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      Die Arbeit an diesem Essay wurde durch ein Arbeitsstipendium aufgrund von Covid-19 der Stadt Wien unterstützt.

      Copyright © 2021 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

      Alle Rechte vorbehalten

      Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

      ISBN 978-3-7117-2107-5

      eISBN 978-3-7117-5444-8

      Informationen über das aktuelle Programm

      des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

      www.picus.at

      Robert Misik, geboren 1966, ist Journalist und politischer Schriftsteller und schreibt regelmäßig für die Berliner »tageszeitung«, »Die Zeit«, die »Neue Zürcher Zeitung« und den Wiener »Falter«, außerdem produziert er die Videoshow »FS Misik«. Zahlreiche Preise, etwa der Bruno-Kreisky-Förderpreis, 2010 Journalist des Jahres in der Kategorie Online. 2009 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen im Picus Verlag »Was Linke denken«, »Ein seltsamer Held«, »Herrschaft der Niedertracht« (2019) und »Die neue (Ab)normalität. Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft« (2021). www.misik.at

      ROBERT MISIK

      DIE NEUE

      (AB)NORMALITÄT

      UNSER VERRÜCKTES LEBEN

      IN DER PANDEMISCHEN

      GESELLSCHAFT

      PICUS VERLAG WIEN

      INHALT

       ABSCHNITT 1 DAS JAHR DER ANSTECKUNG

       ABSCHNITT 2 EPIDEMIEN UND GESELLSCHAFT

       ABSCHNITT 3 IN PANDEMISCHER GESELLSCHAFT

       ABSCHNITT 4 KOSTE ES, WAS ES WOLLE

       SCHLUSS LASST DIE PARTY BEGINNEN

       VERWENDETE LITERATUR

      ABSCHNITT 1

      DAS JAHR DER ANSTECKUNG

      In Charles Baudelaires »Les Fleurs du mal« gibt es das Gedicht »À une passante« (»Auf eine Vorübergehende«). Tobender Straßenlärm, städtische Menge. Die Erzählerposition hat ein Mann der Menge inne, die Ich-Figur, an ihm geht eine Passantin vorbei, Blicke, die einander treffen, kurz, wie ein Blitz. »Werd ich in Ewigkeit dich erst wiedersehen? / (…) Ich weiß nicht, wohin du gehst, du nicht, wohin ich / Dich hätte ich geliebt und du hast es gewusst.« Für Walter Benjamin war Baudelaire der erste große Dichter des großstädtischen Lebens, einer neuartigen Existenzform, die sich durch Eigenarten auszeichnet wie: Lautstärke, Lebendigkeit, ein Feuerwerk der Eindrücke und flüchtiger Wahrnehmungen, Blicke, Sehen, Gesehenwerden, anonyme Begegnungen, Überreizung der Sinne.

      Für einen Augenblick erregt die Vorübergehende die Aufmerksamkeit, doch man weiß, man wird einander nicht wiedersehen. Wir kennen das. Womöglich spielen wir in Gedanken die Möglichkeiten durch. Womöglich hätte sie die Liebe erwidert. Modernes Leben, das sind Begegnungen, Kennenlernen und vergebene Möglichkeiten, Fantastereien über andere. Ein paar Sätze, die man mit Unbekannten wechselt. Die Leute, die man vom Sehen, jene, die man vom Wegsehen kennt. Zugleich alleine und doch in Gesellschaft sein. Geräusche, Maschinengetöse manchmal, das Gerumple der Tramways, Gehupe der Autos, schnurrende Motoren, das Quietschen, wenn einer zu schnell um die Ecke fährt, der Geruch aus der Bäckerei, Gewurl der Leiber, die Menschentrauben vor den Lokalen, die Raucher in den Hauseingängen. Hunderttausende, die zu Freunden werden könnten, aber Unbekannte bleiben, weil wir an ihnen vorübereilen. So lebten wir.

      Im Jahr der Ansteckung war dieses städtische Leben zeitweise völlig stillgelegt und auch ansonsten schmerzhaft ausgedünnt. Als hätte jemand die Pausetaste gedrückt.

