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Birnen gerollt waren. „Bis unter den Taufstein, wahrhaftig!“

      Nele lachte so laut, daß sie sich unwillkürlich erschrocken den Mund zuhielt. Wenn auch kein Gottesdienst war, quieken durfte man in der Kirche halt doch nicht.

      „Das ist der Taufstein?“ Sie stand und sah in das spiegelnde Rund hinein, nachdenklich jetzt, versonnen. „Wurdest du auch hier getauft?“

      „Ja, wir alle. Von Vater. Schön, nicht wahr?“

      „Schön.“

      Wie sie so dastand, das Haar mit einem blauen Band, das eine hübsche Kopfform gab, zusammengehalten, still und andächtig – das rührte ihn seltsam tief. Sie war fünfzehn, so jung, so ganz im Anfang – das Leben sollte ihr nicht wehtun. Sie war so weich, jeder Stoß oder Schlag mußte eine Narbe geben, die nie ganz verheilte, so meinte er zu wissen. Man mußte gut zu ihr sein, gut – und behutsam. Wer weiß, was das Schicksal mit ihr vorhatte, mit diesem jungen Kind, das noch so gar nichts von sich wußte – und von der Welt, der es entgegenwuchs.

      „Was hast du?“ fragte Nele jetzt, nachdem sie den Blick zu ihm gehoben hatte und merkte, wie ernst er sie ansah.

      „Nichts“, sagte er heftig, heftiger, als er gewollt hatte, und lachte ein wenig geniert. „Nichts, ich dachte nur an etwas. Wir haben noch viel zu tun. Komm!“

      Er nahm ihre Hand und führte sie mit sich, so, wie man ein Kind führt. Nele war viele Jahre lang nicht so gegangen, es erschien ihr merkwürdig, auf solche Art geführt zu werden, aber auch seltsam süß.

      Sie verließen die Kirche und durchquerten den Gottesacker, gingen aber nicht in die Pfarre zurück, sondern um die kleine Kapelle herum zum westlichen Hang. Dort stand unter Bäumen und verwachsenen Büschen eine Bank. Utz setzte sich, und Nele ließ sich neben ihn ziehen.

      Es war noch hell, obwohl die Sonne schon hinter dem gegenüberliegenden Hügel verschwunden war. Der Himmel leuchtete himbeerfarben dort, wo er auf dem schmalen Strich der Erde auflag, weiter oben in starkem Messinggelb, das allmählich blasser und schließlich ganz weiß wurde, silbern, durchsichtig. Darüber begann ein zartes Kristallgrün, in dem der Abendstern stand.

      Sie saßen ganz still. Erst nach Minuten wagte Utz, seinen rechten Arm auf die Lehne der Bank hinter Nele zu legen.

      „Ein Lied dürfen wir uns nun aussuchen, von denen, die am Sonntag gesungen werden, meine ich“, sagte Utz nach einem langen Schweigen, und er mußte sich vorher ein wenig räuspern, damit seine Stimme so klang wie sonst, „das war immer so. Wer die Kirche schmückte, durfte das. Was möchtest du denn für eins?“

      „Und du?“ fragte Nele, ohne sich zu bewegen. Utz sah in die verlöschende Glut des Abendhimmels.

      „Ich hab’ ein Lieblingslied, vielleicht kennst du es gar nicht.“ Er summte andeutungsweise die Melodie, und Nele nickte. „Es ist eigentlich ein geistliches Volkslied. ‚Auf Adlersflügeln getragen, übers wogende Meer der Zeit – ‘.“

      Er hatte eingesetzt, ganz leise, nur mit Kopfstimme.

      „Getragen auf Adlersflügeln, bis hinein in die Ewigkeit –“

      „O ja. Das möchte ich gern, daß wir das singen“, sagte Nele, als sie geendet hatten, „steht das in euerm Gesangbuch? Ich habe es noch nie gedruckt gesehen.“

      „Im Anhang.“

      Utz stand auf. Es war fast dunkel. Ob er mich wieder an der Hand nimmt? dachte sie, während sie ihm folgte. Er tat es nicht. Er schob seinen Arm durch ihren, sacht, mit unglaublicher Vorsicht und Zartheit. Nele war noch nie im Leben mit einem Mann so gegangen.

      „Vorsicht, hier geht es bergab“, sagte Utz halblaut, gleichsam erklärend, warum er dies tat.

      „Ich fall’ nicht“, sagte sie wie im Traum, und er hörte an ihrer Stimme, daß sie dabei lächelte. Langsam ging sie an seiner Seite dahin und wünschte nur, der Weg bis zum Gartenpförtchen wäre noch viel, viel länger, unendlich lang ...

