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wo man am Wochenende hinfährt und was ich mit den Kindern machen soll. Ich wollte selber über mein Leben bestimmen. Darum habe ich mir gesagt: „Ich muss nach einem neuen Partner Ausschau halten. Die Kinder brauchen einen Vater.“ Aber gleich darauf dachte ich: „Das kann nicht funktionieren, denn: Welcher Mann heiratet eine Witwe mit zwei kleinen Kindern?“

      Mein Mann hatte für mich in der Verlobungszeit die Zeitschrift „Haus und Familie“ abonniert, die ich über Jahrzehnte hinweg las. Darin waren auch Kontaktanzeigen. Im Winter 1967/68 – da war ich 23 und mein Mann seit zwei Jahren tot – stieß ich auf eine Anzeige und dachte: „Mein Gott, dieser Mann hat es auch schwer!“ Ein Rezept für eine Quarktorte gefiel mir und ich hob das Heft auf. An Ostern fiel mir die Torte wieder ein und ich holte es wieder hervor. Als ich es aufschlug, sprang mir gleich wieder die Kontaktanzeige ins Auge. Es war wie ein Wink des Schicksals. „Jetzt schreibe ich dem Mann und mache ihm Mut“, nahm ich mir vor. Er hatte nämlich nur seine schlechten Eigenschaften beschrieben! „Ungewöhnlich“, dachte ich. Er schrieb, dass er viel Arbeit hat, ein eigenes Geschäft und ein achtjähriges Töchterlein; dass er Raucher ist, nicht tanzen kann … Aber am Schluss: sehr zärtlich! Das war’s. Ich schrieb ihm, dass er nicht verzweifeln soll und dass er bestimmt wieder jemanden findet. 72 Zuschriften hatte er bekommen! Mit meinem Brief ging er zu seiner Mutter und sagte: „Die oder keine!“ Aber seine Mutter antwortete: „Die Frau will doch gar nichts von dir. Sie ist 16 Jahre jünger wie du und hat selber schon so einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Sie wollte dir nur ein bisschen Mut machen.“ In meinem Schreiben hat er das Abbild seiner Frau gesehen. Sie war an Krebs verstorben. Seine Tochter war von ihm und seiner Frau adoptiert worden, da es mit einem leiblichen Kind nicht geklappt hatte.

      Dann ging es mit den Briefen hin und her. „Jetzt muss ich ihn mal sehen“, beschloss ich. Wir wohnten etwa drei Stunden auseinander. Das erste Mal, dass ich meine Schwiegereltern anlog, weil ich noch nichts davon erzählen wollte: „Ich gehe eine Freundin übers Wochenende besuchen“, sagte ich. Nur meinem Vater sagte ich die Wahrheit.

      Der Mann war sehr alt und total am Boden. Er kam in einem schwarzen Anzug angereist, grauhaarig und verbraucht. Keine Schönheit. Aber – was für eine Ausstrahlung! Als ich im Zug heimfuhr, sagte ich mir: „Nein, das tue ich mir nicht an. Was der alles am Hals hat!“ Aber der Mann hat nicht aufgegeben. Er schrieb mir solch herzliche Briefe und bot an, zu mir zu ziehen. Denn für mich war klar: „Von hier gehe ich nicht weg.“ Ich hatte das neue Haus, die Schwiegereltern, denen ich versprochen hatte, für sie da zu sein. Das hat er alles akzeptiert. Er war bereit, sein Geschäft aufzugeben und hier mit 46 Jahren nochmal neu anzufangen. Ich half ihm, das Geschäft aufzulösen.

      Solch einen Mann gibt es selten! Er hat mich auf Händen getragen. Ich brachte ihn hier in einem Betrieb unter, aber es war eine belastende Stelle. Nach oben musste er buckeln, aber nach unten konnte er gar nicht treten, weil er so ein feiner Mensch war. Und intelligent! Im Krieg war er Pilot, das Fliegen war sowieso seine Leidenschaft. Über Russland wurde er dann abgeschossen, Schädelbasisbruch, beide Knie gebrochen. Es war ein Wunder, dass er überlebt hatte. Die russischen Ärzte haben ihn zusammengeflickt. Er hatte furchtbare Schmerzen. Als Einziger von den sieben Flugkameraden ist er aus dem Krieg zurückgekommen. Als er es geschafft hatte, irgendwie heimzukommen, erkannte ihn die eigene Mutter nicht, so verlaust und abgemagert war er.

      Einen besseren Vater hätte ich für die Kinder nicht haben können, das war er wirklich. Unsere Liebe war nicht sofort da, sie ist gewachsen. Er hat mir alle Freiheiten gelassen, er hat Geld verdient und sich hier gut eingewöhnt. Seine Tochter war von der ersten Stunde an meine Tochter, wie die anderen auch. Die drei haben sich immer gut verstanden. Sie wird demnächst sechzig und ist eine ganz tolle Frau! Ja, es ist alles gut gelaufen, aber nur, weil ich gesund war und so viel Kraft hatte, um dies alles zu bewältigen. Streit und Unfrieden konnte ich nie vertragen. Ich habe alle ins Boot geholt, alle haben mitgezogen, denn unser Motto war: Das machen wir alles miteinander. Dazu gehört aber, dass man frei ist von Egoismus und Ichbezogenheit, sonst funktioniert das nicht.

