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schwarzes Tanktop, das ich oberhalb des Bauchnabels abgeschnitten hatte. Von meinem Taschengeld hatte ich Wimperntusche und blauen Nagellack gekauft. Als ich angemalt und verunsicherter denn je aus dem Bad kam, musterte mich meine älteste Schwester mit verschränkten Armen von oben bis unten, seufzte und sagte: «Na ja. Vielleicht verliebt sich ja jemand in deine Augen.»

      Mit siebzehn hatte ich mir dann zum ersten Mal Dessous gekauft und damit begonnen, die ausgeleierten Sloggis zu ersetzen, die seit Jahr und Tag unseren Wäscheständer dominierten. Heimlich rief ich eine Reizwäsche-Revolution aus. Da ich es nicht wagte, die Slips in den Wäschekorb zu tun, wusch ich sie von Hand aus. Eines Tages wurde mein gesamtes Untergrundnetzwerk ausgehoben. Meine Familie hatte meine grazilen Höschen im ganzen Wohnzimmer verteilt, über den Lampenschirm und an die Türklinke gehängt; ein Stringtanga baumelte an einem Bilderrahmen. Als ich hereinkam, gaben meine Familienmitglieder plötzlich eine thematisch passende Version von Aaron Souls Ring, Ring, Ring zum Besten.

      Es wurde nie laut ausgesprochen, aber ich begriff auch so, dass ich mich entscheiden musste: books oder looks. Letztlich fühlte ich mich für Bücher besser geeignet. Als es in der Orientierungsstufe darum ging, auf welche weiterführende Schule ich kommen sollte, schrieb mein ernsthaftes elfjähriges Ich: «Ich werde niemals eine Sechs schreiben. Nie!» (In der Grundschule war mir das nicht gelungen; meine Kompetenz im «Umgang mit Enttäuschungen» war eher unterdurchschnittlich.)

      Durch ungeheuren Fleiß schaffte ich es, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Nach intensiven Prüfungswochen schrieb mir meine Mutter manchmal eine Entschuldigung, damit ich zu Hause bleiben konnte: Ich war so müde, dass ich bei den Abendnachrichten in Tränen ausbrach. Bei der allerletzten Klassenarbeit, die ich bei einem verhassten Wirtschaftslehrer schreiben musste, hätte es auch gereicht, wenn ich nur einen leeren Zettel mit meinem Namen darauf abgegeben hätte, um in seinem Fach mit einer 1,7 zu bestehen. Ich malte mir aus, wie es wäre, triumphierend mit dem leeren Blatt nach vorne zu gehen und mich ein einziges Mal wie eine Sechzehnjährige zu verhalten. Aber nein, stattdessen wurde es am Ende eine 1,0.

      Auch was das Thema looks anging, war ich extrem. Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr ging ich unbekümmert in Latzhosen zur Schule, Schminke fand ich ordinär und ich hatte eine Kurzhaarfrisur. Als ich mich zum ersten Mal ins Amsterdamer Rotlichtviertel verirrte, als mir zum ersten Mal ein Mann gegen meinen Willen unter den Rock griff, als zum ersten Mal eine Freundschaft zu Bruch ging, weil sich ein guter Freund in mich verliebt hatte, waren das alles Erlebnisse, die mich in meiner Überzeugung bestärkten, es sei das Beste, möglichst viel Kopf und möglichst wenig Körper zu sein. Damit schien mir die Frage (Wie geht das eigentlich, Frau sein?) ein für alle Mal elegant gelöst zu sein. Meine Freundin biss sich an ihrem Körper fest, während ich ganz und gar Text werden würde. Meine Haare blieben kurz, ich absolvierte zwei Studiengänge parallel, las alles, was ich in die Finger bekam und kritzelte innerhalb von zehn Jahren stapelweise Notizbücher voll. Mein stummer Reizwäscheprotest wurde durch eine regelrechte Wörterflut bereits im Keim erstickt.

      Ein Nachmittag im September: Ich bin fast fünfundzwanzig und sitze auf einer Bank ganz hinten im Park. So weit das Auge reicht, nichts als rostrote Baumkronen. Ich bin spazieren gegangen, weil ich müde war und gehofft habe, dass mir die frische Luft gut tun wird. Aber als ich erst mal sitze, kann ich nicht mehr aufstehen. So sehr ich auch auf meine Beine starre und denke, Los, lauft schon! – , sie verweigern mir den Dienst. Meine Beine sind schwer wie Sandsäcke. Es war mir schon öfter passiert, dass ich so lange stillgesessen hatte, bis ich meinen Körper nicht mehr spürte und, ohne mich mit einem Blick zu vergewissern, nicht hätte sagen können, ob meine Beine ausgestreckt oder übereinandergeschlagen waren. Dasselbe Gefühl habe ich jetzt wieder, nur dass mir kein vergewissernder Blick mehr hilft, in meinen Körper zurückzufinden. Mein Kopf ist ein dunkler Dachboden, auf dem ich umherirre, ohne die Luke mit der Leiter nach unten zu finden. Langsam gerate ich in Panik.

      In der Jackentasche klingelt mein Handy. Meine eingeschlafenen Hände zittern und werden allmählich wach, und irgendwann schaffe ich es, den Reißverschluss aufzuziehen. Der verpasste Anruf stammt von einer unbekannten Nummer. Ich rufe meinen Vater an und erzähle ihm unter Tränen, dass ich nicht mehr laufen kann.

