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den Händen Dinge anzufassen und zu spüren. Dann lernte sie in mühseliger Kleinarbeit, welche Gegenstände sich kalt oder warm, trocken oder feucht, hart oder weich, grob oder fein, schwer oder leicht anfühlten.

      Knapp zehn Jahre später fragte mich Christina bezüglich dieser Therapie: «Mama, warum musste ich damals während Jahren zur Logopädie? Ich kann mich noch gut an alles erinnern. Ich wusste immer bereits aus einigen Metern Entfernung, ob die Gegenstände sich kalt oder trocken oder weich anfühlten. Dafür brauchte ich sie nicht mit meinen Händen zu berühren. Ich habe es jeweils am Energiefeld erkannt.» Mit einem Lächeln meinte sie daraufhin, die ganze Therapie sei für sie damals ziemlich unlogisch gewesen.

      Dennoch schien sie nicht ungerne zur Logopädie zu gehen und absolvierte während Jahren folgsam ihre wöchentlichen Therapiestunden im Kinderspital. Heute kann ich ihre Aussage verstehen, doch zu jener Zeit wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die kleine Christina über eine erweiterte Wahrnehmung verfügte und Gegenstände und Lebewesen schon aufgrund ihres Energiefeldes erkannte, ohne sie anzufassen.

      Im Alter von rund vier Jahren sollte Christina auf Anraten der Augenklinik eine Brille angepasst werden, da eine Erkrankung der Netzhaut (Retinopathie Stad. I) mit beidseitiger Sehschwäche vorlag, die bereits früher diagnostiziert worden war. Doch die ansonsten so folgsame Christina verweigerte jede Brillenanpassung, und das Unterfangen wurde um ein weiteres Jahr aufgeschoben. Als sie fünf Jahre alt war, verzichtete ich jedoch auf weitere Untersuchungen, denn ihre Sehkraft schien sowohl in der Nähe als auch in der Ferne stark genug zu sein.

      Einige Jahre später sprach das Mädchen oft von farbigen Strichen und Linien in der Luft und fragte mich, was das sei. Ich konnte diese Fragen nicht einordnen und vermutete eine neuerliche Sehstörung. Doch die Abklärung ergab, dass die Retinopathie und die Sehschwäche überhaupt nicht mehr vorhanden waren. Auch der Augenarzt konnte sich die beschriebenen Symptome nicht erklären, denn augenmedizinisch war alles in bester Ordnung, was für ein solches extremes Frühgebürtchen an ein Wunder grenzt.

      So machte ich mir keine weiteren Gedanken mehr darüber. Wie hätte ich ahnen können, dass Christina mit ihrer erweiterten Wahrnehmung sogenannte «Energiesignaturen» sehen konnte, die für meine dreidimensionale Sichtweise schlichtweg nicht vorhanden waren?

      Ende 2005, mit viereinhalb Jahren, erlitt Christina nochmals einen lebensbedrohlichen Darmverschluss, den ich zunächst unterschätzte, da das Mädchen zwar während Tagen jede Mahlzeit erbrach, jedoch weder weinte noch schrie. Dieses fehlende Schreien war allerdings nichts Ungewöhnliches. Ihre körperliche Schmerzgrenze war seit jeher unglaublich hoch gewesen, wovon ich mich durch ihre ganze Krankengeschichte hindurch immer wieder täuschen ließ. Im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, dass nicht ihr Schmerzverhalten für einen Arzt- oder Spitalbesuch entscheidend war, sondern vielmehr ihr Gesichtsausdruck oder ihr Körper. Auch jetzt wieder sah man zwar ihrem bleichen Gesicht an, dass es ihr miserabel ging, aber sie weinte und klagte nicht. Als jedoch über längere Zeit kein Milliliter ihrer Flüssignahrung mehr durch den Magen weiterkam, fuhr ich mit ihr einmal mehr in die Kinderklinik, wo sich die Diagnose Darmverschluss bestätigte und Abhilfe geschaffen werden konnte.

      Dies war glücklicherweise die letzte große gesundheitliche Hürde, die Christina während ihrer Kindheit zu nehmen hatte. In den folgenden Jahren gab es keine nennenswerten Rückschläge mehr.

      Nur essen und trinken konnte sie noch nicht. Mittels jahrelanger Logopädie lernte sie allmählich, etwas im Mund zu kontrollieren und milliliterweise zu trinken. Dies war der entscheidende Durchbruch, und tagtäglich übten wir, möglichst fließend in den Alltag integriert, während Stunden. Erfreulicherweise war Mario wirklich ein sehr einfaches Kind mit seinem lebendigen, sonnigen und spontanen Wesen. Er war mit vier Jahren in seiner körperlichen Entwicklung etwa gleich weit wie seine Schwester mit ihren sechseinhalb Jahren. Durch seine Gegenwart und sein Beispiel unterstützte er sie in ihrem Bemühen, endlich essen und trinken zu lernen. Christina lebte zwar noch immer mit der PEG-Sonde am Bauch, aber es war für uns nur noch eine Frage der Zeit und der Geduld, bis sie davon wegkommen würde.

