Скачать книгу

wie sie das Bein anwinkeln sollte. Sie tat es ihm nach. Ganz sanft legte er zwei Finger der einen Hand unter ihren Spann und gab ihr einen fast unmerklichen federleichten Druck von unten nach oben. Ohne sonstige Hilfe glitt sie auf den Rücken des Pferdes, saß oben, das rechte Bein darüber geschwungen, als wäre sie schon hundertmal so aufgestiegen.

      „Hach!“, seufzte sie.

      „Nicht wahr?“ Er lächelte zu ihr hinauf. „Breit ist er ja, und man sitzt gut, wenn er auch mager ist. Ich kriege und kriege nichts auf seine Rippen, so sehr ich mich auch mühe. Dabei frisst er ganz ordentlich.“

      Anja antwortete nicht. Eine Erinnerung, längst verweht, streifte sie – oder war es ein Traum, den sie irgendwann einmal geträumt und dann wieder vergessen hatte, der sich jetzt meldete? Sie hatte das schon einmal erlebt, das warme Fell an der Innenseite ihrer Beine, den merkwürdig schwebenden und doch irgendwie ansaugenden Sitz.

      „Schön, nicht? Und wie weit man sieht.“

      „Ja. Viel weiter als von unten.“

      „So, nun muss ich ihn mitnehmen, er muss heim. Es wird dunkel. Morgen kommt er wieder“, sagte der freundliche Mann und hob den Arm, um Anja herunterzuheben.

      „Danke, nein, ich kann allein.“ Sie hatte das rechte Bein zurück über die Kruppe geschwungen und ließ sich an der linken Seite des Pferdes heruntergleiten. Bums, da stand sie.

      Er sah sie lächelnd an.

      „Gut gemacht. Bis morgen also. Wie heißt du denn?“

      „Anja. Und Sie?“

      „Anders. Nein, so meinte ich es nicht –“ er lachte jetzt ganz richtig. „Ich heiße ‚Anders‘ mit dem Familiennamen. Bin Pferdepfleger im Reitverein, da drüben. Auf dem Eulengut. Kennst du es nicht?“

      „Nein. Wir sind erst hier hergezogen.“

      „Aha. Du bist neu. Sonst hätte ich dich ja auch schon gesehen.“ Herr Anders hatte Kerlchen an der Mähne gefasst und ging mit ihm los, im gleichen Schritt. Anja lief nebenher.

      „Gute Nacht, Kerlchen! Schlaf schön – gute Nacht, Herr Anders. Und danke fürs Aufsitzen!“

      „Bitte. Bist du morgen wieder da?“

      Er hätte nicht zu fragen brauchen.

      „Mutter, ich hab ein Pferd kennen gelernt, es heißt Rodi, aber es wird Kerlchen genannt. So groß – und lieb!“ Anja erzählte und erzählte. Mutter wickelte gerade den einen der kleinen Buben in eine schimmernd weiße, weiche Windel.

      „Das ist aber schön! Ein Pferd – da können die kleinen Brüder später reiten lernen –“

      „Ich – ich bin schon – nein, ich hab nur drauf gesessen. Geritten bin ich nicht, aber drauf durfte ich …“

      „Weißt du, was Anja erlebt hat? Sie erzählte es mir vorhin, strahlend und glühend vor Glück. Sie hat auf einem Pferd gesessen, hier irgendwo muss ein Reitverein sein.“ Mutter goss Tee ein und lächelte, während sie ihrem Mann die Tasse hinüberreichte. Er klopfte ihr zärtlich auf die Hand, sah sie an.

      „Vielleicht findet sie dort Freundinnen. Na, jetzt hat sie ja auch Brüder. Sie schließt sich schwer an, oder?“, fragte er.

      „Ja, das typische Einzelkind. Gewesen, gottlob, wenn die Brüder auch sehr viel jünger sind. Aber – du, weißt du, woran ich denken musste, als sie mir das vorhin erzählte? Ich ahne ja nicht, wie weit Erinnerungen zurückgehen können, aber … ihr Vater, Walter also, hat sie mal auf ein Pferd gesetzt, als sie ungefähr ein Jahr alt war oder etwas darüber, ich weiß es nicht genau. Er liebte ja Tiere so, am meisten Pferde. Immer sagte er, Anja würde mal eine große Reiterin. Und da hat er sie auf ein Pferd gehoben, und sie wollte absolut nicht wieder runter, klammerte sich fest und schrie: „Leiben! Leiben!“ Das hieß ‚bleiben‘. Und als er sie schließlich herunternahm, hat sie bitterlich geweint. Meinst du, dass sie sich daran noch erinnert?“

      „Bewusst sicher nicht. Aber vielleicht unbewusst. Es muss aber nicht sein. Das erste Mal auf einem Pferd zu sitzen, das ist auf alle Fälle ein Erlebnis. Ach ja, unsere kleine, große Anja – ob die Jungen später auch mal so verrückt auf Pferde sein werden? Mir wär es jedenfalls lieber als Motorräder.“ Beide lachten.