      III

      Den Wochen danach fehlen die Worte. Wenn ich etwas lesen will, verschwimmen die Buchstaben, und zum ersten Mal seit Jahren klafft eine große Lücke in meinem Tagebuch. Gleichzeitig traue ich meinem Körper nicht mehr. Ich hole mir ständig blaue Knie: Wenn plötzlich das Licht ausgeht, stürze ich die Treppe hinunter. Die meiste Zeit verbringe ich auf einem Stuhl am Fenster. Während ich den Passanten auf den Kopf gucke und Arnikasalbe auf meine Prellungen auftrage, wird mir bewusst, dass die mentale Bulimie, die ich seit Jahren praktiziere, genauso krankhaft ist wie die körperliche Variante meiner Freundin.

      Um mich langsam wieder ans Lesen heranzutasten, beginne ich mit Gedichten. Die sind schön kurz. Vielleicht liegt es daran, dass ich so selten aus meinem Sessel hochkomme, dass es so still ist in meinem Zimmer und der Staub das Einzige, was sich bewegt, aber zum ersten Mal fällt mir auf, wie körperlich ich auf bestimmte Strophen reagiere. Von Hendrik Marsmans «Sonniger Septembermorgen» bekomme ich Gänsehaut: «Das Licht hängt in den Honigwaben / der Fenster wie ein feuchtes Vlies». Dann mache ich mit den Kurzgeschichten von Isaak Babel weiter, bei dem die Beine des sechsfach vergewaltigten Dienstmädchens riechen wie «frisches Hackfleisch» – eine Beschreibung, bei der sich alles in mir zusammenzieht. Und die pornografische Parodie von Louis Paul Boon Die obszöne Jugend der Mieke Maaike entpuppt sich als wirkungsvoller (und witziger) als so mancher durchschnittliche Liebhaber.

      Einen gesunden Körper spürt man normalerweise nicht. Ungesunde Körperteile hingegen machen auf sich aufmerksam: eine pochende Wunde, ein tränendes Auge. Nach seinem Generalstreik wird mein Körper noch monatelang Aufmerksamkeit einfordern, während ich mich mit meinem sogenannten «Burnout» herumschlage und allmählich wieder anfange zu schreiben.

      Zum ersten Mal spüre ich, wie ich den Text regelrecht aus meinem Inneren freischaufeln muss, wie eng meine körperliche Verfassung mit dem zusammenhängt, was ich produziere. Beim Lümmeln oder im Liegen schreibe ich anders als an meinem Schreibtisch. Mit dem Füller schreibe ich kürzer und pointierter als am Computer. Im Zug schreibe ich schneller als in meinem Zimmer. Laufen kann einen Text in Gang bringen, der mir bereits seit Tagen Rückenschmerzen bereitet.

      Kurzum: Mein Körper glaubt nicht länger an den Dualismus. Die zentrale Annahme in der traditionellen abendländischen Philosophie lautet, dass der Körper ein Ding ist, und der Geist etwas völlig anderes. Die zwei verhalten sich zueinander wie gute Nachbarn. Der heftige Wildwuchs des Körpers wagt es normalerweise nicht, auch nur einen Spross über den Gartenzaun des Geists zu strecken. Sprache, der völlig abstrakte Code, mit dem zivilisierte Tiere kommunizieren, wird wie selbstverständlich radikal in die Domäne des Geistes verbannt.

      Aber ist Sprache wirklich so abstrakt? Der erste Text, der mich vom Gegenteil überzeugte, war das legendäre Buch Leben in Metaphern von George Lakoff und Mark Johnson. Die beiden Autoren belegen, dass Metaphern nicht nur ein sprachliches Stilmittel sind, sondern unser Denken und Handeln völlig durchdringen, ganz einfach weil unsere Wahrnehmung der Welt grundlegend metaphorischer Art ist. Wir versinnbildlichen abstrakte Begriffe wie Zeit, Liebe und Streit immer in ganz konkreten Bildern. Deshalb sind unser Denken und unsere Sprache im Grunde etwas höchst Sinnliches und Körperliches.

      Lakoff und Johnson gehen sogar noch weiter. Da alle Menschen einen Körper besitzen, und alle Körper denselben Naturgesetzen unterliegen, sind viele unserer Metaphern sowohl systematischer als auch universeller Natur. Hier ein einfaches Beispiel: Wer verwundet, müde oder tot ist, liegt flach. Was stark und gesund ist, steht aufrecht. Fazit: alles, was aufwärts gerichtet ist, ist gut. Nicht umsonst ist man «down» oder niedergeschlagen; man schaut zu jemandem auf; gute Neuigkeiten sind aufbauend; man ist in Topform, hat eine Hochphase oder ist hervorragend. In allen Sprachen der Welt ist Feuer eine Metapher für Liebe, weil wir sie mit Körperwärme assoziieren und so weiter. Seit Leben in Metaphern 1980 erschien, ist eine eigene Fachrichtung dazu entstanden. Die sogenannte grounded oder embodied cognition erforscht, inwiefern unser Denken in unserem Körper verankert ist. Zum

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