      Doch so einfach war es nicht. Laut Aussagen der Ärzte war es höchst unwahrscheinlich, ein PEG-Sondenkind nach so vielen Jahren wieder von der Sonde zu entwöhnen, vor allem, wenn es als Kleinkind nie zu essen und zu trinken gelernt hatte. Deshalb riet man uns auch davon ab, einen stationären Sondenentzug in einer spezialisierten Klinik in Graz zu versuchen. Mit ihren sechs Jahren war Christina bereits zu alt dafür, und es drohte die Gefahr, dass sie traumatisiert zurückkäme. Die einzige Möglichkeit bestand darin, den Sondenentzug zu Hause selbst durchzuführen, und wir entschlossen uns, es zu versuchen.

      Die ersten zwei Sondenentwöhnungsversuche mussten wir allerdings bereits nach wenigen Tagen abbrechen, da Christinas Körper es nicht geschafft hatte, ohne künstliche Ernährung allein durch ihren Hunger einen normalen Essreflex auszulösen. Ja, sie vermochte nicht einmal ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Noch immer schien es irgendwie unnatürlich für das Kind zu sein, durch den Mund zu essen oder zu trinken.

      Monate später sah ich per «Zufall» einen Filmausschnitt über ein elfjähriges Mädchen in Amerika, welches es entgegen sämtlichen medizinischen Studien geschafft hatte, von ihrer PEG-Sonde wegzukommen. Meine Motivation für einen dritten Entwöhnungsversuch war geweckt.

      Dieser dritte Sondenentwöhnungsversuch im Juni 2007, als Christina bereits das erste Kindergartenjahr besuchte, war dann endlich erfolgreich. Wie die beiden Male zuvor, ließ ich Christina tagelang ohne künstliche Ernährung. Dies war für mich genauso hart wie für Christina selbst, denn welche Mutter kann schon mit ansehen, wie ihr Kind hungert, wirklich hungert? Die Ärzte hatten mich angewiesen, den Versuch sofort abzubrechen, falls das Mädchen mehr als 10% ihres Körpergewichtes verlieren würde. Sie lag nachts stundenlang wach, und für ein Händchen voll Essen benötigte sie rund 40 Minuten, da sie unglaublich lange kauen musste und anfänglich nur mit etwas Wasser Nahrung überhaupt schlucken konnte. Sie war somit fast den ganzen Tag über in enorm kleinen Portionen am Essen und am Trinken. Dennoch besuchte sie jeden Tag den Kindergarten.

      Nach zehn Tagen drohte auch dieser dritte Versuch zu scheitern. Nun war meine eigene Schmerzgrenze überschritten. Christina war vor lauter Hunger die ganze Nacht lang wach gelegen und war am Morgen, als sie in den Kindergarten gehen sollte, völlig dehydriert. Ich wusste: Wenn ich sie jetzt hinschicke, wird mich mit Sicherheit umgehend die Kindergärtnerin anrufen und mir besorgt mitteilen, dass Christina bleich und entkräftet in irgendeiner Ecke sitze. Mittlerweile kannte ich ihre Zustände. So warf ich alle guten Vorsätze wieder über Bord und entschloss mich, ihr vor dem Kindergarten doch wieder zwei oder drei Spritzen mit Flüssignahrung zu sondieren.

      Das wäre wohl nicht nur das Ende dieses dritten Sondenentwöhnungsversuchs gewesen, sondern zugleich auch das Ende aller unserer Hoffnungen, dass Christina jemals würde normal essen und trinken können. Sollten die Ärzte also doch Recht behalten? War alles nur mein Wunschdenken gewesen?

      In diesem Moment war mir bewusst, dass ich keinen weiteren Versuch unternehmen würde. Denn sowohl für Christina als auch für mich stellte diese Prozedur jedes Mal einen enormen Kraftakt dar. Christina würde wohl oder übel für den Rest ihres Lebens mit dieser Bauchsonde leben und irgendwann lernen müssen, sich mit Spritze und Schlauch die Nahrung selbst zu sondieren.

      Doch dann kam es zu einem neuerlichen wundersamen Moment. Es war der Morgen des 13. Juni 2007, bemerkenswerterweise exakt der Morgen des sechsten Todestages von Elena, woran ich in dem Moment jedoch nicht gedacht hatte. Gerade als ich enttäuscht und ein wenig widerwillig die Spritze an den Sondenschlauch ansetzte, um damit den Entwöhnungsversuch definitiv abzubrechen, ergriff die Sechsjährige das Wort. Als ob Christina meine traurigen Gedanken gelesen hätte, wandte sie sich mit klarer, bestimmter Stimme an mich: «Du musst mir nichts sondieren, Mama!»

      Mein «Aber …» kam ziemlich schnell.

      Doch Christina sprach ruhig und mit Nachdruck weiter: «Nein, Mama, du musst mir nichts sondieren. Du wirst mir überhaupt nie mehr etwas sondieren müssen.»

      Die Aussage war klar und deutlich, und ein sonderbarer Ernst lag in ihrer Stimme. Die ganze Situation war höchst seltsam. Wie konnte eine Sechsjährige derart weitreichende und entscheidende Worte in den Raum

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