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hat es gemalt?«, fragte sie.

      Der alte Angus versuchte offenbar krampfhaft, sich zu erinnern. Unglücklicherweise war sein Bierglas leer und das lenkte seine Gedanken scheinbar ab, also spendierte ich ihm Nachschub und legte noch einen dreifachen Whisky obendrauf, um seine Erinnerung ein bisschen zu schmieren.

      »Ach, das Bild«, erinnerte er sich dann tatsächlich und schmatzte mit den Lippen, als er plötzlich in Fahrt kam. »Das hat schon eine seltsame und geheimnisvolle Geschichte.«

      Das hatte ich mir schon gedacht. Rachel beugte sich mit großen Augen näher zu ihm.

      VII

      HS stand laut seiner Aussage für Heike Schrapper, eine aufstrebende junge Künstlerin, die auf der Suche nach ihrer Muse nach Schottland gekommen war, nachdem sie es nicht geschafft hatte, sich in ihrem deutschen Heimatland einen Namen zu machen. Obwohl Heike durchaus Talent besaß – sogar erhebliches Talent – fehlte ihr leider das Eine, das alle wahren Künstler brauchten, um Höheres zu erreichen: Ihr mangelte es an Tragik.

      Heike war vom Tag ihrer Geburt an verflucht gewesen, sich eines glücklichen Lebens zu erfreuen. Sie stammte aus einem liebevollen Zuhause, konnte Eltern vorweisen, die sie stets unterstützt hatten, und Geschwister, denen sie nahegestanden hatte, und sie hatte kaum einen Tag Kummer erlebt. Ihre Freunde waren aufrichtig gewesen, ihre Liebhaber rücksichtsvoll und alle ihre Drogenerfahrungen nur positiv. Sogar ihr Hund hatte ein hochbetagtes Alter erreicht und es war ihm noch immer gut gegangen, als Heike ihr Zuhause verlassen hatte, um die Berliner Kunstakademie zu besuchen. Erst dort hatte sie ihr Glücklichsein schließlich eingeholt.

      Ihre Lehrer hatten ihre Arbeit gelobt, aber es hatte nie ausgereicht, um in den Himmel gehoben zu werden. Ihre Gemälde waren schön, waren aber nur selten als Ausstellungsobjekte gewählt worden, und die wenigen Bilder, die sie vermittelt hatte, hatte sie immer nur an ihre allzeit unterstützende Familie und Freunde verkauft. Drei ganze Jahre lang war sie gezwungen gewesen, zuzusehen, wie eine Reihe weniger erfolgreicher Künstler, die nur einen Bruchteil ihres Talents besaßen, an Status und Ruf gewannen, oft aus Gründen, die sie ganz und gar nicht verstand. Tatsächlich war einer ihrer Studienkameraden, ein besonders distanziertes Individuum mit dem Namen Otto, von der Lehrerschaft als Genie ausgerufen worden, weil dieser eine komplett schwarze Leinwand ausgestellt hatte, die lediglich in der unteren linken Ecke seine Unterschrift getragen hatte – ebenfalls in Schwarz.

      »Ich habe noch nie zuvor solchen Mut gesehen«, hatte einer ihrer Lehrer erklärt, als er Ottos Meisterwerk aus der Nähe studiert hatte. Kurz darauf hatte Otto eine Serie vollkommen schwarzer Leinwände produziert, von denen jede für gewagter als die vorherige gehalten worden war, bevor er sie allesamt in einem großen Lagerfeuer auf dem Schulhof verbrannt und ihre Asche dazu benutzt hatte, um noch eine schwarze Leinwand damit herzustellen, die dann Den goldenen Bilderrahmen gewann, die höchste Auszeichnung des Instituts.

      Heike verstand es nicht, besonders nicht, als sie ein Aquarell von einem lächelnden jungen Mädchen, das gerade die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte ausblies, eingereicht hatte und fast aus dem Kurs geworfen worden war. Schließlich war es ihrem Lehrer zugefallen, ihr zu sagen, was ihren Arbeiten fehlte.

      »Sie haben nicht für Ihre Kunst gelitten«, hatte er ihr erklärt. »Sie besitzen die Fähigkeit und Sie besitzen die Technik, aber wo ist Ihre Seele? Ich kann sie in keiner Ihrer Arbeiten entdecken.«

      »Ich habe aber eine Seele«, hatte Heike beharrt. »Ich liebe Poesie und ich liebe die Natur und Musik und Menschen und alles.«

      »Genau das meine ich«, hatte ihr Lehrer daraufhin triumphierend losgetobt. »Sie lieben alles. Sie sind viel zu glücklich. Wo ist Ihre Wut? Wo ist Ihr innerer Aufruhr?«

      Zu diesem Zeitpunkt war das meiste davon auf Otto gerichtet gewesen, der gerade sein erstes Gemälde für mehrere Tausend Mark an einen der angesehensten Sammler Berlins verkauft und das Geld zur unbedeutenden Ablenkung auf seinem Weg zur Selbstentdeckung erklärt hatte. Doch Heike hatte insgeheim gewusst, dass ihre Wut in Wirklichkeit nur spießige Eifersucht gewesen war und wahrscheinlich nicht zählte – außer natürlich, wenn Otto so empfand, und dann würde man es wahrscheinlich noch als provokante Selbstprüfung von aufrichtiger Selbsteinschätzung betrachten.