      Ein gemeinsames Kind mit meinem zweiten Mann habe ich abgelehnt, weshalb er auch sehr böse mit mir war. „Nein, nein“, sagte ich. „Wir haben jetzt drei Kinder, und die Verantwortung für ein weiteres kommt für mich nicht in Frage.“ Das habe ich durchgesetzt, da war ich sehr selbstbewusst. Es wäre deshalb aber fast zum Bruch gekommen. Wahrscheinlich hätte es sowieso nicht geklappt, mit der ersten Frau ging es ja auch nicht. Das lag an der Fliegerei. Die Maschinen, mit denen man früher flog, wurden mit Bleibenzin betrieben, das die Spermien der Männer abtötete. Sehr wahrscheinlich war das der Grund für seine Zeugungsunfähigkeit; aber früher konnte man das ja nicht so untersuchen.

      Heute ist alles anders, auch die Trauerbewältigung. Wie heute den Leuten geholfen wird! Ich hatte niemanden. Alles habe ich selber mit mir ausgemacht.

      Mein zweiter Mann ist an Krebs gestorben. Der Arzt hatte ihn abgetastet und mir hinterher im Vertrauen gesagt: „Ich taste überall Metastasen. Es gibt nur die Möglichkeit ihn zu operieren, damit er nicht allzu früh einen Darmverschluss bekommt.“ Das ist das Schlimmste, was einem Krebspatienten passieren kann. Da hilft nichts mehr, kein Schmerzmittel, nichts. Der Arzt sagte voraus, dass er noch ein Vierteljahr haben wird, in dem es ihm gut geht: „Macht alles, was euch Freude macht; denn dann geht es rigoros bergab.“ Genauso ist es gelaufen. Es war ein Vertrauensbruch, aber ich habe die Prognose meinem Mann nicht gesagt. „Du wirst operiert und du wirst sehen, dann geht es wieder aufwärts“, beruhigte ich ihn. Ich wollte nicht, dass er sich das Leben nimmt, denn er hat immer gesagt: „Wenn ich einmal Krebs bekomme, mache ich das nicht mit.“ In diesem letzten halben Jahr seines Lebens war ich voll für ihn da. Aber wir konnten eigentlich nichts mehr unternehmen. Beim Autofahren hat ihn jede kleine Erschütterung geschmerzt. Ich habe ihm die Spritzen gegeben und zweimal die Woche waren wir beim Arzt. Nun musste ich noch mehr selber bewältigen, Autofahren, die Oma in die Kur bringen … Denn seine Eltern hatten wir inzwischen auch hierhergeholt! Sein Vater ist allerdings nach vier Wochen verstorben, und dann saß die Mutter allein in der Wohnung. Aber ich habe mich so gut mit ihr verstanden. Und da die andere ja tödlich verunglückt war, gab es ja „nur noch“ die eine Schwiegermutter. Das war vielleicht das Gute daran, wer weiß, ob es mit beiden gutgegangen wäre … Sie war eine bewundernswerte Frau. Denn als mein Mann nach einem halben Jahr verstorben war, sagte sie zu mir: „So, jetzt ist es gut. Du hast so viel geleistet, ich geh jetzt in meine alte Heimat ins Altersheim. Um mich musst du dich nicht mehr kümmern.“ Da war sie 87.

      Mein zweiter Mann ist nach 18 Jahren Zusammensein im November 1987 verstorben. Und im Dezember war ich schon auf dem Arbeitsamt, denn es war klar, dass ich mit der kleinen Witwenrente nicht auskommen würde. Der Berater sagte: „Haben Sie ein Glück! Es gibt eine Wiedereingliederungsschule für ehemalige Industriekaufleute. Aber Sie müssen sich gleich in den nächsten fünf Minuten entscheiden.“ Ich bin dann auf den Gang raus und habe nachgedacht. Die ganze Familie saß ja bei mir am Tisch – wie sollte ich in die Schule gehen und mittags erst heimkommen, dann wieder alle Leute versorgen? Aber ich wollte das auch noch schaffen. So bin ich wieder ins Büro rein und habe gesagt: „Okay, melden Sie mich an.“ Denn es ging um Minuten, der Platz hätte gleich vergeben sein können. Schon am nächsten Tag fuhr ich nach Rottweil in die Schule. Zu Hause versammelte ich alle um mich und sagte: „In Zukunft wird nicht mehr um halb zwölf, sondern um halb zwei zu Mittag gegessen.“ Die Schule ging ein halbes Jahr und ich habe einen guten Abschluss gemacht. Aber dann – was tun? Ich rief den ehemaligen Chef meines zweiten Mannes an, der mir früher schon angeboten hatte, ich könne mich an ihn wenden, da er wusste, dass wir es nicht leicht hatten. Er bot mir eine Stelle als Mutterschutzvertretung an. Ich habe zugesagt, bin voll ins kalte Wasser gesprungen. Die Arbeit war dann auch sehr umfangreich. „Sie lassen wir hier nicht mehr gehen“, sagte der Chef nach einem halben Jahr zu mir. Und so kam es, dass ich bis zur Rente in der Firma blieb! Irgendwie schaffte ich es immer, alles unterzubringen und zu bewältigen. Dazu noch mein unterstützendes Umfeld. Ich glaube, ich habe alles richtig gemacht, ich konnte es sowieso nicht anders. So war mein Leben.

      Meins war es nie, daheim zu sitzen und zu heulen. Über Jahrzehnte habe ich vier Gräber versorgt, das hat mir sehr viel gegeben: an einer Grabstelle zu stehen und mit dem Verstorbenen Gespräche zu führen. Und wenn es nur zwei Minuten waren. Das hat mir am Anfang, wenn ich wieder allein war, am meisten

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