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meinte; über und über errötete sie und sah das Blatt Papier an wie etwas Häßliches, Feindseliges. »Aber das ist nicht die Schrift von Emilie Forbes,« sagte sie nach einiger Zeit. – »Dann hat es jemand anders für sie geschrieben; sie will natürlich nicht, daß euer Pfarrer ihre Handschrift erkennt, wenn du ihm das Blatt zeigst.«

      »Ich zeige es ihm nicht, sonst wird noch einmal vor allen davon gesprochen. O, Thomas, wenn doch die Mutter das nicht getan hätte!« Sie stützte den Kopf in die Hände und weinte. Es war auch heute alles so traurig; das gute Plätzchen durfte sie nicht annehmen, und nun kam noch das dazu!

      Der Bruder war erzürnt über Reginens Mitschülerin. »Ich schreibe dir auch einen Zettel,« sagte er, »den legst du in ihr Buch, und an dem soll sie auch keine Freude haben!« Nicht umsonst half er täglich als Setzer eine Zeitung drucken, die voll Gift und Galle war. Eine scharfe Antwort kam ihm schnell in die Feder, sie lautete nicht fein. Aber Regine wollte nichts davon wissen, Thomas wurde ärgerlich. »So etwas läßt man sich doch nicht gefallen!« sagte er, »was hilft dein Weinen? Wehren muß man sich!« – Aber unter bitterem Schluchzen rief Regine: »Es wird eben wahr sein, Thomas, was auf dem Zettel steht; wir sind alle nicht ehrlich, weil’s die Mutter nicht ist. Wenn das mit dem Apfel wahr ist, so muß doch auch das mit uns wahr sein!«

      Thomas war betroffen von dieser Bemerkung und sah das Sprichwort auf dem Papier nachdenklich an. Aber bald sprach er tröstend zur Schwester: »Nein, nein, es ist nicht wahr. Die Äpfel bleiben freilich liegen, wo sie hinfallen; aber wir Menschen können aufstehen, und gehen, wohin wir wollen. Und auf Diebeswegen gehen wir schon einmal nicht, wir zwei, gelt, du?« Da hob die Schwester vertrauensvoll den Kopf zu dem Bruder, der jetzt wieder mit ihr im Bunde stand. Sie rückte näher zu ihm heran und sah ihm zu, wie er nocheinmal ein Blättchen Papier beschrieb. »So,« sagte er, »das kannst du ruhig Emilie Forbes ins Buch schieben; das ist jetzt ganz zahm, und wenn es zufällig dein Pfarrer zu lesen bekäme, so hätte er selbst nichts dagegen.« – Regine las: »Ein Apfel bin ich nicht, der nur so liegen bleibt. Ich bin ein Mensch und kann mich frei vom Platz bewegen.«

      Zustimmend nickte sie, so gefiel es auch ihr. »Das Blatt kannst du ihr frei in die Hand geben, dann sieht sie gleich, daß du dich nicht vor ihr fürchtest. Paß auf, dann läßt sie ihre bösen Reden künftig bleiben.«

      Als nach der nächsten Konfirmandenstunde Emilie Forbes eben ihre Bücher zusammenpackte, wandte sich Regine nach ihr um, schob ihr das Blatt Papier entgegen und sagte: »Das gehört in dein Buch.« Betroffen sah das Mädchen auf die Worte, die da standen, und errötete beschämt. Aber sie geriet in noch größere Aufregung, als sie bemerkte, daß Regine vor allen andern Mädchen mit dem Pfarrer zugleich den Saal verließ; gewiß in der Absicht, mit ihm reden zu können. Darin hatte sie auch recht, nur daß Regine nicht über das sprechen wollte, was ihr Emilie Forbes angetan hatte; nein, sie mußte dem Pfarrer Bescheid geben wegen des schönen Plätzchens, das sie nicht annehmen durfte. Zögernd brachte sie die ablehnende Antwort heraus. Dem Pfarrer war es sichtlich leid, daß der Vorschlag seiner Frau nicht angenommen wurde. »Schade, schade!« sagte er, »es wäre so gut für dich gewesen.« Gerne hätte er in dem Herzen des Mädchens gelesen, ob die Abwesenheit der Mutter der wahre und einzige Grund der Ablehnung war. »Später, wenn deine Mutter zurück ist, dürftest du dann die Stelle annehmen?« fragte er. Regine wußte nichts darauf zu antworten. Die Mutter war ja gerade diejenige, die nichts vom Dienen wissen wollte. So blieb sie die Antwort auf diese Frage schuldig. Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander.

      »Zunächst ist da nichts zu machen,« sprach jetzt der Pfarrer, »vielleicht später, wenn deine Mutter heimkommt. Das wird ein trauriges Wiedersehen geben, Regine, wenn die Mutter deinen kleinen Bruder nicht mehr findet. Du mußt sie dann recht lieb haben, trotz dem was sie getan hat. Die Mutter lieben, aber die Unehrlichkeit hassen, so halte du es, Regine. Und an deiner Konfirmation, wenn du an den Altar trittst, so denke daran, was ich dir gesagt habe; und wenn ich dir die Hand zum Segen aufs Haupt lege, so werde ich auch daran denken: das ist eine, die hat einen schweren Kampf aufzunehmen, die will die Mutter innig lieben, aber die Unehrlichkeit grimmig hassen; Gott gebe ihr die Kraft dazu!«

      Der letzte Sonntag vor der Konfirmation war gekommen. Regine saß am Nachmittag ganz allein zu Hause; der Vater, der Bruder, die Schwester waren da- und dorthin gegangen. »Wenn du konfirmiert bist, nehme ich dich auch einmal mit dahin, wo’s lustig zugeht,« hatte Marie versprochen; obgleich sie selbst nicht mehr so lustig aussah wie früher, sondern blaß und verstimmt war. Aber sie war doch gegangen, und Regine war allein.

