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Mutter lag, noch den Boden, über dem sich meine Spielsachen häuften: der Steinbaukasten, der Ball, die Bleisoldaten, die Ratsche und eine hölzerne Schäferei mit einem richtigen Schäferkarren, einem Pferch, einem Hirten, drei grünen Bäumen, einer Herde und einem Schäferhund. Das Innere des Wandschrankes war finster wie die Nacht vor der Nacht, in welcher der liebe Gott alle vier Wochen eine neue Mondbanane an den Himmel hängt, weil der Teufel die alte alle vier Wochen auffrißt.

      Ich muß hier zu meiner Schande gestehen, daß ich mir den Mond damals tatsächlich immer als eine riesige Banane, den Vollmond sogar als eine Bananentraube vorstellte. Heute begreife ich, warum meine Bubenphantasie die Bananen an den Himmel versetzte. Ich hätte allzugerne einmal eine dieser weichen goldenen Früchte zwischen der Zunge und dem Gaumen zerdrückt. Aber wir begnügten uns mit Äpfeln. Aus diesem Grunde wurden Bananen ebenso unerreichbare Dinge für mich wie der Mond. Ich haßte die Leute, welche Bananen essen durften. Sie mußten meiner Meinung nach unermeßlich reich sein und eine große, fast teuflisch große Macht besitzen, die sich über die ganze Welt bis zum Mond hinauf erstreckte. Später habe ich dann selber Bananen gegessen, und seither weiß ich, daß nicht alle reichen Leute Teufel sind. Die reichen Leute sind in Wirklichkeit bloß arme Teufel. Auch ich bin, seit ich Bananen esse, nicht reicher, sondern eher ärmer geworden, denn sobald ich Geld verdienen und diese Wunderfrucht kaufen konnte, hat sich der Mond auch für mich wie für alle gescheiten und erfahrenen Leute in einen staubigen Steinhaufen verwandelt, der mir, wenn er nachts allzu hell auf mein Bett scheint, den Schlummer stört und unruhige Träume beschert. Der Traum, den ich hier erzähle, war ein ruhiger, fast ein feierlicher Traum, was durchaus begreiflich ist, denn ich hatte ja, als ich ihn träumte, noch keine Banane gegessen.

      Unsicher aber furchtlos tappte ich mit meinen Händen im Wandschrank herum. Er sah jetzt wirklich wie eine Spalte ohne Gletscher aus. Nach einer Weile stieg ein dunstiger Schleier aus der Tiefe empor und deckte den schwarzen Abgrund vor mir zu. Der Schleier leuchtete violett wie die fernen Wälder hinter der Zahnlücke. Manchmal veränderte er seine Farbe. Dann glich er den Rauchegeln, die sich beim Einnachten über den hohen Fabrikkaminen rekelten und das Blut der untergehenden Sonne aus dem Abendhimmel saugten.

      Nun stieß ein silbernes Gespinst durch den Nebel hindurch. Ich erkannte den dünnen, beinahe senkrecht aufgerichteten Ausleger eines Kranes, hörte das Summen der Räder, sah, wie sich der schlanke Turm nach allen Seiten drehte und wendete und wie sich die weißen Schnüre, an denen unsichtbare Lasten gehoben und versetzt wurden, fleißig bewegten. Dieser Kran mußte ungeheuer groß sein. Er stand vermutlich auf einem Bauplatz, ragte aber hoch über die Wolken in die klare, unverhüllte Finsternis hinein. Der Anblick dieser blitzenden, steil in den Himmel ragenden und doch so nützlichen Arbeitsmaschine erfüllte mich mit Freude und Verwunderung. Sie stand im untersten Teil des blauen Wandschrankes und gehörte folglich mir. Mit einem Schlag verschwand auch das Gewölk. Die braunen Wände aus rohem Holz wurden sichtbar. Aber während am Boden des Wandschrankes, wie das auf einem Bauplatz üblich ist, ein heilloses Durcheinander herrschte, ergaben die eisernen Pfosten und Streben, die Schrauben, Nieten und Nägel des Kranes ein funkelndes Bild nüchterner Ordnung und himmelstürmender Betriebsamkeit.

      Ich habe diesen Traum bis auf den heutigen Tag nie vergessen. Ich erinnere mich noch genau an das prachtvolle Spielzeug, das für mich arbeitete und mit mir spielte, ohne daß ich es berühren durfte, weil ich es einfach nicht zu berühren wagte. Aber ich glaubte felsenfest, meine Mutter habe mir den Kran geschenkt und nachts eigenhändig in den Wandschrank gestellt.

      Am folgenden Morgen wachte ich frühzeitig auf und schlich ins Schlafzimmer meiner Eltern. Mein Vater hatte die Wohnung bereits verlassen. Ich kniete vor dem Bett meiner Mutter nieder und ergriff ihre Hand.

      „Hast du es dir überlegt?“ fragte sie mich.

      „So etwas Schönes hätte ich mir nie ausdenken können“, stammelte ich begeistert und gerührt.

