Скачать книгу

      

      Josef Bierbichler, geb. 1948 am Starnberger See, ist seit Anfang der siebziger Jahre als Theaterschauspieler auf allen großen Bühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz präsent. Für den Film arbeitete er mit Regisseuren wie Werner Herzog (Herz aus Glas), Herbert Achternbusch (Servus Bayern, Bierkampf, Das Gespenst, Heilt Hitler!), Tom Tykwer (Die tödliche Maria, Winterschläfer) und Michael Haneke (Das weiße Band) zusammen.

      Harald Martenstein, geb. 1953 in Mainz ist Journalist (u.a. Der Tagesspiegel, Die ZEIT) und Autor (u.a. Heimweg, Gefühlte Nähe, Ansichten eines Hausschweins).

      Christoph Schlingensief, (1960-2010), Filmemacher (Menu total, 100 Jahre Adolf Hitler, Das deutsche Kettensägenmassaker, Terror 2000, Die 120 Tage von Bottrop), Theater- und Opernregisseur (100 Jahre CDU, Rocky Dutschke ‘68, Rosebud, Hamlet, Parsifal). Er arbeitete zudem als TV-Moderator (u. a. Talk 2000). Neben zahlreichen Inszenierungen und Filmen viele Ausstellungen, Kunstinstallationen und aktionistische Projekte.

      Josef Bierbichler, Harald Martenstein,

      Christoph Schlingensief

      ENGAGEMENT

      UND SKANDAL

      Herausgegeben von Alexander Wewerka

      Mit einem Essay von

      Diedrich Diederichsen

image

      Dritte Auflage

      © für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 1998,

      Alexander Wewerka • Fredericiastr. 8 • 14050 Berlin

       [email protected]

       www.alexander-verlag.com

      © für den Essay von Diedrich Diederichsen by

      Diedrich Diederichsen 1998

      Gestaltung und Satz Antje Wewerka

      Alle Rechte vorbehalten

      ISBN 978-3-89581-541-6 (eBook)

       Inhalt

       Josef Bierbichler, Ohne die Fähigkeit, der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater einpacken

       Engagement und Skandal – Ein Gespräch zwischen Josef Bierbichler, Christoph Schlingensief, Harald Martenstein und Alexander Wewerka

       Josef Bierbichler, Nachbemerkung

       Diedrich Diederichsen, Magie und Massenarbeitslosigkeit: Christoph Schlingensiefs »Chance 2000« im »Prater«, Prenzlauer Berg

      Der nachstehende Text folgt dem Abdruck im SCHAUSPIELHAUS-MAGAZIN Nummer 19 des Deutschen Schauspielhaus Hamburg, März 1998.

       Josef Bierbichler

       Ohne die Fähigkeit, der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater einpacken

      Im März 1998 erhielt der Schauspieler Josef Bierbichler den Gertrud-Eysoldt-Ring 1997. Die mit 20 000 DM verbundene Ehrung ist der höchstdotierte Schauspielerpreis im deutschsprachigen Raum und wird auf Vorschlag der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste vergeben. Bierbichler bekam den Ring unter anderem für seine Darstellung des Kasimir in Horváths KASIMIR UND KAROLINE (Regie: Christoph Marthaler).

       Im Folgenden seine Rede anläßlich der Preisverleihung im Parktheater von Bensheim in vollständigem Wortlaut:

      Ich bedanke mich bei der Stadt Bensheim für das Preisgeld, ich danke der Akademie der Darstellenden Künste für den kunstvoll gearbeiteten Ring, und ich bedanke mich bei der dreiköpfigen Jury für ihre Entscheidung zu meinen Gunsten. Insgesamt danke ich allen für alles. Ich habe lange genug Bauernarbeit gemacht, um zu wissen, daß Ernten mehr Mühe macht als Säen. Da bin ich vielleicht nicht eitel genug. So bin ich jetzt hier, um einen nicht unbeträchtlichen Geldbetrag in Empfang zu nehmen, und dieser Geldbetrag scheint so etwas wie die Mitgift für die eigentliche Zeremonie, den Ringtausch, zu sein. Ich stehe vor der Vermählung mit der Stadt Bensheim und vor der Akademie der Darstellenden Künste als der Kupplerin. Aber weder die Stadt noch ich wissen, ob wir uns überhaupt mögen, und da beginnen die Mühen des Erntens.