      ANSTECKUNG

      Es begann mit Meldungen von weit her, steigerte sich zu einem unbekannten Bedrohungsgefühl, und dann der harte Lockdown. Isoliert, daheim, eingesperrt. Die einen in plötzlicher Einsamkeit, die anderen in Angst um den Arbeitsplatz, wieder andere überfordert in Distance Learning und überfordert davon, alles unter einen Hut zu bringen. Andere wiederum wunderten sich, dass die Entschleunigung sich wie Urlaub anfühlte. Aber das war damals noch krass neu und irgendwie auch spannend und außerdem war Frühling. Dann lange Phasen von Lockerungen und scheinbarer Semi-Normalität, ohne dass das Abnormale ganz weggegangen wäre. Immer mehr Unklarheit, was jetzt eigentlich noch »normal« heißen soll. Ein Auf und Ab: Gesellschaft, die sich ihres neuen Solidaritätsgefühls versichert und sich tapfer »Wir schaffen das« sagt, dann wieder Gesellschaft, die es zerreißt, in Disziplinierte und Covidioten, in Blockwarte und Lässige, in alle, die irgendwie sympathisch blieben und in die verschiedenen Formen des Unsympathischen, in die aneinander Interessierten und die Egoisten. Und dann wieder harter Lockdown, da war nichts mehr krass neu und wenig spannend, sondern nur mehr genug – dieses »Es ist dann jetzt genug«-Gefühl –, und kalt war es sowieso und man hockte daheim auf dem Sofa und dachte sich, vielleicht hätte ich im Sommer doch ein paar mehr Leute treffen sollen. Vielleicht doch einmal Party, vielleicht doch einmal Ausgelassenheit. Und dann die Hoffnung, dass das zwar noch nicht bald vorüber ist, aber ein Ablaufdatum hat. Aber ja, jetzt wird geimpft, bald wird geimpft, das Spritzerl hängt am Weihnachtsbaum, danach fängt es mit den Vulnerablen an und dem Krankenhauspersonal, dann Schritt für Schritt der Rest, im Sommer oder spätestens nächsten Winter haben wir es dann überstanden, wer weiß. Dann wird endlich getanzt und gefeiert und nachgeholt, was versäumt wurde, als gäbe es kein Morgen! Immerhin, Hoffnung. Bis dahin: warten. Zeit absitzen, wie die Sträflinge. Wir haben gelernt, unsere Zeit abzusitzen in diesem Jahr. Dem Jahr in der neuen Ab-Normalität, unserem verrückten Leben in der pandemischen Gesellschaft.

      Gehen die Inzidenzen nach unten, Inzidenzen, auch so ein Wort, das wir gelernt haben in diesem Jahr, gehen sie also nach unten, die Inzidenzen, dann können wir vielleicht die Abnormität vergessen für einige Augenblicke, Tage, Wochen, gehen sie nach oben, werden unsere Viertel, Städte, Bezirke, Kleinstädte zu roten Zonen und Seuchengebieten, dann ist das Risiko unsichtbar, aber jeder und jede ein potenzielle Gefahr. Der andere, die andere, sie sind plötzlich mit einem Verdacht umgeben. Schließlich könnte doch jeder eine tödliche Gefahr sein. Hustet einer hinter uns in der Trafik, dann sehen wir uns schon mit Beatmungsschlauch im Intensivbett liegen. »Das weckt Ansteckungs- und Berührungsängste, die unmittelbar auf soziale Beziehungen zurückwirken«, sagt die Kulturhistorikerin Ute Frevert, eine Expertin für das Emotionale und die Gefühle im Sozialen. »Wir werden misstrauischer, gehen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich auf Abstand (…) Der Fremde ist der Gefährder.« Gefragt, ob das nur kühle Beobachtung oder auch Selbstbeobachtung sei: »Aber ja, das Misstrauen gegenüber Menschen, die ich nicht kenne, ist momentan größer.«

      Nichts bringt die Verrücktheit dieser Zeit mehr auf den Punkt als der Begriff der »Risikobegegnung«. Die Begegnung, also die soziale Interaktion schlechthin, das Soziale selbst wird mit dem Begriff des Risikos verbunden, um nicht zu sagen: infiziert.

      Ansteckung – Englisch: »con-tagion« – und Berührung – »to touch« – haben in vielen Sprachen den gleichen Wortstamm.

      Wir erleben einen Kontrollverlust, und das ist für die meisten von uns völlig ungewohnt. Wenn wir das Haus verlassen, spüren wir, dass wir keine Kontrolle über die Gefahr

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