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Fotos. Soldbuch und Briefe ließ er unbeachtet. Die Fotos aber zeigten den Grund seiner Flucht.

      Das erste Foto schaute er nur kurz an, wischte mit seinen Fingern imaginären Staub fort und legte das zweite Foto auf das erste. Auf dem ersten waren seine Eltern und seine kleine Schwester abgebildet: Ein sich gerade haltender Mann in den Fünfzigern in der Uniform eines Reichsbahnbeamten; seine Mutter mit dem gleichen Grübchen im Kinn, das sich auch bei ihm fand. Zwischen beide drückte sich seine kleine Schwester mit dem für sie so typischen verschmitzten Lächeln, mit dem sie alle ihre kleinen Boshaftigkeiten wieder weglächeln konnte.

      Das zweite, obenauf liegende Foto hatte an den Ecken vom häufigen Gebrauch entstandene Abnutzungsspuren. Aus dem Bild heraus blickte ihn ein Mädchengesicht an. Das ovale Gesicht zeigte ein Lächeln mit leichten Grübchen auf den Wangen. Dichte, helle Haare rahmten das Gesicht ein und verschwanden auf dem Rücken in einem dicken Zopf. Dieser Zopf hatte seine kleine Schwester Anna immer wieder zu Neckereien herausgefordert, wenn Marie zu ihrem Bruder ins Haus kam. Sie hockte dann gewöhnlich hinter dem Treppengeländer und rief kichernd: »Rapunzel, lass dein Haar herunter!«

      Er drehte das Foto herum und las die schon verblassende, schön geschwungene Jungmädchenschrift, die er schon tausend Mal gelesen hatte: »Für meinen Georg, für immer! Marie.«

      Marie war einer der Gründe, nein, der wichtigste Grund für seine Flucht.

      Sie war zwei Jahre jünger als er und die Tochter der Nachbarn. Das Haus seiner Familie, der von der Beekes, und das von Maries Familie, beides typische Sauerländer Fachwerkhäuser, lagen nur einen Steinwurf weit auseinander an einer Biegung der Lenne. Zwischen beiden Familien herrschte gutes nachbarschaftliches Miteinander. Für Georg und Marie war es schon früh eine ausgemachte Sache, dass sie füreinander da waren. Ein paar Tage vor seiner Einberufung hatte sie ihm das Bild etwas verschämt in einem Briefumschlag in die Hand gedrückt. Seitdem hatte es ihn überallhin begleitet: von Dünkirchen bis zum Atlantikwall und von dort zurück durch die Normandie und den Hürtgenwald bis ins Rheinwiesenlager. Nun war es mit ihm auf dem Weg nach Hause.

      Er erhob sich von seinem Baumstumpf, warf noch einen Blick ins Tal hinunter, nahm sein Bündel auf und marschierte in den Wald hinein.

Das Lager

      Der erste Tag

      Die Lastwagen wurden langsamer, dann hielten sie an. Das Motorengeräusch erstarb. Fahrerhaustüren wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Eilige Stiefelschritte liefen an den Lastwagen entlang, Befehle in englischer Sprache wurden gebellt, die rückwärtigen Planen öffneten sich und zeigten den seit Stunden im Dunkeln zusammengepferchten Männern ausschnitthaft einen schneegrauen morgendlichen Aprilhimmel. Die »Get out«-Rufe des Bewachungskommandos pflanzten sich an der endlos scheinenden Reihe der Lastwagen fort und wurden vom Grau des Morgens verschluckt. Dieses Grau umhüllte auch gnädig das Elend, das über die Ladeklappen quoll und sich entlang der Lastwagen aufreihte. Als ob ein unsichtbarer Choreograph ein Zeichen gegeben hätte, begann die lange Reihe der frierenden, in abgerissenen Uniformen steckenden Männer mit den Füßen rhythmisch auf den Boden zu stampfen und die Arme um die Oberkörper zu schlagen. Das Geräusch schwoll an, lief die Lastwagen entlang, übertönte alle weiteren Befehle und verlor sich schließlich in vereinzeltes, müder werdendes Getrappel.

      Die Lastwagen standen auf einer Straße, die oberhalb eines Ortes dem Rhein folgte. Die Soldaten hielten ihre Gewehre lässig unter dem Arm und bedeuteten den Gefangenen, sich in Viererreihen aufzustellen. Georg von der Beeke und der Rest seiner Kompanie waren aus einem der ersten Lastwagen herausgestiegen. Die Feldmützen fest auf den Kopf gedrückt, den Kopf tief in den hoch gestellten Mantelkragen gezogen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, die wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken, bildeten sie nur langsam und widerwillig die geforderte Formation. Auch hinter ihnen ging die Aufstellung der Reihen nur schleppend voran. Die Bewachungskommandos reagierten zunehmend nervöser und stießen hin und wieder mit den Gewehrläufen in die formlose graue Masse. Verwünschungen wurden laut.

      »Wo bringen die uns hin?«

      Krumbiegl stieß Georg an, der sich gerade umblickte und feststellte, dass die Bemühungen des Bewachungskommandos allmählich Erfolg hatten und sich so etwas wie eine Marschkolonne entwickelte.

