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Herr Anders.

      „Und zuletzt machten sie eine Pyramide am Pferd, drei saßen drauf und zwei standen, und rechts und links machte eins Handstand am Pferdehals … ich möchte auch voltigieren lernen – oder bin ich schon zu groß dazu?“

      „Aber woher denn! Es gibt auch Voltigiergruppen aus Erwachsenen – freilich ist es gut, wenn man früh damit anfängt, genau wie beim Reiten.“

      „Gibt es das hier im Reitverein?“, fragte Anja dringend. „Hier bei Ihnen?“

      „Doch, ja, von Zeit zu Zeit machen wir Kurse. Und da mitzutun, ist nicht so teuer wie Reitstunden, weil eben viele Kinder miteinander üben, an einem Pferd. Mindestens sechs sollten es sein, damit jedes nach seiner Übung verpusten kann. Beim Voltigieren kommt man nämlich sehr schnell außer Atem, das kann ich dir sagen! Vielleicht kannst du beim nächsten Kurs mitmachen?“

      „Oh, das wäre schön! Nur – wissen Sie – meine Eltern! Meine Mutter … ja, also gern sieht sie es nicht, wenn ich zu Ihnen gehe. Sie war ja auch noch nie mit und hat sich nicht angesehen, wie es bei Ihnen ist.“

      „Die meisten Eltern sehen es nicht so gern, wenn sie ihre Kinder dann für ganze Nachmittage los sind. Und die Schularbeiten liegen da und werden nicht gemacht, und geholfen wird nicht, während man im Reitverein gern hilft.“ Herr Anders lachte leise. „Aber das gibt sich. Und wenn man so schön nahe wohnt wie du … du wohnst doch da drüben, gegenüber dem Einkaufsladen? Na siehst du. Und schon sind wir angekommen.“ Sie standen vor dem Stall.

      „Schade“, sagte Anja und seufzte aus Herzensgrund. „Schade – aber es war schön – ach, herrlich! Darf ich wieder mal?“

      „Natürlich darfst du. Komm – aha, da brauch ich gar nicht zu helfen. Du kommst allein runter.“ Anja hatte sich seitlich hinabgleiten lassen und stand jetzt wieder an Kerlchens Kopf, glühend vor Aufregung und Glück.

      „Danke, Kerlchen, das war schön! Morgen bring ich dir wieder Mohrrüben – oder hartes Brot. Ist doch besser als Zucker, nicht wahr, Herr Anders?“

      „Viel besser. Zucker nur in ganz kleinen Mengen, als große Belohnung. Im Zoo ist mal ein Elefant an Würfelzucker gestorben, weil ihn die Leute so sinnlos fütterten. Zucker übersäuert den Magen, so komisch das klingt. Und nie Schokolade geben, verstehst du? Ach, was die Leute manchmal Unsinniges füttern.“

      Ich bin geritten, ich bin geritten, ich bin geritten, sang es in Anjas Herzen. Ich bin auf Kerlchen geritten, ganz allein. Er hat den Zügel nicht angefasst, ist nur nebenher gegangen, der Herr Anders. Ich bin allein geritten …

      Sie rannte heim. Wenn sie ganz schnell wieder zu Hause war, würde Mutter vielleicht nichts merken. Sie musste nur ins Haus hineinkommen, ohne zu läuten, einfach durch den Keller. Und dann so tun, als wäre sie die ganze Zeit zu Hause gewesen, hätte Schularbeiten gemacht oder …

      Und sie konnte Mutter ja auch helfen, von sich aus. Fragen: „Was kann ich tun, Mutter? Soll ich einkaufen gehen? Brauchst du noch was?“ Meist brauchte Mutter noch was, auch wenn sie schon Besorgungen gemacht hatte.

      Alles ging gut. Anja schlich durch den Keller, stand mit klopfendem Herzen auf der obersten Stufe der Treppe, huschte durch den Flur in ihr Zimmer. Gerettet! Und jetzt zu Atem kommen, und dann ganz harmlos hinübergehen, so, als wäre man überhaupt nicht draußen gewesen …

      Ich bin geritten! Wie einen kostbaren Schatz trug sie dieses Wissen in sich, einen Schatz, den sie nie verlieren konnte. Ich bin geritten, vielleicht reite ich morgen wieder. Oh, Reiten, das Schönste auf der Welt! Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt.

      „Was glaubt ihr – es schneit!“

      Vater stand in der Tür, noch im Mantel, der wahrhaftig an den Schultern weißgepudert war. Anja fühlte ihr Herz hüpfen. Jedes Kind freut sich über den ersten Schnee. Gleichzeitig aber fuhr es ihr wie ein Stich hindurch: Schnee! Dann konnte Kerlchen vielleicht nicht mehr auf die Weide?