      Etwas Wunderbares erlebte Nele am vorletzten Tag, den sie hier in Utz’ Heimat war. Leider erst an diesem Tag – wie hätte es werden können, wenn sie eher dazu gekommen wäre! Aber auch so war sie glücklich und dankbar, so sehr, daß es Utz bewegte. Er hatte ja nicht ahnen können, an welche Saite er da rührte, überhaupt war ihm nicht klar, wie junge Menschen in der Stadt aufwachsen und welch einen Reichtum es bedeutete, die ersten Jahre seines Lebens auf dem Lande zu verleben, Tieren und Bäumen verschwistert und vertraut ...

      Sie waren durchs Dorf gebummelt, Utz und Nele, und er erzählte ihr von diesem und jenem Haus. Wer darin wohnte, ein Schulkamerad, ein Freund, ein Gegner. Im Dorf gibt es unter der Schuljugend Gegnerschaften, die sich durch Jahre hinziehen. Da wird belagert, aufgelauert, gekämpft und gesiegt, und keiner der Erwachsenen ahnt etwas davon. In diesem Dorf gab es eine Müller- und eine Oberdorfpartei. Utz gehörte der Müllerpartei an, obwohl das Pfarrhaus im Oberdorf lag. Der Sohn des Müllers war sein Freund, mit ihm sammelte er seine Getreuen um sich, wenn auf dem Anger hinter der Mühle die Schlachten ausgetragen wurden.

      „Daher kann ich so gut werfen“, sagte Utz, „ich habe darin Übung. Unsere Gefechte wurden mit Steinen ausgefochten, im Winter mit Schneebällen. Als ich später in die Stadt kam, ins Gymnasium, da staunte ich, was für eine Aufregung um ein bißchen Steinewerfen gemacht wurde. Dort gab es für jeden Steinwurf eine Stunde Arrest, ja, manche Lehrer gerieten schon außer sich, wenn man sich nur nach einem Stein bückte. Solange wir hier Krieg führten, und das dauerte viele Jahre, ist nie etwas Ernstliches passiert, eine Augenverletzung oder so was. In der Stadt war es strengstens verboten. Anfangs stieß ich gewaltig mit den dortigen Grundsätzen zusammen –“ er lachte halblaut, und Nele merkte, daß er an etwas Bestimmtes dachte.

      „Was gibts? Erzähl!“

      „Ach, weiter nichts. Ich mußte nur an eine Geschichte denken, die in einem Sammelband steht – er muß übrigens noch da sein –, aus dem Vater uns manchmal vorlas. Die fängt an: ‚Landpfarrersbuben sind eine bitterböse Rasse!‘“

      „Wirklich? Das ist aber übertrieben!“ sagte Nele schnell und so bestimmt, daß er lachen mußte.

      „Es wird dann auch sofort eingeschränkt. ‚Jedenfalls, solange sie noch Buben sind‘, heißt es. ‚Später werden dann mitunter ganz tüchtige Leute aus ihnen. Aber in den Jahren, wo des Vaters Studierstube noch ihr Gymnasium ist, der oberste Kastanienwipfel ihr Empfangszimmer, die Ortsgemarkung ihr Spielplatz und die Dorfjugend ihr Gefolge, sind sie auf dem besten Wege, gemeingefährliche Herrenmenschen zu werden‘ – oder so ähnlich.“

      „Gemeingefährlich!“ sagte Nele halblaut und empört, „das klingt ja scheußlich. Aber wenn ihr spieltet, warst du also der Anführer?“

      „Manchmal ja. Nicht immer. Der Fritz und ich – der Fritz ist der Müllerssohn von hier –, wir hielten zusammen. Man sagt ja auch: ‚Pastors Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie‘. Ja, es muß schon etwas Wahres dran sein. Also mit dem Fritz hatte ich Nibelungentreue geschworen, und da mußte jeder einmal befehlen dürfen. Übrigens beschränkte sich unsere Freundschaft nicht auf das Kriegerische. Wir hatten auch friedliche gemeinsame Interessen. Wir angelten im Mühlgraben und sind dabei unzählige Male ins Wasser gefallen. Mühlgräben sind tückisch, weil sie nicht sanfte, natürliche Ufer haben wie ein Bach oder ein Fluß, sondern künstlich angelegt sind. Die Ränder gehen steil hinunter, und das Wasser reißt sehr. Aber wir konnten seit eh und je schwimmen. Ich besinne mich überhaupt nicht, daß oder wie wir es gelernt haben, wir konnten es eben. Und wir fuhren Boot, machten Kopfsprung vom Mühlenwehr hinunter, tauchten und tobten im Wasser herum. Und dann ritten wir auf den Mühlenpferden.

      Es waren zwei Falben, und sie hießen Hans und Liese, wie die meisten Pferde auf dem Land. Für uns aber waren sie die schönsten und kostbarsten Rosse. Wir nannten sie Schimming und Grani wie die Pferde aus der Nibelungen- und Amelungensage. Schimming gehörte dem starken Schmiedsohn Wittich, und Grani war Siegfrieds Pferd. Ich liebte die deutschen Sagen sehr und kannte sie ganz genau. Indianer haben wir fast nie gespielt, immer nur Dinge aus den Sagen. Mir gehörte der Schimming. Vielleicht

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