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Post mortem. Amalia Zeichnerin
Читать онлайн.Название Post mortem
Год выпуска 0
isbn 9783948483227
Автор произведения Amalia Zeichnerin
Жанр Языкознание
Серия Baker Street Bibliothek
Издательство Bookwire
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Nun, ich bin volljährig und kann meine eigenen Entscheidungen treffen. Mir ist es wichtig, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen – mit Musikunterricht.«
Eine ältere Dame ergriff das Wort. »Also, zu meiner Zeit wäre das undenkbar gewesen. Ich meine, in unseren Kreisen.«
Miss Westray zuckte leicht mit den Schultern. »Die Zeiten ändern sich.«
»Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Erfolg für Ihre Pläne«, sagte Mabel. Miss Westray wusste offenbar sehr genau, was sie wollte.
All diese Pläne der jungen Frau, die in Adelias Alter war – nein, gewesen war –, ihr Enthusiasmus für die Musik. Alles dahin, von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen. Mabel schauderte. Wenn sie sich vorstellte, dass ihre eigene Tochter … Der Gedanke ließ sich nur schwer abschütteln. Seit Mabel damals die Kinder geboren hatte, hatte sie die Angst begleitet, sie zu verlieren, sei es durch Krankheit, Unfälle oder gar Verbrechen. Es war eine Angst, die sie mit anderen Müttern teilte, wie sie über die Jahre immer wieder in Gesprächen festgestellt hatte. Mit der Zeit waren diese Gedanken in den Hintergrund getreten. Doch an Tagen wie diesen meldeten sie sich wieder, und mit Macht. Nein, rief sie sich zur Ordnung. Nicht weiter darüber nachdenken. Nicht jetzt!
Sie hatte den Beruf der Krankenschwester nicht zuletzt deshalb gewählt, weil sie es als praktisch empfand, entsprechende Kenntnisse auch im privaten Umfeld anwenden zu können. Zumindest im Kleinen, bei einfachen Erkrankungen. Außerdem hatte sie etwas gegen den Tod unternehmen wollen – gegen Todesfälle, die durch den Einsatz geeigneter Heilmethoden, durch Medizin verhindert werden konnten. Was Miss Westray betraf; war sie einfach zu spät hinzugekommen, oder hätte sie ihr so oder so nicht mehr helfen können?
Während Mabel weitereilte, wanderten ihre Gedanken zu Doktor Tyner, einem hochgewachsenen Mann mit hagerem, leicht eingefallenem Gesicht und dunkelblauen Augen hinter einer Hornbrille. Mabel kannte ihn seit mehr als fünfundzwanzig Jahren und sie hatten einander nie aus den Augen verloren, nachdem der Krimkrieg ein Ende gefunden hatte.
Mabel hatte damals zu den Krankenschwestern und den katholischen Nonnen gehört, die mit Florence Nightingale im November 1854 die als Lazarett eingesetzte Selimiye-Kaserne in Scutari erreichten. Was sie dort vorgefunden hatte, würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Es waren nicht die schrecklichen Verletzungen, die Schmerzenslaute oder die geflüsterten Gebete. Natürlich war auch das alles furchtbar gewesen, als viel schlimmer hatte sie jedoch die katastrophalen Zustände empfunden. Die viel zu wenigen Ärzte vor Ort waren völlig überarbeitet gewesen. Außerdem hatte es an allen Ecken und Enden gefehlt, die Medikamente hatten nicht ausgereicht und viele der verwundeten Soldaten waren aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen an einer Infektion gestorben.
Doktor Tyner zählte zu jenen Ärzten, die damals bis zur Erschöpfung gearbeitet hatten, um zu retten, was zu retten war. Trotz der chaotischen Verhältnisse in jenem Lazarett war er umsichtig geblieben, war niemals laut geworden und hatte Schwestern sowie Assistenzärzte mit ruhiger Stimme angewiesen. Doktor Tyner verfügte über eine Seelenruhe, um die Mabel ihn beneidete.
Wie es der Zufall wollte, lebten sie mittlerweile beide in Pimlico, was sie als Segen empfand, denn sie schätzte ihn sehr. Vor fünf Jahren war seine Frau gestorben, eine schwere Lungenentzündung hatte sie hinweggerafft. Mabel hatte Mrs Tyner sehr gemocht und besuchte regelmäßig deren Grab, um dort ein paar Blumen niederzulegen. Die vier Kinder der Tyners hatten schon lange eigene Familien gegründet.
Mabel fand den Arzt, wo sie ihn vermutet hatte – im Leichenschauhaus, das sich in der Buckingham Palace Road befand, gerade einmal zehn Minuten Fußweg von der Sutherland Street entfernt.