      „Ja. Es ist etwas ganz Wunderbares!“ flüsterte meine Mutter und blickte lächelnd zur Zimmerdecke empor. Dann drehte sie mir plötzlich den Kopf zu und musterte mich erstaunt: „Aber, höre, wovon sprichst du denn eigentlich? Du kannst doch jetzt noch nicht wissen . . .?“

      Sie strich mit der linken Hand die Bettdecke glatt.

      „Ich darf mir doch etwas wünschen, nicht wahr, Mutter?“

      „Ja.“

      „Gut. Ich habe davon geträumt. Ich weiß, daß du bereits alles vorbereitet hast. Du hast nicht nur alles vorbereitet. Es ist schon da. Es ist . . . Nun . . .“ Ich senkte den Kopf und stotterte: „Ich habe von einem dunklen Wandschrank geträumt. Er sah genau so aus wie der blaue Wandschrank drüben in der Stube. In diesem dunklen Wandschrank steht es. Wunderschön zart gebaut und wie ein lebendiges Wesen, das sich selbst bewegt.“

      Ich blickte schüchtern auf und erschrak beinahe. Meine Mutter hatte sich aufgerichtet und schaute mich mit großen, entsetzten Augen an.

      „Oh, ich habe nicht zugeschaut!“ beteuerte ich. „Ich habe geschlafen. Ich streiche nachts nicht in der Wohnung umher. Aber es ist doch seltsam. Ich habe wirklich davon geträumt. Ich danke dir, Mutter . . .“

      „Du hast geträumt, daß du . . . “

      Ich hüpfte singend durch das Zimmer in die Stube hinüber und rief: „Ja, ich habe davon geträumt!“

      Mit klopfendem Herzen öffnete ich den Wandschrank. Da lagen meine Zinnsoldaten, meine Schäferei, der Ball und die zerbrochene Puppe. Aber der Kran war nicht dabei.

      Ich trommelte mit beiden Händen an meine Stirn und schluchzte laut. Da rief mir die Mutter aus dem Schlafzimmer zu: „Komm doch zu mir herein. Warum schämst du dich? Du hast alles so schön gesagt. Das mit dem dunklen Wandschrank . . . Hat dir der Pfarrer schon etwas darüber erzählt? Ich habe mit ihm gesprochen . . . Du weinst? Du denkst wohl an die Geschichte mit dem Plätteisen. Ach, es ist ja wohl alles gut ausgegangen. Nur die Puppe ist kaputt. Du darfst jetzt nicht weinen. Jetzt müssen wir uns zusammen freuen. Jetzt, wo du doch weißt, daß du ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommst. “

      Ein Geheimnis kommt selten allein

      Als meine Mutter sagte, ich werde ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen, verspürte ich plötzlich, daß vor diesem Geheimnis alle anderen, selbst die längsten und schönsten, welche ich bisher nur meiner hölzernen Puppe anvertraut hatte, in einem Nu verblaßten.

      Aber mit den Geheimnissen ist es wie mit den Unglücken, und ein Unglück kommt selten allein. So stürmte denn auch hier, bevor ich das erste große Geheimnis richtig begriff, ein zweites auf mich ein. Meine Mutter hatte ja nicht einfach gesagt: ,Du wirst ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen.‘ Sie sagte vielmehr: ,Jetzt, wo du doch weißt, daß du ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommst.‘ Sie glaubte also, ich wisse bereits um das große Geheimnis, und dieser Glaube meiner Mutter erfüllte mich einige Sekunden lang mit ungeheurer Genugtuung, aber gleichzeitig auch mit peinigender Unruhe. Ich kam mir plötzlich wie ein Spaßmacher im Zirkus vor, der unter dem Spielzelt über ein Drahtseil tänzeln sollte, während er doch eigentlich nur zu einer ganz ungefährlichen Hanswursterei in der Manege taugt, denn ich hatte ja, bevor es mir meine Mutter sagte, gar nicht gewußt, daß ich ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erwarten durfte.

      Weil nun aber meine Mutter glaubte, ich wisse, was ich nicht wußte, und weil sie gerade dieser falsche Glaube besonders freute, wagte ich es nicht, ihr meine Unwissenheit zu gestehen und ihren Glauben und ihre Freude zu zerstören. Ich schwieg und beschloß vorerst einfach, mich des mütterlichen Glaubens möglichst bald würdig zu erweisen und das Geheimnis, wie, wann und daß man ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen kann, rasch und gründlich zu erforschen. Vorerst hatte mir meine Mutter — allerdings ohne es zu bemerken — bereits einige wichtige Anhaltspunkte geliefert. Sie hatte mir einen Weg gewiesen, den ich beschreiten mußte, falls ich ans Ziel gelangen wollte. Wenn ich nämlich die letzten Worte meiner Mutter genau überdachte — und ich bedachte sie nicht nur fieberhaft schnell, sondern auch fieberhaft genau —, so verhielt es sich mit dem Brüderchen oder Schwesterchen, das ich bekommen sollte, im Grunde genommen gar nicht so geheimnisvoll. Zu einem Brüderchen

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