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entweder zu Fuß, per Pferdewagen oder mit dem Ochsenkarren. Krämer standen mit ihren Karren an den Straßenecken und boten ihre Körbe, Seile und allerlei andere Waren feil. Auch der Lumpensammler war unterwegs und schaufelte den Mist der Tiere, der sich über Nacht angesammelt hatte, in seinen eimerartigen Karren, um ihn auf dem Bauernmarkt zu verkaufen. Matthew wusste, wo der Mann in der Nähe der Sloat Lane einen wahren Schatz an Pferdeäpfeln finden konnte.

      Drei Skiffs trieben unter weißen Segeln vor dem Wind den East River entlang. Ein größeres Segelschiff, das von zwei langen Ruderboten aus dem Hafen gelotst wurde, verließ unter Glockengeläut eine kleine Gruppe Abschiedsnehmer am Great Dock. An den Piers wurden natürlich viele Geschäfte gemacht, und schon vor Sonnenaufgang ging es zu wie in einem Bienenstock – dafür sorgten all die Segelmacher, Ankerschmiede, Kabeljaufischer, Flaschenzughersteller, Takler, Teerbuben, Schiffsbauer, Holzzapfenschnitzer und wer noch alles zur Besetzung eines maritim ausgerichteten Theaterstücks gehörte. Schaute man zu den rechts von den Docks gelegenen Geschäften und Gebäuden, erblickte man das Reich der Packer, Mauteintreiber, Zahlmeister, Schauermänner, Lotsen, Schreiber, Ausrufer und Papierschöpfer, wo die Kontoristen und Einkäufer entschieden, welche Güter die Stadt verließen oder hereinkamen. In der Stadtmitte standen das Zollhaus, das Haus des Bürgermeisters und das neugebaute Rathaus, das errichtet worden war, um die Amtsstuben der Einwohner, die die alltägliche Politik und alles Gewichtige im Leben von New York überblickten, an einem Ort zu vereinen. Hier waren die Bezirksabgeordneten, das Stadtarchiv, die Richter, der vorstehende Wachtmeister und der Staatsanwalt zu finden. Im Grunde, dachte Matthew, hatten sie sich darum zu kümmern, rivalisierende Geschäftsleute davon abzuhalten, einander zu ermorden. Sie waren zwar in der Neuen Welt – aber die alten unzivilisierten Empfindlichkeiten Londons waren mit über den Atlantik gekommen.

      Schnellen und bestimmten Schrittes ging Matthew den Hügel hinab auf sein Ziel in der Stadt zu. Seine tägliche Routine und die Sonnenuhr vor Madam Kennedays Bäckerei verrieten ihm, dass er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bis Richter Powers in der Amtsstube erscheinen würde. Diesen Morgen wollte Matthew einem Schmied Feuer unter dem Hintern machen, bevor er seine Feder auf Papier setzte.

      Trotz all der Viehpferche, Ställe, Abdeckereien, Lagerhallen und heruntergekommenen Pinten war New York eine hübsche Stadt. Die niederländischen Pioniere hatten der Siedlung durch charakteristisch schmale Fassaden, hohe Giebeldächer und ihrer Liebe für Wetterhähne, verzierte Rauchfänge und einfache, aber präzise angelegte Gärten ihr Siegel aufgedrückt. Alle Gebäude südlich der Wall Street waren unverkennbar holländisch, während die Häuser und Gebäude nördlich dieser Linie in typisch kantiger englischer Bauweise errichtet worden waren. Matthew hatte sich gerade ein paar Abende zuvor im Gallop mit jemandem darüber unterhalten. Eines Tages, so hatte er behauptet, würde man erkennen, dass die Holländer wie Gärtner dachten und sich bemüht hatten, ihre Umgebung mit Gärten und Parks zu verschönern – während es den Engländern nur darum ging, im Namen des Handels ihre Kastenhäuser auf jedes freie Fleckchen zu quetschen. Wollte man sehen, wodurch sich London von Amsterdam unterschieden, musste man nur die Wall Street überqueren. Natürlich hatte er diese Städte nie besucht, aber er besaß eine ganze Büchersammlung und hatte sich schon immer für Reiseberichte interessiert. Und er war mit einer eigenen Meinung gewappnet, die ihn in den abendlichen Diskussionen im Gallop entweder zum Helden oder Dummkopf machte.

