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war es Ehrensache, sich persönlich um diesen toten Straftäter, der für ihn immer noch und trotz allem ein Mensch blieb, zu kümmern und für einen würdigen Abschied von dieser Welt zu sorgen.

      Die Größe der Schreckenskammern – mit ihren fast identischen Gerätschaften – variierte von Stadt zu Stadt und Gefängnis zu Gefängnis, aber es waren durchweg außerordentlich kleine, beängstigend enge Räume. In denen höchstens drei, vier Leute aufrecht stehend Platz hatten. Der Assistent, dem das Fesseln der Beine des ihm Anvertrauten oblag und auch die präzise, parallele Positionierung von dessen Füßen an zwei genau markierten Stellen auf je einer geschlossenen Klappe, musste sich in Acht nehmen, nicht mit dem Gehenkten in die Tiefe zu stürzen, weil er, wenn der Chief Executioner ohne Vorankündigung den Hebel betätigte, sich nicht rechtzeitig oder vollständig vom Klappenbereich zurückgezogen hatte. Das war in der Vergangenheit mehrfach vorgekommen, jedes Mal ein grotesker und auch peinlicher Vorfall – zumal sich der Assistent dabei verletzen, den Verurteilten, ohne es zu wollen, in einer ungeschickten Umarmung begleiten und somit die einwandfreie Durchführung der Hinrichtung gefährden konnte. Howard und Rupert, die jeden Gegenstand im Raum kritisch begutachtet hatten und jegliches Missgeschick von vornherein ausschließen wollten, war das noch nie passiert.

      Am nächsten Morgen dann, etwa eine halbe Stunde vor der angesetzten Hängung, würden die beiden Männer den gesamten Vorgang noch einmal durchexerzieren – um sicherzustellen, dass alles perfekt vorbereitet war und einwandfrei durchgeführt werden konnte.

      Nun konnten sie sich einstweilen zurückziehen. Das Anstrengendste lag hinter, das Schlimmste noch vor ihnen. Sie wurden – wie auf Verabredung – gesprächiger und gelöster, lachten öfter. Es war noch früh am Abend, sie legten ihre Jacketts ab, lockerten ihre Krawatten und warteten auf das Abendessen, das ihnen ein uniformierter Wärter in den nächsten Minuten vorbeibringen und servieren würde. Rupert war hungrig; die lange Anreise, seine neu erwachte Zuversicht und die Vorbereitungen, die zu seiner größten Zufriedenheit abgelaufen waren, hatten zusätzlich appetitanregend gewirkt.

      Auf einmal sprang die Tür auf, ohne Vorankündigung, in deren Rahmen jedoch nicht der Essensbote, sondern Direktor Lurie höchstpersönlich erschien, etwas außer Atem und sichtlich freudig erregt. Oder vielmehr irritiert. Die beiden Männer fuhren herum.

      „Dem Italiener wird ein Klavier geliefert“, stieß er hervor und schien es selbst noch nicht richtig zu glauben, „in seine Zelle. Das war sein letzter Wunsch. Befehl von höchster Stelle“, setzte er mit bedeutungsvoller Miene hinzu und hob die Augenbrauen, „es müsste gleich so weit sein. Für das Heranschaffen zahlt er persönlich. Ich gestehe, ich war verwundert“, er machte eine kurze Pause, „ich … nun, ich habe nichts dagegen einzuwenden gehabt.“

      Rupert und Howard starrten sich verblüfft an. Sie waren erst einmal sprachlos. So etwas hatte es noch nie gegeben. Extrawürste waren, das war ungeschriebenes Gesetz, ausgeschlossen. Normalerweise jedenfalls. Gefangene hatten, außer speziellen Menüwünschen und der ominösen letzten Zigarette am Morgen, einfach nichts zu wollen. Eine solche Wendung, erst recht so kurz vor der entscheidenden Nacht, hatte Beaufort in all den Jahren nicht erlebt.

      War die Entscheidung im Ministerium getroffen worden? Oder von Regierungsstellen, am Ende gar im Königshaus? Und wieso erst jetzt, nach Dienstschluss, wenn im Prinzip niemand mehr in den Behörden erreichbar war?

      „Um ehrlich zu sein“, meinte Lurie dann, als könnte er Ruperts Gedanken lesen, „man hat mir keine Wahl gelassen. Mir waren die Hände gebunden. Nehmen wir die Dinge so, wie sie sind. Und nun“, er blickte in die Runde und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen, „wünsche ich Ihnen guten Appetit und“, wieder pausierte er, „gute Abendunterhaltung. Genießen Sie die Darbietung. Schlafen Sie gut.“

      Alles war wie immer, bis vor einer Minute. Und nun war nichts mehr wie immer.