      Im Schreiben des Bürgermeisters, Herrn Stolle, in dem er mich zum Preis beglückwünschte, werde ich auch mit einem offenbar zentralen Bestimmungssatz des Preisstifters Ringelband vertraut gemacht, »daß mit diesem Preis das Ansehen des Schauspielerstandes, das durch Skandale zweitklassiger Vertreter herabgewürdigt wird, gehoben werden soll«.

      Jeder Orden ist ein Fangstrick, das weiß ich nicht als Erster, und viele Spitzfindigkeiten sind schon erdacht worden, um der Schlinge wenigstens verbal auszukommen. Aber in diesem Fall muß ich die Einladung des Bürgermeisters so lesen, daß mit dem Glückwunsch auch eine gewisse Verhaltensempfehlung gegeben wird. Und dazu mag ich ein paar Sätze sagen.

      Letztes Wochenende hat einer der diesjährigen Juroren, Professor Everding, in München ein Symposium organisiert, bei dem die Frage diskutiert wurde: »Gewalt, Blut und Sperma: Darf Theater alles?« Ein paar skandalöse Fachleute waren geladen und anwesend, von Hochhuth über Kresnik zu Schleef, und nur der momentan skandalöseste – Schlingensief – blieb aus. Jeder der genannten Herren darf als erstklassiger Vertreter seines Fachs gesehen werden, und jeder der Herren hat mindestens einmal in seinem Berufsleben für ein Bühnenereignis gesorgt, das danach unter dem Begriff »Skandal« diskutiert wurde. Laut MÜNCHNER ABENDZEITUNG vom 2. März 1998 kam die Gesprächsrunde, an der auch noch einige andere Herren beteiligt waren, zu mehreren, aber in etwa gleich lautenden Schlüssen: daß politisches Theater heute in Deutschland absolut keine Chance mehr habe; daß es keine Tabus mehr gibt; in einer entgöttlichten Welt kann man alles sagen; die Grenzen sind dem persönlichen Schamgefühl überlassen. Und auch Prof. Everding kam zu dem Schluß, daß die Verrichtung der Notdurft auf einer Bühne dann doch vollzogen werden sollte, »wenn das Stück dramaturgisch ohne Haufen nicht weitergeht«, und erinnerte sich damit seiner wilden Phantasie während der eigenen Studentenzeit.

      Ich erzähle Ihnen das, weil das Gesprächsergebnis den Schluß nahelegt, daß es gar nicht mehr darum geht, ob Theater Skandale erzeugen darf, sondern darum, daß es das ganz offenbar gar nicht mehr kann. Da aber widerspreche ich den in der Diskussion genannten Ursachen.

      Die Selbstzensur der meisten Theaterleute unter dem immer größer werdenden finanziellen Druck auf die Theaterhaushalte hat sich mittlerweile ganz offenbar so hoch entwickelt, daß die Geistesschärfe mehr und mehr verkümmert, die nötig wäre, den immer dicker werdenden gesellschaftlichen Panzer zu durchstechen, um einen Aufschrei auszulösen. Aber ohne die Fähigkeit, der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater, das sag’ ich aus tiefer Überzeugung, einpacken. Das agoniehafte Verharren finden Sie in allen Wohnzimmern vor den Fernsehern. Wenn dieses halbtote Dahindämmern auch noch die Theaterreihen füllt, sollten wir uns verabschieden. Wenn Empörung und Wut nur noch im gesellschaftlichen Konsens entstehen, anstatt ihn zu spalten und so Grundlage für kontroverse Auseinandersetzungen zu sein, dann wissen wir, daß auch das letzte Refugium für alltäglichen öffentlichen Streit und bewußter Konsensverweigerung von der kapitalistischen Konsumkrake leergesaugt ist. Wenn wir auch anfangen, uns zu verbiegen, um geliebt und geduldet zu sein, so wie Politiker das mittlerweile bis

Скачать книгу