      Es stimmte schon, überlegte er, als er über die Broad Street auf den Kirchturm der Trinity Church zuging, dass New York zu einer … hm, wie sollte man es sagen … Weltstadt wurde, vielleicht? Dass die Existenz dieser Stadt und ihre mögliche Bedeutung in der Zukunft rund um die Welt bemerkt wurden? Ihm kam es zumindest so vor. An jedem beliebigen Tag konnte man buntgekleidete Besucher aus Indien über das Kopfsteinpflaster schreiten sehen, belgische Finanziers, die in ihren dunklen Anzügen und schwarzen Dreispitzen ein Bild ernsten Vorhabens abgaben – sogar niederländische Händler in vergoldeten Westen gab es, aus deren luxuriösen Perücken bei jedem Schritt Puder puffte. Sie bewiesen, dass Feinde sich zum gegenseitigen Profit über Kassenzetteln treffen konnten. In den Bierschänken fand man Tag und Nacht kubanische Zuckerkaufleute aus Barbados, jüdische Edelsteinhändler aus Brasilien und Tabakankäufer aus Stockholm, die bei Wein und Kabeljau neue Geschäfte aushandelten. Regelmäßig trafen Lieferanten von Indigofärbe aus Charles Town und Geschäftsgesandte aus Philadelphia und Boston in der Stadt ein. Es war kein ungewohntes Bild, Sint Sink, Irokesen und Mohikaner zu sehen, die ganze Wagenladungen von Hirsch-, Biber- und Bärenfellen in die Stadt brachten und unter Menschen und Hunden gleichermaßen für Aufregung sorgten. Und natürlich liefen Sklavenschiffe aus Afrika oder den Westindischen Inseln in den Hafen ein. Sklaven, die nicht zur Arbeit in New York erworben wurden, fanden sich an andere Orte wie Long Island zur Auktion weiterverschifft. Vielleicht jeder fünfte Haushalt in New York hielt sich einen Sklaven. Obwohl es ihnen gesetzlich verboten war, sich zu mehr als zu zweit zu versammeln, kamen von den Hafenhändlern alarmierende Berichte über Sklavenbanden, die dort nachts ihr Unwesen trieben und sich gegenseitig attackierten – vielleicht in einer Art Weiterführung alter Stammesfehden um beanspruchte Gebiete.

      Matthew fragte sich während seines Marsches, ob der Wandel zu einer Weltstadt bedeutete, dass das ungezügelte Wachstum, die menschliche Erniedrigung und Verrohung Londons in New York neuentstanden. Die Geschichten, die er über diese verrückte Stadt gehört hatte, ließen ihm das Blut gerinnen – alles gab es dort, von zwölfjährigen Prostituierten über die Zurschaustellung von abnorm gewachsenen Menschen im Zirkus, bis hin zum freudig erregten Gedränge bei öffentlichen Hinrichtungen. Der Gedanke brachte ihm Rachel Howarth in Fount Royal in den Sinn, die fast bei lebendigem Leibe verbrannt worden war, und wie die aufgeregte Menge dort gejubelt hätte, wenn die Asche geflogen wäre. Er fragte sich, wie New York wohl in hundert Jahren aussehen mochte. Er fragte sich, ob das Schicksal und die menschliche Natur sich verschworen hatten, jedes Bethlehem mit der Zeit zu einem Tollhaus wie dem berüchtigten Bedlam in London verkommen zu lassen.

      Als er vor der Trinity Church und dem schwarzen Eisenzaun, der den Friedhof umgab, die Wall Street überquerte, warf er einen Blick auf den Trog, in dem er die Spuren seiner gefährlichen nächtlichen Begegnung abgewaschen hatte. Einst hatten hier die drei Meter hohen niederländischen Palisaden aus Baumstämmen gestanden, um den Engländern den Angriffsweg zu versperren. Das war, bevor die Stadt vor achtunddreißig Jahren die Hände wechselte. Matthew kam der Gedanke, dass New York inzwischen keinen Feind mehr hatte, der von außen kam; abgesehen von einer schweren Epidemie oder unvorhergesehenen Katastrophen war es nun gesichert. Vielleicht würde das Überleben der Stadt stattdessen von innen bedroht werden, wenn man die dunkle Seite menschlicher Gier vergaß.

      Zu seiner Linken, ebenfalls an der Wall Street, lagen das aus gelbem Stein erbaute Rathaus und das Gefängnis, vor dem der berüchtigte Taschendieb Ebenezer Grooder am Pranger den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt war. Für Bürger, die noch ein wenig mehr Gerechtigkeit walten lassen wollten, stand ein Korb mit faulen Äpfeln bereit. Matthew ging weiter gen Süden in das rauchdunstige Reich der Ställe, Lagerhallen und Schmieden.

      Sein Ziel war das Gebäude, auf dessen Schild nur Ross, Schmied stand. Durch das offenstehende Scheunentor trat er ins schummerige Halbdunkel ein, wo Hämmer auf Eisen rangen und im rußigen Glühofen orangefarbene Flammen brodelten. Ein untersetzter junger Mann mit blonden Locken war mit dem Blasebalg dabei, das Feuer zum Auflodern und Funkenspucken anzufachen. Hinter ihm hämmerten der alte Schmiedemeister Marco Ross und der andere Lehrling auf ihren Ambossen die unverzichtbare Ware: Hufeisen. Der Schlag des einen Hammers hatte einen höheren Klang als der andere, und so wirkte der Lärm wie holperige Musik. Alle drei Schmiede trugen Lederschürzen, um ihre Kleidung vor den herumfliegenden, glühend heißen Metallsplittern zu schützen. Die Hitze und harte Arbeit hatten die Männer bereits zu dieser frühen Stunde den Rücken ihrer Hemden durchschwitzen lassen. Wagenräder, Pflugscharten und anderes Ackerwerkzeug waren wie in einer Warteschlange aufgereiht und zeigten, dass Meister Ross sich nicht um Arbeit sorgen musste.

      Matthew überquerte den Ziegelboden und stellte sich neben den jungen Mann am Blasebalg. Er wartete, bis John Five seine Anwesenheit endlich spürte und einen Blick über die Schulter warf. Matthew nickte. John erwiderte das Nicken; sein engelhaftes Gesicht war von der Hitze gerötet und seine Augen unter den dichten blonden Brauen blassblau. Da während des Hämmerns jedes Wort ungehört unterging, drehte

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