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nützlich werden, wolle man vom Staat geehrt werden, müsse man ihm Dienste leisten; wolle man ernten, so müsse man säen, wolle man seinen Körper in der Gewalt haben, so müsse man ihn abhärten etc.43 Herakles wählt bekanntlich den zweiten Weg und wird nach vielen Herausforderungen der Held, von dem wir heute noch sprechen.

      Die Wahl des Lebensweges stellt sich immer und jedem Menschen, auch wenn er sich dessen gar nicht bewusst sein mag, und gipfelt in der Frage: Was für eine Frau – was für ein Mann – will ich sein?

      Der mühevolle, unattraktive Weg wäre der der schonungslosen Selbsterforschung: Wer bin ich derzeit, wie bin ich so geworden und wer möchte ich werden? Üblicherweise führt dieser Rückzug auf sich selbst in Exerzitien oder in eine Langzeitpsychoanalyse.

      Der verführerische, schöne Weg hingegen verspricht Allmacht gegen die Ohnmachtsgefühle, dass man eben nicht so toll ist, wie man möchte, und nicht den sozialen Erfolg erzielt, von dem man sich Beglückung erwartet. Dieser Weg ist gesäumt von Trainern und Coaches, die je nachdem Techniken zur Erlangung von Durchsetzungsstärke, Finanzerfolg, Liebesglück oder einfach nur Macht versprechen.

      »Heute, vor allem nach dem Niedergang sogenannter sozialistischer und kommunistischer Gesellschaften, feiert ›das Menschenrecht des Privateigentums‹ neue Triumphe, der ›egoistische Mensch‹ ist zum Regelfall geworden«, schreibt die Psychologin Ursula Nuber (* 1954). »Doch nun trennt nicht mehr nur der Besitz an Privateigentum den Menschen vom Menschen; von äußerer Herrschaft weitgehend befreit, klagt der moderne Mittelschicht-Mensch sein Recht auf ein ›gutes Leben‹ ein, auf ein Leben, in dem seinen Bedürfnissen erste Priorität eingeräumt wird – und die Bedürfnisse anderer zweitrangig werden. Was früher ein Privileg der oberen Schichten war – ein Wohlstand in Freiheit von äußeren Zwängen – ist nun für eine breite Masse erreichbar. Und das macht die besondere Qualität des modernen Egoismus aus: seine massenhafte Verbreitung (Hervorhebung im Original).«44 Allerdings sehe ich in dieser Vision vom guten Leben auch wiederum einen »äußeren Zwang« – denn die Macht der medialen Vorbilder und die Neidkonkurrenz gegenüber den Nächsten verführt wieder dazu, sein noch unentwickeltes Selbst mit Hab und Gut wie mit Krücken zu stützen. Wer sich selbst nicht mag, wie er oder sie ist, sucht nach Tarnkleidung und leider oft halb- oder illegalen Wegen, sich mehr anzueignen, als der Verdienst der eigenen Hände oder Gedanken finanzieren kann.

       Liebeszauber

      Man muss sich die Biografien und die Gesichter derjenigen genau ansehen, die sich im Gefolge der mittelalterlichen »weisen Frauen« und Männer als Gurus inszenieren, denn viele wechseln in völliger Selbstüberschätzung einfach von der Schülerseite des Schreibtisches auf die Lehrerseite. So erinnere ich mich an ein Seminar an einer Volkshochschule in einer mittelgroßen Stadt, das Thema habe ich vergessen, an dem ein ältlicher Landwirt teilnahm und auf meine Frage an die Besucherschaft, weswegen sie diese Veranstaltung besuchten, antwortete, er habe bereits einmal so ein ähnliches Seminar besucht und das habe ihm so gefallen, dass er jetzt entschlossen sei, eine »Schule des Lebens« zu eröffnen und selbst Seminare abzuhalten, weil er könne das ja alles – nämlich den Leuten sagen, was sie tun sollten – selbst auch. Ähnlich erlebte ich, dass eine Frau, die unbedingt bei mir mitarbeiten wollte, auf meine Aufforderung, sie wolle doch bitte zuerst ihre Qualifikation ausweisen, eine Liste von völlig unterschiedlichen Vorträgen und Ein-Tages-Seminaren vorlegte, die sie besucht hatte, darunter auch solche bei mir; ich lehnte mit dem Vergleich ab, dass jemand, der gelegentlich Profiköchen beim Kochen zugesehen habe, sich auch nicht als gelernte Köchin verdingen dürfe – außer sie hätte über lange Zeit im eigenen Unternehmen alle Hürden und Kontrollen der Gewerbebehörden und Restaurantkritiker gemeistert. Aber genau da zeigt sich wieder das Vermeiden von Nähe: Statt sich in einer »Lehrzeit« der Konkurrenz zu stellen, was sicherlich öfters Stress auslösen mag, wird im »Alleingang« versucht, sich einen »Schein« (im Doppelsinn des Wortes) als Nachweis von Kompetenz zu kaufen oder über den Umweg von Tauschgeschäften kostenlos zu organisieren.