      Träumten sie eigentlich, die vielen Männer und wenigen Frauen, die man ihm zum Aufknüpfen überantwortet hatte? Träumten sie in den langen, einsamen Nächten vor ihrer Todesreise? Rupert mochte gern daran glauben. Sicher dachten sie noch einmal gründlich über ihre Untaten nach und verwandelten sie, unter Zuhilfenahme der Fantasie, in etwas Schönes und Befreiendes, Sauberes und Gutes; gewiss ging ihnen ständig durch den Kopf, was sie angerichtet hatten und dass, könnten sie das Geschehene doch bloß rückgängig machen und den Film anhalten, jetzt stattdessen irgendwo die Arme eines geliebten Menschen, eine wohlschmeckende Mahlzeit, ein Glücksgefühl, eine friedliche Nacht auf sie warteten. Auch wenn sie glaubhaft nichts bereuen und zu ihren verwerflichen Handlungen stehen sollten. Sie wussten und sie vermochten sich gegen dieses Wissen nicht zu wehren, sie wussten, sie könnten, mit einem Quäntchen Einbildungskraft, woanders sein, wenn sie es nur wirklich gewollt hätten. Anstatt wie jetzt in der Todeszelle die verrinnenden Stunden und Minuten zu zählen, die sie noch von jenem demütigenden Moment trennten, da Rupert ihnen die weiße Kapuze überziehen musste. Nie wieder würden sie diese herrliche, so unendlich viele Möglichkeiten bietende Welt sehen, auf der sie bis heute leben durften, nicht einmal mehr durch ein Judasloch in sie hineinlugen, und um diese Schmach hinter sich zu bringen, neigten sie ihre Köpfe, hielten sie ihm bereitwillig hin. Flehten beinahe darum, die Schlinge um den Hals gelegt zu bekommen. Baten darum wie um einen großen Gefallen.

      Schon aus diesem Grund, um sie vor der kalten Realität des anbrechenden Morgens zu schützen, wünschte Rupert ihnen wunderbare und beglückende Träume, die sie mit ins Reich des Todes hinübernehmen konnten, Träume, die niemand misstrauisch beäugen durfte, Träume, die nur ihnen ganz allein gehörten.

      Träumen sollten sie, was das Zeug hielt. Von ihren Geliebten und Liebhabern, von ihren Kindern und Eltern, von Festen und Überraschungen, von Orgasmen und religiösen Erweckungen, von Lachkrämpfen und von beruflichem Erfolg, von sportlichen Triumphen und ihren ersten unsicheren Schritten als Kleinkind, von alldem, was ihnen auf Erden einst große, unbändige Freude bereitet hatte.

      Diese ultimativen Träume könnten dazu beitragen, dass ihre Seele gerade noch rechtzeitig heilte. Bevor es zu spät war. Diese Träume könnten sie vielleicht doch noch retten. Könnten andeuten, dass etwas Erhabenes existierte, nicht nur im Jenseits, sondern auch hier, mitten im irdischen Elend. Kurz vor dem Fall.

      Träumen tat er selbst natürlich auch in dieser Nacht nicht. In den Abendstunden gab er sich dem unvergleichlich intensiven, emotionsgeladenen und leidenschaftlichen Klavierspiel hin, das der Italiener in der Zelle nebenan für ihn und Howard abspulte. Und für die beiden Wärter. Ein Exklusiv-Konzert.

      Magazzano war, daran konnte kein Zweifel bestehen, ein wahrer Magier. Oder ein Derwisch. Er spielte auf dem schäbigen Piano, das Lurie wohl aus den Gemeinschaftsräumen hierher hatte transportieren lassen, wie ein Gott. Verwandelte das ordinäre Instrument in einen Zauberkasten. In eine Schatztruhe. Magazzano machte den vier einfachen Männern, die sich zu seiner Tötung eingefunden hatten und seinetwegen die Nacht mit ihm in hässlichen, finsteren Zellen hinbringen mussten, sein Recital zum Geschenk. Ließ sich von Howards Rülpsern und dem Gähnen seiner Leibwächter nicht aus der Fassung bringen.

      Rupert wünschte sich, Burt könnte mithören. Der würde aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Rupert untersagte sich den Impuls, erneut durchs Judasloch zu schauen, diesmal, um zu begreifen, wie dieser Mann hinter der Wand solche fulminanten Klänge fabrizierte. Doch hatte er die Botschaft auch so verstanden: Nur aufs Zuhören kam es an in dieser Nacht. Nicht auf Wissen oder Verstehen.

      Rupert kannte keines der Stücke, hatte keine Ahnung, ob das jetzt Sonaten waren oder Suiten, Intermezzi oder Fantasien, Impromptus, Präludien oder Etüden, Improvisationen oder Meisterwerke; sie gehörten alle in ein Reich, das ihm ein Leben lang verschlossen geblieben war und in das sich Ruth ein paar Schritte vorgewagt hatte, wenn sie mit ihren Freundinnen die Abonnementkonzerte in der Free Trade Hall besuchte, ihre Klassikreihe. Konzerte, zu denen er nur ein einziges Mal mitgekommen war.

      In dieser Gefängnisnachtmusik, die keine Melodien zu kennen schien, kein Anfang und kein Ende, perlte und rauschte, strömte und glitzerte es. Es funkelte, es schimmerte, es leuchtete und es schillerte, es rumorte und es strahlte, nichts daran war greifbar. Es schluchzte und jubilierte, es trauerte und huldigte.

      Nichts daran glich Sprache oder Gelächter,

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