      Vielleicht doch. Vielleicht blieb der Schnee nicht liegen – aber es wäre andererseits eben wunderbar, wenn er liegen bliebe. In den letzten Jahren hatte es doch so wenig geschneit …

      „Oh, da werden sich die kleinen Jungen aber freuen!“, sagte Mutter sofort.

      „Und die große Anja erst recht“, schmunzelte Vater und sah zu seiner Tochter hin. Mutter lachte.

      „Na klar! Das sowieso. Aber für die Jungen ist es doch etwas Neues! Und wir kaufen einen Rodelschlitten mit Lehne, da packen wir Volker und Reinhold hinein, mit Kissen und Wärmflaschen, und Anja kann sie ausfahren, das macht viel mehr Spaß als mit dem Kinderwagen. So einen Schlitten hatte ich auch für dich, als du klein warst.“

      „Ja, aber den Schlitten schaffen wir gleich an, nicht erst zu Weihnachten!“, sagte Vater und hängte seinen Mantel in den Flur. „Nicht mal bis zum Nikolaus warten wir! Wenn Schnee kommt, muss man ihn ausnutzen. Wie lange ist es denn noch bis zum Nikolaus?“

      „Drei Wochen und zwei Tage“, kam es blitzschnell von Anja. Er streifte sie mit einem Blick. Dann sagte er lachend: „Schnell und genau. Antwortest du in der Schule auch immer so? Dann wünschte ich, ich hätte dich in meiner Klasse.“

      Anja schwieg. Sie wusste, warum sie so genau hatte Bescheid geben können – sie dachte an das Nikolausreiten! Immerzu dachte sie daran, ob Petra bis dahin so weit gesund wäre, dass sie mitreiten könnte. Und ob Cornelia den Flieder bekam, den sie sich so heiß wünschte, und ob die Familie Hartwig ihren dickköpfigen Kronprinzen dazu bringen würde, mitzureiten.

      Was hieß in diesem Falle reiten! Anja kannte das Festprogramm auswendig. Da war der erste Punkt: Vorstellen aller Pferde, Besitzer- und Vereinspferde. Und dabei sollte Petra die Rumpel haben, Angelika die Lady und Werner den Kerlchen. Die dritte Schwester war für Wanda vorgesehen, die bei solchen Gelegenheiten, wo viele Pferde mitgingen und es etwas eng würde, sehr grätig werden konnte, aber Martina traute sich zu, mit ihr fertig zu werden. Das Nikolausreiten – Anja zählte die Tage, deshalb hatte sie so präzise antworten können.

      Am nächsten Nachmittag lief sie gleich zur Wiese. Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und die Siedlung sah ganz anders aus als vorher, wie aus einem Bilderbuch. Anja hatte den alten Lodenmantel angezogen und die Taschen voll gestopft mit Brotstückchen, die hart geworden waren. Immerzu Möhren stiebitzen konnte man ja auch nicht. Viel Hoffnung, Kerlchen zu treffen, hatte sie nicht, aber …

      Doch, da stand er! Herr Anders hatte ihn also doch herausgelassen, wahrscheinlich, damit er recht viel gute Luft bekam. Am Rand der Koppel war jetzt eine kleine überdachte Raufe aufgestellt. Anja sah sie zum ersten Mal. Wie eine Wildfütterung, nur etwas höher. Kerlchen hatte das Heu, das darin gewesen sein mochte, gewissenhaft bis zum letzten Halm verzehrt, aber diese Raufe gab Anja die Hoffnung, dass er auch später noch bei Schnee hier sein würde.

      „Hurra, mein Kerlchen!“

      Sie schwang sich über den Koppelzaun und lief zu ihm hin, glücklich, erleichtert. Und wirklich, er drehte sich, als sie ihn anrief, sah ihr entgegen und kam ein paar Schritte auf sie zu. Beglückt nahm sie ihn um den Hals.

      „Alter guter Knochen“, so sagte Herr Anders immer. Das Pferd stand still bei ihren Zärtlichkeiten, bog dann den Hals und schnupperte an ihrer Manteltasche. Und plötzlich – raaaz – hatte er sie aufgerissen, indem er seine dicke Nase hineinversenkte.

      „Kerlchen, du Grobian!“ Anja lachte zärtlich. „Die Tasche muss ich aber wieder annähen, sonst merkt Mutter, dass ich bei dir war. Was, in die andere willst du auch noch hinein mit deinem gierigen Maul …“

      Später, als Herr Anders kam, erzählte sie es ihm und zeigte ihm die halb abgerissene Tasche. Herr Anders lachte still in sich hinein.

      „Das ist seine Art. Immer muss er in alle Taschen hinein, am liebsten mit dem ganzen Kopf. Wie viele Taschen hat er schon aufgerissen! Wir sagen nichts, wenn neue Leute in den Reitverein kommen; früher oder später macht er das bei allen. Willst du ihn wieder reiten?“

      Und ob sie wollte! So eine Frage! Strahlend saß sie auf, und strahlend ritt

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