      „Mir wahrhaftig auch! Nein, nur nicht Motorräder. Ach, ein Glück, dass sie noch so klein sind …“

      Anja wachte auf, ehe Mutter sie weckte. Es war noch ganz dunkel. Sie lag still und versuchte, sich an das zu erinnern, was sie geträumt hatte.

      Von etwas Großem, Lebendigem – von Kerlchen natürlich! Er stand neben ihr, und sie zog eine Mohrrübe nach der andern aus der Tasche. Anja lachte. Das musste kein Traum bleiben. Wenn sie heute hinlief, um ihn zu treffen, würde sie bestimmt Mohrrüben mitnehmen. Erst aber kam die Schule. Oh weh.

      Eine neue Schule, eine neue Klasse, in der sie kein Kind kannte, und alle untereinander kannten sich – das war keine schöne Aussicht. Ob Mutter sie hinbringen würde? Hoffentlich. Oder Vater?

      Es wäre vielleicht besser, Vater ginge mit, da würden die andern gleich sehen, dass sie einen Vater hatte. So lange hatte sie keinen gehabt. Es brauchte ja niemand zu wissen, dass es ihr zweiter Vater war. „Stiefvater“ wollte sie nicht denken, das war ein hässliches Wort. Und Vater war wirklich kein böser Stiefvater.

      Auf einmal merkte Anja, dass sie weinte. Es weinte einfach aus ihr heraus, sie hatte gar nicht gemerkt, wann es anfing. Schleunigst kroch sie mit dem Gesicht unter das Deckbett, zog es mit beiden Händen über sich und hielt die Zipfel fest. Wenn Mutter kam und sie wecken wollte und merkte, dass sie weinte, und dann fragte …

      Sie konnte ja nicht erklären, warum sie weinte, das wusste sie genau. Sie hatte Angst – vor der neuen Schule, vor der neuen Klasse, vor dem neuen Leben. Nicht aufstehen müssen, nicht in die neue Schule gehen, wenn Mutter kam, würde sie sagen, sie hätte Kopfschmerzen – oder ihr wäre schlecht – oder …

      Dann aber konnte sie nachmittags nicht zu Kerlchen laufen. Er würde stehen und auf sie warten, umsonst. Sicherlich würde er das. Wenn sie ihm auch nur Hustenbonbons gebracht hatte. Nein, sie musste aufstehen, sie musste in die Schule. Es half nichts. Zu Kerlchen wollte sie.

      Sie hatte aufgehört zu weinen, zog das Deckbett vom Gesicht und guckte zum Fenster hinüber. Das war jetzt ein graues Viereck, es begann zu dämmern. Gleich würde Mutter kommen.

      Aber Mutter kam nicht. Anja hörte sie hin und her gehen, zur Küche und zurück ins Schlafzimmer, hörte sie zärtlich beruhigend reden mit den kleinen Jungen, denen sie die Flasche gab, mit Vater lachen. Warum kam sie nicht? Sicherlich war es doch höchste Zeit …

      Anja gab sich einen Ruck und kroch aus dem Bett. Im Schlafanzug und barfuß tappte sie durchs Zimmer, machte die Tür einen Spalt weit auf.

      „Mutter?“

      „Anja! Bist du wach? Komm schnell, du frierst doch.“

      In der Küche war es warm, Mutter stellte gerade die Kaffeekanne auf den Tisch. Vater stand am Herd und ließ ein Ei nach dem andern ins zischende Fett gleiten. Sein Gesicht war vergnügt, er nickte Anja zu.

      „Heute frühstücken wir amerikanisch, mit Speck und Eiern, magst du das?“, fragte er munter. Anja mochte es nicht, sie nickte aber trotzdem.

      „Setz dich. Du kannst nachher duschen, damit wir zusammen frühstücken können. Komm, hier ist Platz für dich.“

      Die Küche war schon ganz gemütlich, Vater und Mutter mussten gestern noch fleißig gewerkelt haben. Der viereckige Tisch stand vor der Eckbank, eine bunte Decke darauf – Vater nahm gerade die roten Teller vom Bord. Sogar das Tellerbord hatte er schon angeschraubt, die Küche sah wohnlich und reizend aus.

      „Nicht wahr? Wir haben die schönste Küche der Welt“, sagte er und ließ ein Spiegelei auf Anjas Teller rutschen, „dort ist Brot – was willst du trinken? Kakao? Hier ist dein Becher.“

      „Muss ich nicht

Скачать книгу