      Dahinter verbirgt sich die Fantasie, nur über solch eine »Absolution« anerkannt und vielleicht sogar geschätzt und geliebt zu werden. Manche sind einfach schlau und nützen alle Schlupflöcher aus – aber auch hinter diesem »unethischen« Verhalten liegen alte Verwundungen; meist fühlten sich diese Menschen gegenüber einer »besser gestellten« Mitschülerschaft im Nachteil, durften ihre Potenziale nicht leben, haderten mit ihrem Schicksal und schworen sich insgeheim, »hinauf«kommen zu wollen, egal um welchen Preis. Ich kenne Männer und noch mehr Frauen, die nur in ihre »Außenfassade« Zeit und Energie investieren, ihre innere Reifung aber vernachlässigen. Bei Joachim Bauer findet sich der Satz: »Unsere neurobiologischen Potenziale entfalten sich nur in unterstützenden sozialen Kontexten«45, und dazu zählt auch »die Fähigkeit zur Übersicht über ein System mehrerer miteinander interagierender Menschen, die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen und abzuschätzen, welche Folgen das eigene Verhalten auf das Verhalten anderer haben wird.«46 Zum Beispiel die Folge, »gewogen und zu leicht befunden« zu werden.

      Selbst die sogenannten »geborenen« Eigenbrötler haben Negativerfahrungen mit Konkurrenz und oft fühlen sie sich zu Recht benachteiligt.

      Ich finde es daher unabdingbar, Lehrkräften praktisches Rüstzeug zum Erkennen und Vermeiden von durch pädagogische Fehler ausgelösten Traumatisierungen zu vermitteln. Dazu ist es notwendig, dass sie sich mit ihren eigenen Dominanzbedürfnissen auseinandersetzen. Bindung, Akzeptanz und Zugehörigkeit seien überlebenswichtig, betont Joachim Bauer.47 Sie betreffen nicht nur die ersten Lebensjahre daheim, sondern jeden Eintritt in eine andere Lebensphase bzw. in ein anderes »System« – wie das »System« Schule oder Arbeitswelt.

       Übergangsriten

      Auch wenn heute viele Traditionen als unmodern aufgegeben wurden – die darunter verborgenen Grundbedürfnisse sind am Leben und suchen sich neue Formen.

      Traditionell wurden Menschen in Übergangszeiten von der jeweiligen Gemeinschaft rituell »ernannt«, d. h. mit einem bestimmten Namen belegt, aufgenommen, begleitet und verabschiedet. Dies bedeutet einerseits soziale Unterstützung, andererseits aber auch gesellschaftliche Kontrolle – doch gerade die Letztere wird heute oft gescheut, vermutlich um »gute Ratschläge« zu vermeiden. Diese werden zumeist als überhebliche Besserwisserei schmerzhaft empfunden: Sie lassen den Menschen, die gerade eine neue Identität erarbeiten müssen, zu wenig Raum zur Selbstfindung.

      Wenn immer wieder Menschen, vor allem Frauen, in Beratung oder gar Therapie kommen, um herauszufinden, weshalb sie zu den »großen« Familienfeiern nicht eingeladen oder stattdessen diskriminiert und/oder isoliert wurden, zeigt sich deren Wunsch, sich »in Beziehung setzen« zu dürfen – aber das ist vielen anderen schon zu nahe und sie wehren auf grobe Weise ab. Es fehlen Modelle einer gewaltverzichtenden Kommunikation48: Gewalt liegt nach dem Friedensforscher Johan Galtung (* 1930) immer dann vor, wenn eine feindselige (unerwünschte) Handlung das Potenzial der insultierten Person verletzt (eine Impfung also nicht, weil sie das Potenzial fördert). Viele Menschen wollen ihre eigene Gewalttätigkeit, die beispielsweise in Überheblichkeit – Kommunikation »von oben herab« – liegt, nicht wahrhaben und werden aggressiv, wenn man sie darauf hinweist. Dies stellt nämlich einen Versuch dar, Gleichrangigkeit – Kommunikation auf Augenhöhe – herzustellen, und das spüren die »Reiter auf dem hohen Ross« intuitiv und wehren sich dagegen. Umgekehrt gibt es aber immer mehr Leute, die von vornherein versuchen, durch Verweigerung von Achtungsgesten (z. B. durch inkorrekte Ansprache oder durch herabwürdigenden Tonfall) »von unten hinauf« Respektspersonen niederzuringen. All diese Fehlkommunikationen sind Situationskrisen: Es besteht die Gefahr eines Machtkampfes und der kann leider immer eskalieren.

      Da heute vielfach Rituale abgeschafft wurden – beispielsweise die sogenannten Benimm-Regeln –, ergibt sich aber die Notwendigkeit, die jeweilige Umgangsform zu vereinbaren. Wer da nicht mitspielt, findet sich schnell isoliert.

      Der französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873–1957) unterscheidet Trennungsriten, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten und Angliederungsriten.49

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