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sondern fremd gegenüber. Ich habe das Gefühl, dass sie nichts mit ihnen anzufangen weiß. Die Kinder von Sophienlust haben sich sehr um sie bemüht, aber es war vergeblich. Sie sieht ihnen zwar aufmerksam beim Spielen zu, kommt aber nicht auf die Idee, mitzumachen. Wenn man sie dazu auffordert, begegnet man nur verständnislosen Blicken. Natürlich scheuen die anderen davor zurück, sie zu sehr zu bedrängen. Das ist auch gut so. Man darf nichts erzwingen.«

      »Vielleicht hat Lucie einmal einen Schock erlitten«, machte Gisela geltend.

      »Daran haben wir auch schon gedacht. Leider ist uns Lucies Vergangenheit gänzlich unbekannt.«

      »Hat sich denn niemand auf das Bild hin gemeldet?«

      »Nein, bisher nicht, und nachdem es bereits ein paarmal in den Zeitungen erschienen ist, zweifelt man in Sophienlust allmählich daran, dass sich jemand zu Lucie bekennen wird.«

      »Ich würde ihr gern helfen«, sagte Gisela. »Du weißt, dass ich in meinen Beruf als Heilgymnastikerin schon oft mit seelisch kranken Kindern zu tun hatte. Vielleicht gelingt es mir, Lucies Vertrauen zu gewinnen.«

      »Du könntest es versuchen«, stimmte Anja zu. »Ich bin überzeugt, dass weder Frau von Schoenecker noch Schwester Regine etwas dagegen einwenden werden. Die einzige Person, an die Lucie sich bisher angeschlossen hat, ist die alte Huber-Mutter. Das Kind sitzt stundenlang neben ihr und schmiegt sich an sie, aber zum Sprechen hat auch die Huber-Mutter die Kleine noch nicht gebracht. Dabei wäre gerade das so wichtig.«

      Stoffel, der die ganze Zeit über regungslos neben Stefans Stuhl gelegen war, erhob sich und trottete zur Tür, wo er stehen blieb und mit dem Schwanz wedelte.

      »Er verlangt seinen täglichen Abendspaziergang«, sagte Stefan. Er entschuldigte sich bei den beiden Frauen und verließ mit dem Hund das Zimmer.

      Eine Weile schwiegen die Zurückgebliebenen, dann vergewisserte sich Gisela: »Also darf ich morgen nach Sophienlust?«

      Anja lächelte über den Eifer ihrer Kusine und erwiderte: »Natürlich. Aber überanstrenge dich nicht.«

      »Wie kann ich mich überanstrengen, wenn ich mich mit einem Kind beschäftige? Es gibt nichts, was ich lieber tue!«

      »Ja, ich weiß, du bist sehr gern mit Kindern zusammen. Verspürst du nie den Wunsch nach einem eigenen Kind?«

      »Wie sollte ich? Ich bin doch nicht verheiratet«, entgegnete Gisela erstaunt.

      »Das ist doch kein Hindernis. Ich meine damit nicht, dass du ein uneheliches Kind zur Welt bringen sollst«, fuhr Anja schnell fort, als sie Giselas erschrockenen Blick gewahrte. »Aber warum heiratest du nicht?«

      »Wen denn? Ich kenne doch niemanden – zumindest niemanden, den ich heiraten möchte. Die Männer raufen sich leider nicht um mich – bei meinem Aussehen.«

      »Du bist recht hübsch …«

      »Willst du mir schmeicheln? Gib es auf, es hat keinen Sinn. Außerdem reichen mir die Männer, die ich in der Familie habe.«

      »Einen Ehemann kannst du nicht mit meinem Bruder vergleichen«, sagte Anja, die unschwer erriet, dass Gisela an ihre fünf Brüder dachte, die nach Kräften bemüht gewesen waren, ihr das Leben schwer zu machen.

      Anja hatte mit ihrer Behauptung, dass Gisela hübsch sei, recht. Aber Gisela war von Kindheit an dazu erzogen worden, ihrem Äußeren keine Bedeutung beizumessen. Sie war das älteste Kind einer Geschwisterschar, die neben den erwähnten fünf Brüdern noch aus einer weitaus jüngeren Schwester bestand. Zum Unterschied von Gisela war diese Schwester als Nesthäkchen sehr verwöhnt worden, was Gisela als Selbstverständlichkeit hingenommen hatte.

      Bei ihren ersten Versuchen, sich modisch zu kleiden und herzurichten, hatten ihr Brüder sie ausgelacht und verspottet und ihre Mutter hatte keine Zeit gefunden, der ältesten Tochter beizustehen. Seither lief Gisela in flachen Schuhen, formlosen Hosen und schlechtsitzenden Röcken herum. Ihr feines mittelbraunes Haar hatte sie straff aus der Stirn gebürstet und mit einem Gummiband im Nacken zusammengebunden. Das gab ihr, zusammen mit den dichten dunklen Augenbrauen, ein strenges Aussehen, das überhaupt nicht ihrem Wesen entsprach und auch nicht durch ihre großen grauen Augen gemildert wurde.