      »Wie lerne ich denn, für meine Kunst zu leiden?«, hatte Heike gefragt, als ihr Lehrer versucht hatte, sie loszuwerden.

      »Man kann nicht lernen, für seine Kunst zu leiden«, hatte er als letztes Wort geäußert. »Man muss in die Welt hinausgehen und das Leid suchen.«

      Sehr zur Enttäuschung ihrer Familie war Heike daher nach ihrem Abschluss nicht nach Hause zurückgekehrt. Stattdessen hatte sie ihre Koffer gepackt und war auf der Suche nach Kummer und Leid zum Wohl ihrer Kunst in die große weite Welt hinausgezogen. Die junge Künstlerin hatte sich schließlich in den schottischen Highlands wiedergefunden und sich dort in das trostlose Land und seine tragische Vergangenheit verliebt.

      Sie hatte sich in Inverness niedergelassen und die Landschaft bereist, gemalt, was sie gesehen hatte, und hier und da das ein oder andere Werk verkauft, aber das war nicht genug gewesen. Sie hatte von einer Erbschaft gelebt, die ihr Großvater ihr hinterlassen hatte, aber die war nach und nach dahingeschwunden. Das Stadtleben war teuer und, was noch schlimmer war, es war bequem. Trotz aller Bemühungen war sie noch immer elendiglich zufrieden gewesen.

      Doch dann eines Tages, während sie in der örtlichen Bücherei über die Highland Clearances recherchiert hatte, war sie auf die Erzählung eines furchtbaren Blutbads gestoßen, das sich ein Jahrhundert zuvor in der Gegend ereignet hatte. Es hatte nicht viele Details gegeben, aber die wenigen, die sie gefunden hatte, hatten sie unfassbar fasziniert, nicht zuletzt dann, als sie erfahren hatte, dass das Cottage, in dem das Blutbad stattgefunden hatte, noch immer leer stand und außerdem noch zu verpachten war.

      Garantiert gab es keinen besseren Ort, um ihren inneren Aufruhr zu finden.

      Heike hatte daraufhin ihre Koffer gepackt, das nötige Geld abgehoben und war nordwärts zum Cape Wrath gereist.

      »Das Cottage«, unterbrach Rachel den alten Angus nun. »Es heißt das Haus der Toten, nicht wahr?«

      Angus zog an seiner stinkenden E-Zigarette und sah Rachel neugierig an. »Woher weißt du das?«, fragte er sie, aber Rachel schnippte nur mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erregen, und zeigte auf das leere Glas des Mannes.

      »Sie können weiterreden«, erlaubte sie ihm.

      Heike hatte also die Pacht am Cottage erworben und war sofort eingezogen. Mit einem Mal war ihr tief in der Seele etwas klargeworden und sie hatte endlich den Funken gefunden, der ihr all die Jahre über gefehlt hatte. Sie hatte sich in ihre Kunst gestürzt und Gebäude und Landschaften am Cape gemalt, die nicht länger nur Darstellungen gewesen waren, sondern auf der Leinwand zum Leben erwacht wirkten. Es war Heike so vorgekommen, als ob sie nach Jahren der Bemühungen nicht mehr länger Bilder malte, sondern endlich Kunst schuf. Doch all das hatte seinen Preis. Kurz nachdem sie das Anwesen in Besitz genommen hatte, fing etwas an, sie zu beunruhigen. Sie hatte nicht gewusst, was es war, aber sie war von einem überwältigenden Gefühl der Vorahnung ergriffen worden, das mit jedem neuen Tag unheilvoller geworden war. Ihre Freunde und Familie daheim in Deutschland hatten sie beschworen, ihr selbstauferlegtes Exil zu verlassen und zu ihnen zurückzukehren, aber Heike war fest entschlossen gewesen, es durchzuziehen.

      »Und das tat sie auch«, meinte der alte Angus mit einem grimmigen und wissenden Blick. »Zwei volle Wochen lang, doch dann, am letzten Freitag des Monats, verschwand sie urplötzlich.«

      »Sie verschwand?«

      »Aye. Das Cottage war leer vorgefunden worden. All ihre Sachen waren noch drin, aber Heike selbst war nie wiedergesehen worden.«

      »Ein Verbrechen vielleicht?«, mutmaßte ich. »Ein Mädchen, das ganz allein mitten im Nirgendwo wohnt?« Aber der Mann schüttelte nur den Kopf.

      »Die Polizei hat das alles untersucht, konnte aber keine Anzeichen dafür finden, dass etwas an der Sache

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