      Alle ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem nächsten Sonntag. Gestern Abend hatte die Näherin ihr das schwarze Kleid gebracht; es sah wie neu aus, obwohl es aus dem der Schwester gemacht war. Sie nahm es aus dem Schrank und freute sich daran. Dann dachte sie an ihre Mutter. Man hörte gar nichts mehr von ihr, sie war wie verschollen. Ob sie wohl wußte, daß am nächsten Sonntag ihre Konfirmation war? Wie traurig zu denken, daß die Mutter eingesperrt in ihrer Keuche sitzen würde, wie der Vater das immer nannte; während andere Mütter in die Kirche kamen, um zu sehen, wie ihre Kinder eingesegnet würden. Das zu denken, tat ihr weh. Sie wollte ihr auch einmal schreiben, heute noch, gleich jetzt. Sie sollte ja die Mutter lieb haben.

      So setzte sich Regine an diesem einsamen Sonntag Nachmittag hin und schrieb der Mutter einen langen Brief; erzählte ihr von der Konfirmation und kam auch auf das verstorbene Brüderchen zu sprechen, wie es immer nach der Mutter verlangt habe, und unter Tränen beschrieb sie die Krankheit und den Tod des Kindes. Am nächsten Morgen bat sie den Bruder, daß er den Brief überschreibe und besorge. Er las ihn und meinte, wenn die Mutter nicht krank sei, würde sie ihn ganz gewiß beantworten. Darauf hoffte nun Regine, und dachte es sich schön aus, daß sie zur Konfirmation wenigstens einen Brief bekommen werde.

      Allein die Woche verging; der Tag der Konfirmation brach an, und es kam kein Lebenszeichen von der Mutter. Regine dachte freilich an diesem Morgen kaum mehr daran. Ihre Gedanken waren erfüllt von der Feier. Sie mußte auch nicht allein zur Kirche gehen. Der Vater, der am Sonntag Morgen gerne lange schlief, wollte freilich nicht mit ihr gehen; und Marie entschuldigte sich damit, daß sie heute etwas Gutes kochen wolle. Aber Thomas begleitete sie, und der war ihr doch der liebste. So gingen Bruder und Schwester zusammen, und sie vertraute ihm an, was der Pfarrer zu ihr gesagt hatte, und sie sagte nicht: »ich« soll die Mutter lieben und die Unehrlichkeit hassen, sondern sie sagte »wir« und zog ihren Bundesgenossen mit herein in die Lebensaufgabe, die ihr gestellt war.

      Vor der Kirche trennten sich die Geschwister, der Bruder stieg auf die Empore und sah von oben, wie unter dem Geläute der Glocken die Konfirmanden in langem Zug durch das Schiff der Kirche bis zu den Bänken vor dem geschmückten Altar kamen. Die Feier, die er seit der eigenen Konfirmation nicht mehr mitgemacht hatte, bewegte dem jungen Burschen das Herz.

      Als Regine an den Altar trat, mochte manches Glied der versammelten Gemeinde denken: Welch ein kleines, schmächtiges Mägdlein, noch ein ganzes Kind! Und doch war vielleicht keine von all den Konfirmandinnen mit solchem Ernst bei der Einsegnung, wie eben diese Kleine. Hatte ihr doch auch der Pfarrer versprochen, daß er an sie denken wollte. Sie erinnerte sich an seine Worte und trat, nachdem er sie eingesegnet hatte, mit fröhlicher Zuversicht aus der Kirche heraus, um den Kampf des Lebens aufzunehmen.

      Zu Hause sah es nicht festlich aus. Der Vater, eben erst aufgestanden, war mürrischer Laune; und die Schwester von eigenen Gedanken hingenommen, die nicht erfreulich schienen. Doch hatte sie der Konfirmandin zu Ehren ein gutes Essen gekocht, das nun in aller Stille verzehrt wurde. Seit dem Tod des Kleinen war es immer still beim Essen. Plötzlich ging die Türe leise auf, und in ihrem Rahmen erschien eine blasse Frau mit abgehärmten Zügen und sah mit großen, traurigen Augen auf die Anwesenden. Ein Ausruf des Erstaunens entfuhr allen: »Die Mutter!« Und da alle, wie vor einem Gespenst erschreckend, sie ansahen, so blieb die Gestalt wie gebannt an der Türe stehen und rührte sich nicht. Einen Augenblick währte die Bestürzung, dann erhob sich der Mann und ging auf seine Frau zu. »Wie kommst du heute hierher?« fragte er. »Ich glaube gar, du bist heimlich entwichen.« – »Nein, nein,« sagte die Frau und trat nun näher an den Tisch heran; »ich habe meinen Entlaßschein, ich bin frei. Die Hälfte der Zeit ist mir erlassen worden wegen guter Führung, auch wegen meiner Kränklichkeit und aus Rücksicht auf die Kinder. Zum Konfirmationstag haben sie mich entlassen.«

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