      »Ich begreife, dass einem der Wunsch zum Heiraten gründlich vergehen kann, wenn man mit fünf Brüdern zusammengelebt hat«, erklärte Anja lachend. »Aber zwei von deinen Brüdern haben bereits Frauen gefunden. Also können sie doch nicht so furchtbar sein.«

      »Zu ihren Frauen wahrscheinlich nicht«, gab Gisela zu. »Seit Hans und Helmut erwachsen sind, ist es mit ihnen auszuhalten.«

      »Na, siehst du.«

      »Ach, lassen wir das Thema.«

      »Oh, ich will dich nicht zu etwas drängen, wozu du keine Lust hast«, beeilte sich Anja zu versichern. »Trotzdem finde ich, dass du dein Haar offen tragen solltest. Und wenn du deine Augenbrauen zurechtzupfen würdest, bekämst du einen viel freundlicheren Gesichtsausdruck. Denke an die Aufgabe, die du dir gestellt hast. Du gewinnst Lucies Zutrauen eher, wenn du nicht so streng wirkst.«

      »Meinst du?«

      »Ja. Und da wir schon dabei sind … Wie wäre es, wenn du dir einige hübsche Sommersachen zum Anziehen kaufen würdest? Du verdienst doch reichlich …«

      »Ja, schon. Aber Petra wünscht sich zu ihrem vierzehnten Geburtstag einen Kassettenrekorder …«

      »Den sollen deine Eltern und Brüder deiner Schwester schenken. Denke nicht immer an andere, sondern endlich auch einmal an dich.«

      Dieses Gespräch bewirkte, dass Gisela Anjas Ratschläge befolgte. Sie verzichtete auf das Gummiband und ließ ihr Haar in weichen Wellen über die Schultern fallen. Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Bus nach Maibach, um ihre Garderobe zu vervollständigen.

      Das Ergebnis war, dass Anja befriedigt feststellte: »Ja, dieses blauweiße Kleid passt dir ausgezeichnet. Ich habe ja gewusst, dass man dich nur aus deiner Gleichgültigkeit aufrütteln musste.«

      In Sophienlust machte Anja ihre Kusine dann mit Denise von Schoenecker und Schwester Regine bekannt. Sie erzählte den beiden, dass Gisela in ihrem Beruf reichliche Erfahrung mit gestörten Kindern gesammelt habe, und meinte schließlich: »Wenn es jemandem gelingt, einen Zugang zu Lucies Herzen zu finden, dann Gisela. Sie hat reichlich Zeit, sich eingehend mit dem Kind zu beschäftigen, und auch die nötige Geduld.«

      »Aber dürfen wir denn von Frau Hiller verlangen, dass sie ihre Freizeit opfert?«, wandte Denise ein.

      »Es war Giselas eigener Vorschlag …«

      »Ja, ich freue mich, wenn ich etwas für Lucie tun kann«, warf Gisela rasch ein.

      »Gut, dann werde ich Sie zu den Kindern bringen«, sagte Denise. »Sie befinden sich auf dem Spielplatz.«

      Die größeren Kinder waren eben dabei, ein Handballmatch auszutragen, während Heidi unermüdlich die Rutsche erkletterte, um hinunterzurutschen, einmal sitzend, dann wieder auf dem Bauch liegend, Lucie stand daneben und sah Heidi zu.

      »Na, Lucie, willst du es nicht auch einmal versuchen?«, fragte Denise ein wenig zögernd, denn sie sah voraus, wie Lucie auf ihre Frage reagieren würde.

      Lucie sah Denise auch nur staunend an, so, als ob deren Vorschlag nicht ernst zu nehmen wäre. Dann wanderte ihr Blick zu der Ärztin, doch ohne irgendein Anzeichen des Wiedererkennens.

      Anja ließ sich dadurch nicht abschrecken, sondern bückte sich zu Lucie hinab und fasste sie an der Hand. »Ich habe jemanden mitgebracht. Das hier ist Gisela. Sie möchte gern deine Freundin werden.«

      Lucie schien Anjas Worte verstanden zu haben, denn sie blickte zu Gisela empor, verzog jedoch keine Miene.

      »Ja, ich hoffe, dass du mich ein bisschen lieb gewinnen wirst«, sagte Gisela und strich Lucie über das seidige lange Haar, das sich an den Spitzen zu goldschimmernden Locken formte.

      »Wie schön braun du bist«, fuhr Gisela bewundernd fort und legte ihren eigenen

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