eigenen Augen gesehen? Seid ihr den schwebenden Schatten schon einmal begegnet? Selten tauchen sie aus den Wolken herab, doch wenn sie sich unter uns mischen, kehren sie nie in ihre Gefilde zurück, ohne einen der euren aus eurer Mitte gerissen zu haben. Ihr Duft ist so betörend, ihre Zungen säuseln so lieblich und umgarnen eure Sinne, doch hütet euch vor ihren Fängen! Wehe denen unter euch, die schwach sind und ihren Verlockungen erliegen. Die Haut werden sie euch vom Leib ziehen und ihre Flügel damit bespannen und euer Gesicht auf ihr eigenes setzen. Sie empfinden nichts für die Lebenden, denn sie haben nie gelebt und wissen nicht um die Bedeutung des Lebens. Euer Leid berührt sie nicht, denn sie haben keine Seele. Eure Schmerzensschreie dringen an kein Ohr, denn das Hören ist ihnen fremd. Für die Häscher der Schatten seid ihr, was die Fische der Seen und Meere einst für uns waren: kalt und stumm, gefangen in den Elementen.

      Bitte hört auf zu weinen, Kinder. Euer Wehklagen lockt sie aus den Wolken herab wie Feuerschein, der den Nebel glühen lässt. In keinem Versteck über dem Dach der Totenwelt seid ihr vor ihnen sicher. Und ihr wisst genau, wie schwer es ist, die Tarnung der Schatten zu durchschauen, nachdem einer der ihren sich unter euch geschlichen hat.

      Kennt ihr die Geschichte des Kalifen Harun Al-Raschid? Er mischte sich Abend für Abend als Kaufmann verkleidet unter sein Volk und lauschte unerkannt den Geschichten, die in den Tavernen und auf den Nachtbasaren über ihn erzählt wurden. So erfuhr er mehr über ihre Gewohnheiten, Kabalen und Nöte, als seine Berater im Palast ihm verraten wollten.

      Gleich ihm könnte einer der Schatten unter euch weilen und eure Arglosigkeit ausnutzen – so er denn nicht früher oder später seinem Unwesen Tribut zollen und euch gegenüber offenbaren müsste, wes Geistes Kind er ist. Wenn seine Hülle platzt und sein wahres Ich herauswächst, ist es jedoch meist schon zu spät.

      Lernen durch Zuhören, das ist es, was in Zeiten der Finsternis noch einen Wert hat. Aus diesem Grund bin ich heute bei euch.

      Lasst mich von der Stadt erzählen, in der ich lebe. Es geht das Gerücht, die Regenten hätten sie aus unsereiner Knochen erbaut. Ein anderes sagt, sie hätten Menschen lebendig eingemauert, um deren Seelen zu versklaven und als Schutzgeister an ihre Häuser zu binden. Wie gern würde ich behaupten, all das sei nur Propaganda, doch die Gerüchte sind wahr – und die Wirklichkeit, das dürft ihr mir glauben, ist noch weitaus schlimmer.

      Wisst ihr noch, was ich einst über den Buhlturm und seinen toten Herrn erzählt hatte? O ja, ihr erinnert euch, ich sehe es am Funkeln in euren Augen. Vier dieser Türme erheben sich in der Stadt, die schon lange keinen Namen mehr trägt, wie so viele andere, die die Regenten auf den Trümmern und der Asche unserer eigenen Metropolen errichtet haben. Tausende von Türmen überragen die Ruinen der Welt, deren ferne Gestade kaum noch jemand kennt. Zu viele Erinnerungen haben die Schatten uns bereits gestohlen. Was die meisten von uns heute von der Welt zu kennen glauben, ist nur noch ein Zerrbild der Vergangenheit.

      Natürlich hatten die Regenten damals nach dem ihren gesucht, doch vergebens. Sie werden ihn nie finden, denn ich habe ihn gefressen. Eines hatte ich bei meiner damaligen Freveltat jedoch nicht bedacht: ihre Lex Heredis, das Gesetz des Erbes. Es gebietet, dass das Eigen jenes Schattens, den ich verschlinge, zu meinem Eigen wird.