      »Keine Ahnung«, erwiderte Georg, der sich nun seinem Kameraden zuwandte. Nach einer Weile fuhr er nachdenklich fort: »Aber ich glaube, dass wir schon einmal hier waren. Das kann nur der Rhein sein! Hier sind wir irgendwo über eine Eisenbahnbrücke gebracht worden. Ich kann sie aber nirgendwo sehen!«

      Bevor sie weitere Mutmaßungen anstellen konnten, setzte sich die Kolonne vor ihnen schwerfällig in Bewegung. Mit müden, steifen Schritten marschierten die Gefangenen die Straße entlang, die den Ort in einem Bogen umging und dann auf den Rhein zuführte. In dieser frühen Morgenstunde wirkte er seltsam verlassen. Nur einige Rauchfahnen zeugten davon, dass das Leben dort weiterging. Für die Männer der Marschkolonne gab es diese Gewissheit nicht.

      Nach den letzten Häusern konnten sie plötzlich den Rhein in seiner ganzen Breite mit beiden Ufern überblicken. Nun sah Georg auch, dass dort, wo die Brücke den Rhein mit einem kühnen Bogen überspannt hatte, eine Lücke gähnte. Der Bogen war zwischen den Mittelpfeilern im Fluss verschwunden, und die Reste der Brücke, die noch mit dem Ufer verbunden waren, lagen seltsam verdreht im Wasser. Mit den Türmen an ihren Enden wirkten sie wie riesige, urweltliche Ungeheuer, die gerade an Land kriechen wollten. Vor den Trümmern der Brücke, stromabwärts, querten jetzt zwei Pontonbrücken den Rhein. Bei diesem Anblick geriet die Spitze der Marschkolonne für einen kurzen Moment ins Stocken. Die Nachfolgenden liefen auf, stolperten, fluchten kurz und nahmen ihren Schritt wieder auf, als es weiterging.

      Das Bewachungskommando führte die Kolonne zur ersten Pontonbrücke hinunter. Inzwischen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, unter den sich kleine Schneeflocken mischten. Der Plankenweg über den Schwimmkörpern war so breit, dass die Marschkolonne in Viererreihen hinübergehen konnte, und ihre Marschtritte ließen die Brücke erdröhnen. Die Schwimmkörper wirkten dabei wie große Resonanzkörper. Als Georg die Mitte der Brücke erreicht hatte, blies ihm der Wind feine Regenschwaden waagrecht ins Gesicht. Er kroch noch tiefer in seinen Mantelkragen.

      Auch auf der anderen Seite wurde die Brücke bewacht. Die Soldaten zeigten die gleiche lässige Selbstsicherheit der Sieger wie ihre Kameraden auf der anderen Flussseite. Sie trugen wasserdichte Umhänge. Für einen solchen Umhang hätte Georg sogar seinen wertvollsten Besitz eingetauscht, sein geschmuggeltes Taschenmesser, das im rechten Strumpf steckte und schmerzhaft gegen sein Wadenbein drückte.

      Ein kurzer, steiler Anstieg, dann schwenkte die Marschkolonne auf die alte Reichsstraße ein, deren Pflasterung durch den Regen wie blank poliert wirkte. Zerschossene Häuser, ihrer Dachstühle beraubt, blickten dem endlosen Zug der Gefangenen aus leeren Fensterhöhlen entgegen. Einsame Kaminschächte ragten wie mahnende Zeigefinger in den regengrauen Himmel und schienen den sich nähernden Männern sagen zu wollen: Seht uns an! Wir sind auch nur noch wir selbst, ohne Nutzen für irgendjemanden und irgendetwas. Das, wofür wir einmal da waren, ist verschwunden. Wir werden nicht mehr gebraucht.

      Die Kolonne folgte weiter der Straße. Als die letzten Häuser erreicht waren, tauchte ein Eisenbahndamm auf, der zu der zerstörten Brücke führte. Und dann sahen die Ersten, was auf sie wartete. Wieder stockte der Zug. Köpfe drehten sich ihren Nachbarn zu, vor den Mund gehaltene Hände wollten erschrockene Rufe zurückhalten, machten aber dadurch die weiter hinter ihnen Marschierenden auf etwas Unerhörtes aufmerksam. Vor ihnen erstreckte sich auf einer weiten Fläche, die der Rhein in einem weit ausholenden Linksbogen umfloss, ein Sammellager. Umgeben war das Lager von einer eigenartigen Mischung aus Stacheldrahtzäunen und Drahtverhauen. Innerhalb des Lagers war ein gitterförmiges Wegenetz zu erkennen, das kleinere, von weiteren Stacheldrahtzäunen umgebene Abteilungen zugänglich machte. Diese Abteilungen waren angefüllt mit Gefangenen.

      Befestigte Unterkünfte gab es nicht, und nur am äußersten Ende des Lagers standen ein paar Zelte. Die Gefangenen saßen im Freien auf der Erde. Einige hatten Zeltplanen mit in die Gefangenschaft retten können, aus denen sie kleine Spitzzelte zusammengebaut

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