»Was ist denn passiert, Mrs Fox?«, fragte er sie mit Besorgnis in der Stimme. »Meine Liebe, Sie wirken ja völlig aufgelöst!«
Mabel holte tief Luft und schilderte ihm stockend, was vorgefallen war. Die Worte kamen ihr nicht leicht über die Lippen, immer wieder musste sie neu ansetzen, und auch die Tränen lauerten schon wieder darauf, ihre Wangen zu erobern, aber sie wollte vor Doktor Tyner nicht die Fassung verlieren.
Der Arzt lauschte ihr aufmerksam, nahm seine blutige Schürze ab und hängte sie an einen Haken.
»Das werde ich mir selbst ansehen, Mrs Fox«, sagte er stirnrunzelnd. »Danke, dass Sie hergekommen sind.«
Rasch zog er sich seinen Mantel an und sprach kurz mit einem Mitarbeiter des Leichenschauhauses, danach folgte er ihr nach draußen.
Im Eilschritt ging er neben Mabel her. »Auf das, was Sie mir geschildert haben, kann ich mir im Moment noch keinen Reim machen«, erklärte er. »Ich werde mehr wissen, wenn ich mir die Verstorbene angesehen und sie untersucht habe.«
»Ich kannte Miss Westray über eine gemeinsame Bekannte«, erklärte Mabel.
»Hatte sie Familie? Angehörige? Wissen Sie das?«
Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Nicht hier in der Stadt, soweit ich weiß. Sie ist aus Hackney hergezogen, um eine Karriere als Sängerin zu verfolgen.«
»Ich nehme an, es gibt auch keinen Ehemann? Einen Verlobten vielleicht?«
So gut hatte sie die Verstorbene nicht gekannt. »Einen Ehemann definitiv nicht. Einen Verlobten hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Aber ich muss dazu sagen, dass wir nicht in engerem Kontakt standen. Jedenfalls trug sie keinen Verlobungsring.«
»Aha.« Doktor Tyner beschleunigte seinen Gang und Mabel hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie passierten den großen Victoria-Bahnhof, der vor rund acht Jahren eröffnet worden war und zwei verschiedene Bahnlinien bediente. Zahlreiche Passanten strömten aus dem Bahnhofsgebäude. Die meisten von ihnen waren dunkel gekleidete Männer mit Zylinderhüten oder Mützen, dazwischen vereinzelt Frauen, die farbenfroher gekleidet waren. Vor dem Eingang versuchte ein Zeitungsjunge, der eine zerschlissene graue Strickmütze trug, seine Ware anzupreisen, allerdings war er heiser und hatte es sichtlich schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Mann mit einem Koffer und einer Zeitung unter dem Arm drängte sich an Mabel vorbei. Es roch nach Ruß und Rauch und von irgendwoher wehte ein fauliger Gestank zu ihnen herüber. Die Feuchtigkeit des kalten Herbsttages kroch Mabel in die Gelenke. Ihre Handschuhe halfen dagegen nur wenig.
Sie überquerten die Brücke, die über die Eisenbahntrassen führte. Stampfend rauschte eine Bahn heran, deren Räder über das Metall der Schienen ratterten, während sich der aus der Lok hervorquellende Dampf mit dem Grau des Oktobernachmittags vermischte.
Nachdem sie die Brücke passiert hatten, dauerte es zum Glück nur wenige Minuten, bis sie Clarences Atelier erreichten. Das kobaltblaue Schild mit dem weißen Schriftzug »Fotoatelier Fox« war kaum zu übersehen, selbst an einem so trüben Tag wie diesem. Ihr Mann hatte das kleine hölzerne Schild an der Eingangstür auf »Geschlossen« umgedreht. Durch eines der Fenster konnte sie undeutlich die zusammengesunkene Gestalt der armen Miss Westray sehen, die noch immer auf dem Stuhl saß oder vielmehr hing. Wieder kribbelten ihr die Augen.
Reiß dich zusammen, Mabel! Jetzt war nicht die Zeit, um zu trauern. Noch nicht.
»Guten Tag, Mr Fox«, begrüßte Doktor Tyner ihren Mann, als er das Atelier betrat. Clarence erwiderte den Gruß und fügte dumpf hinzu: »Das ist kein guter Tag, fürchte ich. Ganz und gar nicht.«
»Ja, natürlich.«
Der Coroner trat zu der Verstorbenen hinüber und fühlte an der Halsschlagader nach ihrem Puls. Dann blickte er Clarence an. »Würden Sie bitte einmal aus Ihrer Sicht schildern, was geschehen ist, Mr Fox?«
Clarence wiederholte alles, was er Mabel bereits erzählt hatte. Er sprach schnell, abgehackt.
Doktor Tyner nickte. »Zeigen Sie mir doch einmal diese Pralinenschachtel«, verlangte er.
Mabel zog die Schachtel aus Miss Westrays