      So besitze ich nun ein Refugium mitten unter ihnen. Meinen eigenen Turm, stellt euch das nur vor! Ich bin ein Stachel im Fleisch der Stadt, ein Dorn im Dünkel der Regenten, ein Geschwür in ihrem Schattenreich. Und ich genieße es, auf sie herabzublicken. Oft sitze ich auf dem Turmdach, lasse den Blick über die Ruinen und schuttgefüllten Straßenschluchten schweifen und warte auf das Läuten der Herrscherglocke.

      Ach, könntet ihr die Stadt doch nur einmal von dort oben sehen. Sie bedeckt das Land von Horizont zu Horizont wie eine Weltenbrand-Flechte aus Häusergerippen. Von dort oben wirken die umherirrenden Bewohner bedeutungslos winzig. Verzerrten Karikaturen menschlichen Lebens gleich, verstecken sie sich im Dunkel der Mauern, sobald die Glocke ertönt.

      Oft trägt der Wind des Nachts den Gesang der Überlebenden an meine Ohren, ein tausendstimmiges Lied in einer fast vergessenen Sprache:

      Hosanna, es lebe der Fürst des Ostens

      Der auf den Schultern des Steinriesen reitet

      Und die niederen Schatten verhöhnt

      Hoch lebe der Fürst des Ostens!

      Doch nicht nur die Menschen sehen zu mir empor. Auch die Regenten lassen ihre Blicke auf mir ruhen, wohl wissend, dass ich als Turmherr unantastbar bin. Hunderte glühender Augen starren mich allabendlich an und lassen mich nichts sehnlicher wünschen, als ein riesiges Bein heben zu können, um das ameisengroße Schattengesindel unter meiner Fußsohle zu zermalmen.

      Und wenn ich den Widerhall der Lieder leid bin, breite ich meine Schwingen aus und stürze auf sie herab. Dann schmecke ich das Aroma der Tiefe, den Gestank aus siedendem Schweiß und verbrannter Haut. Dicht über ihren Köpfen schieße ich durch die Häuserschluchten, dem Feuerschein der Autodafés entgegen …

      Ich höre eure Gedanken, Kinder. Ich sehe in eure furchtsam staunenden Augen, die fragen: Wie kommt es, dass er fliegen kann? Er? Ist er womöglich selbst einer von ihnen? Ein verkleideter Schatten, gekommen, um die Schwachen zu verführen – oder gar zu fressen wie einst den Herrn des Buhlturms?

      Was mich dereinst zurück zum Turm gelockt hatte, ist mit Worten schwer zu beschreiben. Zuerst hatte ich geglaubt, es wäre das verwaiste Gemäuer selbst, das mich zu sich rufen würde, um mich für meinen Frevel an seinem einstigen Herrn zur Rechenschaft zu ziehen.

      Ich meine, wer von uns hat je zuvor den Kadaver eines Regenten verzehrt?

      Doch in Wirklichkeit war es etwas anderes gewesen. Eine Entität tief unter dem Fundament, von deren Existenz niemand etwas gewusst hatte. Sie ist das wahrhaft finstere Geheimnis der Schatten.

      Ich hatte ihren Ruf schon gehört, als ich euch damals von meinem Fund und meiner Tat erzählt hatte. Und er war mit jeder Nacht lauter und drängender geworden. Gleichwohl waren noch Wochen steter Unrast vergangen, bis ich tatsächlich den Mut gefunden hatte, einen Fuß in das finstere Refugium zu setzen.

      Es ist beileibe nicht einfach, denn die Regenten verlassen ihre Türme nicht, wie wir es tun. Sie erheben sich von den Dächern und den höchsten Balkonen in die Lüfte, aus jenen Gefilden, die sie selbst am liebsten bewohnen. Die tieferen Regionen überlassen sie ihren Kreaturen und der Dämmerung. Aber es ist nicht der Boden, vor dem ihnen graut, oder gar die in den Ruinen dahinvegetierenden Überlebenden. Es ist die manifestierte Dunkelheit, der Seelenfresser in der Tiefe.

      Wusstet ihr, dass die Buhltürme einst von Menschen errichtet worden waren? Damals hatten sie einen anderen Zweck erfüllt. Tausende hatten sie bevölkert, tagein, tagaus, und man musste sich in ihrem Schatten nicht fürchten. Heute ist davon nichts mehr übrig. In den Häusern ihrer Stadt gibt es keine Fenster, durch die sie blicken können, und in den Türmen keine Tore mehr, die nach draußen führen. Alle Zugänge sind verschlossen, die alten Pforten verbarrikadiert.

      Als ich an jenem

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